Dienstag, 29. Juli 2014

Der Tramp-Roboter

Es ist natürlich ein Experiment, das weniger wissenschaftliche Erkenntnisse als Öffentlichkeit bringen soll. Aber spannend ist es dennoch, dem von David Harris Smith, Assistenzprofessor an der McMaster-Universität in Hamilton, Ontario, und Frauke Zeller, Assistenzprofessorin an der Ryerson-Universität in Toronto, entworfenen Roboter mit dem schönen Namen Hitchbot per Netz bei der Arbeit zuzuschauen. Denn Hitchbot hat eine fast unmögliche Aufgabe: Obwohl der Roboter selbst nicht laufen kann, soll er auf eigene Faust ganz Kanada durchqueren.

Das tut das tonnenförmige Wesen mit den angeklebten Gummistiefelbeinen per Anhalter. Dazu wirbt es für sich in den sozialen Netzwerken - der Hitchbot kann Fotos schießen und selbst Einträge verfassen. Ihn mitzunehmen, kann offenbar sehr unterhaltsam sein, denn der „hitch hiking robot“ spricht in ganzen Sätzen und kann einem Gespräch mit Menschen auch inhaltlich folgen. Dazu googelt der Roboter bei Bedarf im laufenden Betrieb nach passenden Inhalten, um die Konversation am Laufen zu halten.

Ersten Reaktionen auf Facebook und Instagram zufolge müsste Hitchbot aber wohl gar nicht reden - die Leute sind auch so so begeistert von ihm, dass sie ihn gern mitnehmen.Bei Twitter und Facebook versammeln sich um das Stück Kunststoff und Draht mittlerweile je elftausend Fan, bei Instagram sind es mehr als dreitausend.
Mehr zur Reise:
hitchbot.me

Montag, 28. Juli 2014

Sportwetten in Sachsen-Anhalt: Das verbotene Spiel

"Coming soon", verspricht das Schaufenster, "laufen Sie sich schon mal warm!" Mitten in der Innenstadt von Halle soll ein Wettbüro eröffnen, gelegen neben zwei Spielcasinos, die ganz öffentlich damit werben, auch als Wettannahmestelle zu fungieren. Nicht weit entfernt arbeitet schon das nächste Wettbüro, Bet-Lounge steht metergroß über dem Eingang.

Sachsen-Anhalt mausert sich zum Glücksspielparadies - und das nur drei Jahre nach der Einigung der Ministerpräsidenten der Länder auf die Eckpunkte eines neuen Staatsvertrags für Glücksspiele, die federführend in Magdeburg erarbeitet worden waren. Schon ein Jahr später, hieß es damals, sollten bundesweite Konzessionen für Sportwetten-Anbieter vergeben werden. Anbieter, die mitmachen wollten, müssten 16,66 Prozent aller Spieleinsätze an den Staat abgeben. Dafür würden dieser die Wettunternehmer nicht mehr kriminalisieren und verfolgen.

Es schien das Ende einer Posse zu werden, die mehr als zehn Jahre lang gespielt worden war. Mit teilweise absurden Folgen: So wurde dem Fußball-Bundesligisten Werder Bremen nach einem Freundschaftsspiel in Magdeburg ein Bußgeldbescheid zugestellt, weil die Spieler auf ihren Trikots für einen Glücksspielanbieter geworben hatten. Das Innenministerium forderte die Staatsanwälte des Landes sogar auf, wegen des Verdachts der Werbung für illegales Glücksspiel zu ermitteln. Der damalige Wirtschaftsminister und heutige Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) fuhr eine harte Linie: Wer aus Sachsen-Anhalt heraus an Sportwetten teilnehme, dem drohten Ermittlungen des Landeskriminalamtes. Zudem werde das Land "technische Maßnahmen" ergreifen, "um den Zugang zu Glücksspielseiten im Internet für das Gebiet des Landes zu unterbinden", kündigte er damals an.

