Freitag, 26. September 2014

Ein "Talismann" im Alleingang

Hagen Stoll legt mit „Talismann“ eine bluesgetränkte CD vor.

Zusammen mit seinem schwergewichtigen Kumpel Sven Gillert hat Hagen Stoll Musikgeschichte geschrieben. Der Mann, der bis 2009 versuchte, als „Joe Rilla“ Rap-Karriere zu machen, ließ sich die erste Wegstrecke der mit Gillert zusammen gegründeten Rockpop-Band Haudegen als Existenzgründung von der Agentur für Arbeit finanzieren.

Keine schlechte Investition, denn das Haudegen-Debüt „Schlicht und ergreifend“ wurde ebenso ein Hit wie die nachfolgenden Tourneen der beiden volltätowierten Riesen. Ohne die übliche Gangster-Attitüde und aggressive Kampfgesänge auf dumpfen Beats entwickelten die handfesten Dickens-Gestalten so große Glaubwürdigkeit, dass ihre zweistimmig gegrollten Schmerzengesänge zur Musik für Massen wurde, die auf der Suche nach echten, handgemachten Liedern mit glaubhafter Botschaft waren.

Dennoch ist das neue Album von Haudegen kein Album der Haudegen. Sondern eines, das Hagen Stoll allein verantwortet. „Talismann“ nennt der 39-jährige Ostberliner die Sammlung von 15 Songs zwischen Rock, Country und Blues, die noch erdiger, kerniger und unzeitgemäßer klingt als die beiden Haudegen-Werke.

Stolls großes Talent ist es auch hier, glaubwürdige Texte mit angenehmen Melodien zu kombinieren. Wo aber bei Haudegen ein Teil Spannung aus dem Wechselgesang mit Sven Gillert resultierte, ist der gelernte Stuckateur hier ganz allein. Ein Chance, die er nutzt, wie etwa die erste Single „Schieb den Blues“ zeigt. Mit Steelguitar, Barpiano und Drums, die wie Fingerschnipsten klingen, entwickelt er eine Ermutigungshymne, die jedem Geschlagenen, Getretenen oder sonstwie Unglücklichen ans Herz gehen muss: „Ich gebe, nein, ich gebe noch nicht auf, ich lebe, lebe, lebe jeden Schritt, den ich lauf“.

Dann geht es mit Polka weiter. „1, 2, 3, 4 Leben“ zeigt den oft der Bedeutungshuberei überführten früheren Hooligan als selbstironischen Spaßmacher, ehe „Was ich brauch“ direkt ins Herzen des Wilden Westens galoppiert und „Im Herzen Kind“ ein Lob der Naivität singt: „Flieg mit dem Wind, bleib wie Du bist, bleib im Herzen Kind“.

Würde Stoll Englisch singen, nähme man ihm den alten Weisen ab, wie das teilweise auf englisch gesungene „Bible or Gun“ beweist. So aber muss der Mut für ihn sprechen, Themen abzuhandeln, die leicht peinlich klingen können. Tun sie hier nicht, weil der brummelige Riese es irgendwie schafft, selbst die schwersten Thesen mit leichter Hand zu präsentieren. „Das Wort Glauben“ zum Beispiel sieht den Sänger als Zweifler, ein Kopfschütteln auf vier Akkorden: „Kann mir jemand das Wort Glauben definieren / ich kann es nicht mehr spüren“.

Ein bisschen hat das was vom ganz frühen Marius Müller-Westernhagen der „Loch in meiner Tasche“-Ära, ein bisschen erinnert Hagen Stoll auch an Tom Waits und Klaus Lage. Kein ganz junges, aber aktuell vielleicht das größte deutsche Songschreibertalent.

Hagen Stoll live:
14.10. Magdeburg, Feuerwache
15.11, Weißenfels, Kulturhaus



Dienstag, 23. September 2014

Kraftklub: Rap-Rock mit schwarzem Humor

Die Chemnitzer Aufsteigerband überzeugt auf ihrem zweiten Album mit hartem Raprock und kantigen Reimen voller Selbstironie.