Ein Plan, der mangels Realisierungsmöglichkeit nicht umgesetzt wurde. Stattdessen zwang der Europäische Gerichtshof in Straßburg die Bundesländer dazu, die bestehenden Verträge an die geltende europäische Rechtslage anzupassen. Danach kann einem Wettanbieter, der in einem EU-Land eine staatliche Lizenz besitzt, von keinem anderen EU-Land verboten werden, seine Wetten europaweit anzubieten. Für die Fußball-EM vor zwei Jahren kam die Klarstellung allerdings zu spät. Es gelte "im Wesentlichen noch die alte Rechtslage", teilte das Innenministerium in Magdeburg seinerzeit mit. Kurz vor der WM in Brasilien, die Sportwettenanbietern auch in Sachsen-Anhalt wieder prächtige Geschäfte bescheren wird, gilt formal dasselbe. "In Sachsen-Anhalt ist derzeit nur das Oddset-Sportwettenangebot der hiesigen Lotto/Toto-Gesellschaft erlaubt und damit legal", erklärt Ministeriumssprecherin Anke Reppin. Der Vertrieb dürfte daher "ausschließlich über die mit der Gesellschaft verbundenen Annahmestellen erfolgen".


Dürfte, wäre die Realität nicht eine ganz andere. Längst schon dominieren Wettanbieter als Werbepartner der Bundesliga. 15 der 18 Erstliga-Vereine hatten letzte Saison einen Sponsorenvertrag mit einem Wettanbieter abgeschlossen. Zehn von ihnen - darunter Bayern München und Schalke 04 - kassieren von nicht-staatlichen Firmen, die nach der Lesart des Magdeburger Innenministerium illegal sind.

Doch auch in Magdeburg weiß man, dass "Oddset ein Übergangs- und Auslaufmodell ist", wie Anke Reppin zugibt. Mit dem geänderten Glücksspielstaatsvertrag bestehen eigentlich längst die rechtlichen Voraussetzungen, um bis zu 20 Konzessionen für Sportwettenanbieter zu vergeben.


Allerdings geht es hier seit Monaten nicht voran: "Das vom zuständigen Bundesland Hessen geführte Vergabeverfahren gestaltet sich langwierig, so dass bis heute keine vergeben wurden", erklärt Reppin. Das bedeute, dass es in Sachsen-Anhalt keine sogenannten "erlaubt tätigen Wettanbieter" neben dem staatlichen Dienst Oddset gebe. Auch wenn der Augenschein in den Städten anderes erzählt.

Für Wolfram Kessler vom Wettanbieter Tipico ist das ein andauerndes Ärgernis. Seit 2004 besitze seine Firma eine gültige Lizenz aus Malta, die es Tipico erlaube, europaweit Sportwetten anzubieten. Zudem habe man eine Lizenz aus Schleswig-Holstein, das vorübergehend ein liberaleres Glücksspielrecht hatte als die anderen Bundesländer. "Aber wir wollen dennoch eine zusätzliche Lizenz in Deutschland haben", sagt der Chef der Rechtsabteilung des Unternehmens, das in Deutschland Marktführer ist und den früheren Nationaltorhüter Oliver Kahn als Markenbotschafter verpflichtet hat. 


850 Shops bundesweit bieten derzeit Tipico-Sportwetten an, rund eine Milliarde Wettscheine verarbeitet das Unternehmen im Jahr. "Wir haben vergangenes Jahr fast 88 Millionen Euro Steuern allein in Deutschland gezahlt", rechnet Wolfram Kessler vor. Insgesamt werden mit legalen Sportwetten hierzulande rund neun Milliarden Euro umgesetzt - gerade zu Großereignissen wie der Fußballweltmeisterschaft boomt die Nachfrage. "Wir hätten es deshalb gern gesehen, wenn die Konzessionsvergabe vor der WM über die Bühne gegangen wäre", sagt Kessler. 


Ist sie aber nicht. Dadurch agieren Anbieter derzeit quasi im rechtsfreien Raum. "Wenn die Behörden Kenntnis von unerlaubt tätigen Sportwettenanbietern erhalten, wird dagegen vorgegangen", stellt das Innenministerium in Magdeburg klar. In Halle sei es so zum Beispiel gelungen, zwei Annahmestellen für Sportwetten zu schließen. Gerichtsfest, wie Anke Reppin betont. Zuletzt hatte aber das Oberlandesgericht Naumburg entschieden, dass ein britisches Unternehmen auch ohne gültige deutsche Konzession weiter in Sachsen-Anhalt Sportwetten anbieten darf. 

Für Wolfram Kessler ein Zustand, der dauerhaft unhaltbar ist. Der Tipico-Vorstand verweist darauf, dass sein Unternehmen Spieler vor Glücksspielsucht schütze und in Deutschland Steuern zahle. "Der Verfolgungsdruck, der mancherorts ausgeübt wird, ist unangebracht." Es sei besser, wenn Firmen wie seine Wetten anböten als wenn das Firmen aus der Grauzone täten, wie es im Augenblick der Fall ist, argumentiert er.
Doch während die Behörden in anderen Bundesländern die Eröffnung von Wettshops seriöser Anbieter wie Tipico mittlerweile duldeten, verschließe Sachsen-Anhalt die Augen vor der Tatsache, "dass sowieso gewettet wird - legal oder eben illegal". Hier beharrten die Behörden darauf, dass erst bundesweite Lizenzen vergeben und dann Wettshops eröffnet werden dürften - wann auch immer es soweit ist. 


So haben Wettfreunde in Thüringen, Sachsen, Bayern, Berlin, Hamburg oder Hessen nun zur WM die Möglichkeit, legal auf deutsche Siege oder Niederlagen zu wetten. In Sachsen-Anhalt können Interessierte sich dagegen nur Schilder in den Schaufenstern künftiger Wettshops anschauen, die baldige Besserung versprechen. 


Dienstag, 22. Juli 2014

MH17: Urlaub im Schatten des Krieges

Der Ferienbeginn 2014 bringt einen Sommer-Start ohne Leichtigkeit.

Er ist unsichtbar und er ist eigentlich auch gar nicht wirklich da. Aber wer heute oder morgen oder auch in der nächsten Woche ein Flugzeug besteigt, um in den Urlaub zu fliegen, der wird ihn vielleicht trotzdem sehen, den Schatten des Krieges, der sich über die diesjährigen Sommerferien gelegt hat. Gelegt im selben Moment, als über der Ostukraine eine Linienmaschine aus Malaysia offenbar gezielt zum Absturz gebracht wurde.

Es war dieser Moment, als der ferne Konflikt zwischen Maidan-Aktivisten und Pro-Russen, zwischen Anhängern einer EU-Anbindung der Ukraine und Verfechtern einer stärkeren Verflechtung mit Russland in den deutschen Alltag knallte. Was bis dahin ein akademischer Streit war, in dem jeder auf seine Weise für den Frieden sein durfte, weil ohnehin niemand zu durchschauen vermochte, wer hier welches böse Spiel spielt, ist nun ein Krieg, der jeden hätte treffen können und noch treffen können wird.

Mit den fast 300 Toten aus Flug MH17, darunter vier Deutsche, schrumpft die Entfernung zwischen Deutschland und der Ostukraine auf einen halben Hollywood-Film im Bordkino. So fern, so nah: Wie die Passagiere von MH17 nicht wussten, dass sie auf ihrer Reise nach Asien nur zehn Kilometer entfernt vom schrecklichen Morden und Töten in Donezk und Lugansk sein würden, so denkt kaum ein anderer Urlauber darüber nach, wie scharf sein Flieger nach Kenia, Dubai, Sri Lanka, Hongkong oder Australien die Kriegsgebiete im Irak, in Afghanistan, in Syrien oder auch die Region rasieren, in der sich die Terrororganisation Hamas und die israelische Armee tagtäglich Raketenduelle liefern, deren einziges Ergebnis Blut, Tod und Leid und immer nur noch mehr Hass auf beiden Seiten sind.

Unser Weltmeister-Sommer ist vorüber, er hat nur knapp eine Woche gedauert. Wo eben noch das überschäumende Gefühl war, die ganze Welt vor lauter Glück umarmen zu wollen, wächst jetzt die Angst vor einer Welt, die ihre Konflikte auch im 100. Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges noch auf dieselbe Art austrägt: Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag ich Dir den Schädel ein.

Unsere Insel der Seligen erbebt, die Gewissheit, auf fast 70 Jahre Frieden müsse immer nur noch mehr Frieden folgen, wackelt. Es sind Ferien, aber es sind Ferien im Schatten des Krieges, Ferien, in denen die Geschichte uns einzuholen droht, selbst wenn wir an den Strand oder in die Berge fliehen. Ein Auge zwinkert der Strandschönen zu, das andere aber bleibt am Fernsehschirm hängen. Nein, die schönste Zeit dieses Jahres wird bestimmt keine unbeschwerte sein.

Montag, 21. Juli 2014

Cro: Rap fürs Reihenhaus


Der schwäbische Hip-Hopper Carlo Waibel legt mit seinem zweiten Album eine Sammlung von Popsongs für die ganze Familie vor.