Am Anfang war die Hymne auf die Provinz. „Ich will nicht nach Berlin“, schrie Felix Brummer der Trendstadt im Norden entgegen. Chemnitz, Karl-Marx-Stadt, Sachsen, Kleinstadt statt Weltstadt, der eigene Saft statt fremder Soßen! Kraftklub, von Brummer zwei Jahre zuvor zusammen mit seinem Bruder Till am Bass, Karl Schumann und Steffen Israel an den Gitarren und Max Marschk am Schlagzeug gegründet, hielten sich nicht an die Regeln, die von Künstlern verlangen, im Chor zu singen. Das Quintett feierte den Mief statt der Metropole. Und sie spielten dazu eine Musik, die von keiner Musikpolizei genehmigt worden wäre: Rap mit harten Gitarren, Hiphop samt Mitsing- refrains, Rammstein-Rock und Abzählreime.

Seit den Prinzen zwei Jahrzehnte zuvor und Silbermond zehn Jahre früher hat keine ernsthafte Band aus den ehemals neuen Bundesländern mehr so eingeschlagen. Kraftklub, stets in einheitlicher Uniform aus Baseballjacken und Poloshirts, platzierten ihr Debütalbum auf Platz 1 in den Charts, sie feierten ausverkaufte Tourneen und bekamen bei der Echo-Verleihung den „Kritikerpreis National“ verliehen.

Zwei Jahre danach sind sie wieder da, „In Schwarz“, wie das zweite Album heißt und von unbedingtem Stilwillen getrieben, wie schon das Albumcover zeigt. Das ist eine Negativ-Kopie des Debüts: Was dort weiß war, ist hier mit ein paar kleinen Variationen schwarz.

Das Gegenteil wird aber nicht verhandelt in den 13 Stücken der Standardedition, zu denen sich in der Luxusausgabe weitere drei Songs gesellen. Vielmehr haben die Söhne der Familie Brummer, die zu DDR-Zeiten die kategorisch kunstsinnige Underground-Kapelle AG Geige betrieben, ihren scharfkantigen Rap-Rock poliert, die Kanten geschliffen und den Sound weiter internationalisiert.
„In Schwarz“ ist so ist ein Spagat zwischen Oasis-Melodien und Cro-Flow geworden, Jungsmusik, die auch Mädchen gutfinden werden, weil hektischer Indierock wie bei „Schüsse in die Luft“ neben einer gelinden Halbballade wie „Meine Stadt ist zu laut“ steht.

Wichtig hier ist aber vor allem der Humor, ein Wesensmerkmal des Kraftklub-Schaffens von der ersten gemeinsam gespielten Note an. Es geht den fünf Sachsen nie um Botschaften wie noch der Generation der BAP, Grönemeyer oder Maffay, sondern um selbstironische Kommentare aus der Sicht ihrer Generation: „Wenn Alkohol keine Lösung ist habe ich auch kein Problem“ Geschont wird dabei niemand, wie gleich das Auftaktstück „Unsere Fans“ zeigt. Hier wagen sie es, all die Ausverkaufsvorwürfe herumzudrehen, die noch jede kleine Band zu hören bekommt, sobald sie nicht mehr im Schulklub, sondern in der Stadthalle spielt. Nicht die Band, sondern die Fans hätten sich verändert, nörgelt Felix Brummer zu klapperndem Schlagwerk: „Unsere Fans war’n mal dagegen, die wollten nicht gefallen, früher kleine Läden, heute nur noch volle Hallen“. Alle rennen denen hinterher, denen alle hinterherrennen!