Von wegen Rap! Zwar steht das Werk von Carlo Waibel, der sich im Dienst kurz Cro nennt, in den großen Elektromärkten in der Ecke mit dem Sprechgesang. Doch schon auf Cros Debütalbum "Raop" war der Mann, der sein Gesicht stets hinter einer Panda-Maske verbirgt, mehr Fanta Vier als Public Enemy. Mit "Melodie", dem zweiten professionell eingespielten Album, setzt der 24-Jährige nun noch einen drauf. Die 14 Stücke sind rund und knackig, fett produziert und mit ordentlichen Melodien versehen, die Rap-Passagen flutschen und die gesungenen Teile bleiben im Ohr.

Rap aus dem Reihenhaus, auch inhaltlich. Waibel, der mit seinem Debüt zum neuen deutschen Hip-Hop-Wunder wurde und abräumte, was es an Preisen zu gewinnen gab, beschäftigt sich hier mit dem Lieblingsthema aller Rapper: sich selbst, seinen Homies und den erstaunlichen Folgen von Ruhm und Erfolg für die jugendliche Psyche.

"Könnt ich durch die Zeit fahren mit 'nem schnellen Auto / würd ich alles noch mal tun und zwar genauso", genießt der Bambi-Preisträger und Chartstürmer die frühen Früchte einer Karriere, die er im zarten Alter von zehn Jahren im heimischen Kinderzimmer in Mutlangen anschob. Hier fummelte er damals erste Aufnahmen zusammen, später brachte er sich Klavier und Gitarre bei, mit 16 startete er unter dem Namen Lyr1c auf einer Internetplattform für Online-Reimbattles mit anderen Rappern.

Mit "Raop" erfand er dann seine ganz eigene Mischung aus Rap und Pop, die die Ghettomusik der amerikanischen Großstädte für das deutsche Formatradio übersetzte. Spartenüblich ohne Angst vor großen Namen: In seinem ersten Hit "Easy" verglich sich Cro mit US-Großmeister Jay-Z, der damals schon auf neun Nummer-1-Alben verweisen konnte, mit Beyoncé Knowles verheiratet war und seine eigene Modefirma Rocawear besaß.

Cros Modelabel heißt Vio Vio und bestand schon vor dem ersten Erfolg auf dem Musikmarkt. Carlo Waibel ist ausgebildeter Mediengestalter, er hatte ursprünglich eigentlich vor, in Mode zu machen.
Muss er nun nicht mehr, denn auch "Melodie" schoss sofort nach Veröffentlichung auf Platz 1 in der Hitparade - wohl nicht eben zur völligen Überraschung des Herstellers, der im Opener "I can feel it" vorhersagt "direkt auf die 1 gechartet / letztes Album zweimal Platin". Das Patentrezept für Ohrwürmer wirkt: kleine Heimorgelmelodie, verschleppter Beat, fetter Bass und flinke Zunge, fertig ist eine schmissige Nummer, die auf jeder Party bestehen kann.

Cro dosiert dabei geschickt. "Cop Love" ist die Morgenballade, leicht angejazzt und mit Schlaf in den Augen, "Bad Chick" dagegen die fröhliche Beziehungskiste mit heruntergepumpten Abzählreimen und einem Augenzwinkern in Richtung Michael Jackson als Refrain.

Musik, die zu Holzparkett und Latte-Kaffee passt, zum neuen Samsung-Handy und einem Paar weißer Beats-Kopfhörer, die sich aber auch bedenkenlos zum Geburtstag verschenken lässt, ziemlich egal sogar an wen. Denn Cro hat keine Botschaft außer der, nicht alles so hoch zu hängen und dabei möglichst locker zu bleiben. Bei "Meine Gang" schlurft er im Reggae-Rhythmus vorbei, bei "Erinnerung" leitet schweres Orchestergesülze in ein cinemascopisches Werk, in dem der Künstler auf sein Leben zurückschaut und feststellt, dass es ihm ganz gut geglückt ist, aus einer zunächst abgebrochenen Schullaufbahn und keiner Ahnung von einem Ziel so etwas Großes wie diesen Pop-Panda zu bauen. Die Beats sind hier schlurfig, die aus Bandwurmsätzen gebastelten Melodielinien voller Widerhaken. Die aber sind doch so gut versteckt, dass sie runtergehen wie Öl.

Dienstag, 15. Juli 2014

Training für den Jihad: Hitlers Inder in Sachsen-Anhalt

Amin Ullah hatte einen kurzen Anreiseweg. Aus Hamburg kam der gebürtige Inder nach Annaburg im heutigen Sachsen-Anhalt, um sein Leben der allergrößten Aufgabe zu widmen. Ullah, der eigentlich wohl Amin Chand Chowdhury hieß, war entschlossen, an der Befreiung seines Heimatlandes von der Kolonialmacht Großbritannien mitzuhelfen. Der beste Ort dafür war in jenem Sommer 1941 die ehemalige Unteroffiziersschule in dem kleinen Städtchen Annaburg in der Nähe von Wittenberg. Als StaLag 4 DZ wurde das Gelände um das 1881 errichtete Schulgebäude zu einem Ort der besonderen Verwendung: In den vier Jahren bis Kriegsende internierte die Wehrmacht hier Inder, die als Angehörige britischer Truppenverbände in Gefangenschaft geraten waren.

Amin Chand Chowdhury war ein anderer Fall. Der Mann, der in Annaburg bei einem Fleischermeister außerhalb des Lagers unterkam, hatte schon im Ersten Weltkrieg die Seiten gewechselt. Statt als Untertan Ihrer Majestät gegen das Deutsche Reich zu kämpfen, kam das Mitglied der im US-Exil gegründeten indischen Freiheitspartei Ghadar eigens nach Deutschland, um hier unter kriegsgefangenen Indern nach Männern zu suchen, die bereit waren, ihre Kanonen herumzudrehen und an der Seite der Deutschen gegen das britische Empire ins Feld zu ziehen.

Das führte im Ersten Weltkrieg immerhin rund eine Million Inder als Soldaten. Indische Sepoy- und Sikh-Soldaten kämpften nicht nur in Asien, sondern auch an der Westfront in Frankreich. Rund eintausend von ihnen gerieten in deutsche Gefangenschaft oder desertierten. Für die Deutschen schon bald nach Kriegsbeginn Grund für eine neue Strategie: In einem sogenannten "Inderlager" im brandenburgischen Zossen wurde versucht, indische Sikh- und Hindu-Soldaten mit Hilfe von Exilanten wie Amin Chowdhury und dem in Berlin residierenden Indischen Unabhängigkeitskomitee zum Kampf gegen das Vereinigte Königreich zu mobilisieren. Der deutsche Vordenker Max von Oppenheim redete Klartext, als er das eine" Jihad-Strategie" nannte.

Der Feind meines Feindes ist mein Freund, nach diesem Motto verbündeten sich die beim Kampf um ein Kolonialreich zu spät gekommenen Deutschen mit den Indern, die ihre Kolonialmacht gern abgeschüttelt hätten. Doch während die indische Seite von einer Indischen Legion träumte, die über die Türkei, den Iran und Afghanistan nach Indien marschieren könnte, ging es der Reichswehr eher um die Gewinnung von Freiwilligen, die mit den normalen Truppen an die Front ziehen sollten.
Bei den gefangenen Indern, die in Zossen mit indischem Essen versorgt und zum Leben nach ihren Glaubensgrundsätzen ermutigt wurden, kam beides nicht gut an. Nur wenige Inder wechselten die Seiten. Die "Jihad"-Strategie scheiterte auch daran, dass die deutsche Seite in den Indern letztlich keine Partner, sondern nur nützliche Hilfstruppen und Propagandawerkzeuge gegen die Briten sah.

Dennoch fand dieselbe Koalition auch ein knappes Vierteljahrhundert später wieder zusammen, diesmal in Annaburg. Bereits seit Anfang der 30er Jahre hatte Subhash Chandra Bose, Ex-Oberbürgermeister von Kalkutta, Vorsitzender des Indischen Nationalkongresses und wegen seines Engagements für die Unabhängigkeit mehrfach zu Haftstrafen verurteilt, in Europa nach Verbündeten im Kampf gegen die Briten gesucht. 1941 traf der inzwischen aus seiner Heimat geflüchtete Netaji (zu deutsch "Führer") aus Moskau kommend in Berlin ein, wo seine Idee der Gründung einer "Indischen Legion" nach Monaten der Bettelei schließlich von Hitler persönlich genehmigt wurde. "Indien ist der Kern des englischen Empire", befand der, "wenn England Indien verliert, stürzt die Welt ein."