Rockfan-Schicksal, das mit „In Schwarz“ nur noch tragischer werden dürfte, denn die Brummer-Brüder, Musikdirektor Schumann und der Rest der Truppe gestatten sich hier keinen Durchhänger. Riff marschiert neben Riff, eines prächtiger als das andere, das Tempo lässt kaum einmal nach, selbst die Fahrradhymne „Mein Rad“ klingt mehr nach gefährlicher Geschwindigkeitsübertretung als nach entspannter Landpartie. Zum Halbfinale tritt dann auch noch Kumpel Casper ans Mikro und unterstützt Felix Brummer bei „Schöner Tag“, ehe der beim finalen „Deine Gang“ alle Bremsen löst und den Bubble-Gum-Beat von T.Rex ins Heute holt.




Montag, 22. September 2014

So fälscht man Mails im Nachhinein

Im Zusammenhang mit einem gerade laufenden Gerichtsverfahren, in dem es auch um eventuell gefälschte E-Mails geht, taucht die Frage auf, wie es möglich ist, elektronische Nachrichten im Nachhinein anzufertigen oder früher erhaltene oder gesendete Nachrichten nach späteren Bedürfnissen zu verändern. Dabei geht es nicht darum, nur Ausdrucke von Mails zu verfälschen, sondern die Frage war: Kann man Mails mit zwei, drei Monaten oder Jahren Abstand so aussehen lassen, als hätten sie einen Inhalt, den sie ursprünglich nicht gehabt haben.

Das geht, natürlich, und es bedarf dazu nicht einmal großartiger Computerkenntnisse. Das Verfahren ist im Gegenteil ganz einfach - und, vorausgesetzt, Sender und Empfänger sind sich einig - kann die Fälschung ohne Mithilfe des Providers nicht einmal nachgewiesen werden.

Das Verfahren ist denkbar einfach. Zuallererst muss das Outlook- oder Thunderbird-Postfach geöffnet werden, in dem sich alte Mails aus dem Zeitraum, aus dem eine inhaltlich anzupassende Mail gebraucht wird. Im zweiten Schritt wird das Postfach so an die Bildschirmgröße angepasst, dass der Desktop des Computers daneben oder darüber sichtbar bleibt. Der dritte Schritt ist noch einfacher: Mit der Maus wird eine zeitlich passende Mail vom Absender oder Empfänger, mit dem der anderslautende Briefverkehr hergestellt werden soll, einfach auf den Desktop gezogen.

Dort taucht nur ein einzelnes Mailsymbol auf, das mit der rechten Maustaste angeklickt wird. Aus dem Klappmenü wird nun "Öffnen mit Editor" gewählt. Daraufhin öffnet sich die Mail in der Vollansicht, in der der Inhalt bearbeitet werden kann. Statt des Originalbetreffs lässt sich nun ein neuer eintragen, statt des ursprünglichen Inhalts kann jeder andere eingetragen werden.

Ist das erledigt, wird die Mail geschlossen und gespeichert. Vorletzter Schritt: Die bearbeitete Mail wird nun mit der Maus wieder ins Postfach zurückbefördert. Dort muss nun nur noch die Originalmail gelöscht werden.

Dasselbe muss im Postfach des Partners der Kommunikation durchgeführt werden, anschließend finden sich auf beiden Computern identische Mails, die aussehen, als wären sie ausgetauscht wurden, obwohl sie das nicht sind. Ohne Hilfe des Providers, der allerdings auch nur helfen kann, wenn die betreffenden Online-Postfächer nicht gereinigt wurden, lässt sich die Veränderung nicht nachweisen - zumindest nicht, wenn der oder die Fälscher nicht vergessen habe, die auf den Desktop verschobene Arbeitskopie ordentlich zu löschen und die von ihr benutzten Speicherbereiche zu überschreiben.

Mittwoch, 17. September 2014

Schlaue Uhren: Augen am Arm

Mit Apple, LG und Samsung haben nun alle Technik-Giganten den neuen Markt der elektronischen Anziehsachen betreten - auf die Apple-Watch warten schon zahlreiche Konkurrenten.