In Annaburg und später auf dem Truppenübungsplatz Königsbrück in Sachsen versuchte Bose mit seiner Zentrale Freies Indien, eine Kerntruppe für die erträumte Indische Legion zu gründen. Dabei paktierte der mit einer Österreicherin verheiratete Unabhängigkeitskämpfer mit allen, die seiner Sache hilfreich zu sein schienen. Die Soldaten der Legion trugen Wehrmachtsuniform plus Turban, unterstanden aber der Waffen-SS, sie schworen Bose die Treue, aber auch Adolf Hitler. "Gebt mir Blut und ich gebe Euch die Freiheit", versprach Bose seinen Männern.

Die Erfolge der Bündnistaktik blieben überschaubar. Den indischen Kriegsgefangenen ging es nach Zeitzeugenberichten gut, sie bekamen zusätzliche Verpflegung vom Roten Kreuz und mussten bei örtlichen Bauern und in regionalen Fabriken nur leichte Arbeiten verrichten. Niemand wurde zur Arbeit gezwungen, alles war freiwillig, teilweise schliefen die Arbeitstrupps sogar unbewacht außerhalb des Lagers.

Der Wille der Sepoys, das ruhige Leben in Annaburg gegen die ungewisse Zukunft eines Soldaten der Indischen Befreiungsarmee einzutauschen, war wenig ausgeprägt. Nur mühsam erreichte die Legion bis zum Januar 1943 Regimentsstärke, bis 1944 konnten die bis dahin von Deutschen eingenommenen Offiziers- und Unteroffiziersstellen weitgehend mit Indern besetzt werden.

Allerdings waren die ursprünglichen Pläne Boses da schon Makulatur. Obwohl der Netaji stets darauf gedrungen hatte, dass die Indische Legion nur beim Kampf um Indien eingesetzt werden dürfe, kam es jetzt anders. Kaum war Bose nach Japan abgereist, um die dort aus Indern in japanischer Kriegsgefangenschaft gebildeten Einheiten zum Vormarsch auf die Heimat zu führen, verlegte das deutsche Oberkommando einen Teil der Legion nach Holland, einen anderen nach Frankreich. Es kam zu Befehlsverweigerungen und Protesten, aus Fernost musste Bose seine Männer auffordern, den Kampf gegen die Briten "an jedem Ort" zu führen - auch in Europa.
Dazu aber kam es nicht mehr. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie geriet die Indische Legion in den Strudel des Rückzuges. Bei Straßenkämpfen in Sancoin starb der Leutnant Ali Khan, ein Obergefreiter namens Mohammed Rashid schoss zwei US-Panzer in Brand. Die geplante Flucht bis in die Schweiz endete im Allgäu - und sie brachte das Ende der Indischen Legion. Deren Angehörige wurden an die Briten übergeben, die sie zurück nach Indien brachten, um ihnen den Prozess zu machen.

Subhash Chandra Bose war bereits im August 1945 bei einem Flugzeugabsturz gestorben - unter rätselhaften Umständen und ohne dass je ein Leichnam gefunden wurde. Der Indische Nationalkongress bezog dennoch klar Stellung. Man stellte den wegen "Kriegführung gegen den König" angeklagten Ex-Legionären mit Jawaharlal Nehru den Privatsekretär Mahatma Gandhis zur Seite. In Indien galten die Deserteure damit als Märtyrer der nationalen Sache und Helden im Befreiungskampf, trotz ihres Bündnisses mit der falschen Seite. Nur drei Soldaten der Indischen Legion wurden wirklich angeklagt und verurteilt, auch sie kamen bereits 1947 wieder frei, als Indien seine Unabhängigkeit von Großbritannien erzwingen konnte.


Vergessener Held
Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru kennt jeder, Subhash Chandra Bose dagegen niemand, zumindest in Deutschland. In Indien dagegen gilt der Mann, der den bewaffneten Kampf gegen die britische Kolonialmacht predigte, bis heute als Nationalheiliger. 70 Jahre nach seinem Tod wird das Leben des Gründers der Indischen National-Armee und deren Schicksal jetzt in mehreren Büchern beleuchtet.STKLiteratur zum Thema: Franziska Roy ( Hrg.), Soldat Ram Singh und der Kaiser, Draupadi, 24,90 Euro;