Mit der Ankündigung von Apple, künftig auf dem noch relativ jungen Markt der sogenannten Smartwatches mitmischen zu wollen, sind die großen Namen der Hightech-Welt nun alle versammelt in dem neuen Geschäftsfeld, das noch vor zwei Jahren eine Spielwiese von ein paar mutigen Visionären war.

Männer wie Steve Tan, Gründer der Mini-Firma Kreyos, hatten sich damals vorgenommen, eine nie beendete Geschichte fortzuschreiben, deren erstes Kapitel ausgerechnet Microsoft-Chfe Bill Gates ausgedacht hatte: Die Uhr nicht nur als Zeitmesser, sondern als Lebensbegleiter, Assistent und Notizbuch.

Gates, seinerzeit noch Chef bei Microsoft, hatte 2002 das Spot-Konzept vorgestellt. Die Abkürzung stand für „Smart Personal Object Technology“ und sollte per Funktechnik Uhren in clevere Alltagshelfer verwandeln. Gates Plan, Radiofrequenzen zu nutzen, um Uhren mit Nachrichten zu versorgen, ging nicht auf. Trotz namhafter Partner wie der Uhrenhersteller Fossil und Swatch wurde das Projekt schon zwei Jahre später recht still beerdigt.

Es war dann an Leuten wie Steve Tan und Eric Micigovsky, die Idee wieder auszugraben. Micigovsky machte mit der nach einem Heiligtum der australischen Ureinwohner benannten „Pebble“ den Anfang: Mit Hilfe des Crowdfundingportals Kickstarter sammelte seine Pebble Technology Corporation binnen weniger Wochen mehr als zehn Millionen Dollar für Entwicklung und Bau der Uhr mit dem energiesparenden E-Paper-Bildschirm ein. Tan, der mit Kreyos später beim Portal Indiegogo startete, hatte wenig später auch keine Probleme, statt der angestrebten einhunderttausend mehr als 1,5 Millionen zusammenzubringen.

Die Nachfrage war ganz offenbar da, auch, weil im Unterschied zu Bill Gates Zeiten inzwischen Technik verfügbar ist, die es den Smartwatches erlaubt, wirklich schlau zu sein. Statt auf Funkwellen, die nur eine einseitige Kommunikation durch den Empfang von Nachrichten erlauben, sind die Pebble und ihre Konkurrenten über das drahtlose Bluetooth-Verfahren mit den Smartphones ihrer Besitzer verbunden. Die wiederum hängen per mobilem UMTS- oder LTE-Zugang im Funknetz oder sind in eine Wlan-Station eingeloggt.

Im Grunde können Uhren damit alles, was Smartphones können. Es ist ihnen möglich, Nachrichten zu empfangen, der Besitzer kann mit ihrer Hilfe telefonieren und - häufig sogar per Sprachbefehl - im Internet suchen. Da zugleich Funktionen der etwas simpler gedachten Fitness-Armbänder eingebaut werden, misst die Smartwatch sportliche Aktivitäten, Pulsschlag und Schlafzeiten, dazu verwaltet sie Termine, sie dient auf Wunsch als Steuerpult für die Kamera und sie misst beim Radfahren die Geschwindigkeit. Um fast 700 Prozent ist der Markt der Fitness-Helfer zuletzt gewachsen. Zumeist kleine Hersteller wie Fitbit und Jawbone konnten mehr als sechs Millionen Geräte in nur einem halben Jahr absetzen.

Ein Geschäft, das auch Giganten wie Samsung, LG und Sony interessiert. Obwohl die eher klobigen als filigranen ersten Exemplare von Samsungs Gear-Reihe wie auch die von Sony hergestellte Uhr mit dem schönen Namen „SW“ kein berauschender Verkaufserfolg waren, halten die Großkonzerne an der Absicht fest, bei den sogenannten Wearables, also den anziehbaren Hightech-Waren, mitzumischen.

Die Funktionen werden dabei umfangreicher. Samsung setzt bei der Gear S etwa auf ein Modell mit eigenem Mobilfunk-Anschluss, das gar kein Smartphone als Basisstation mehr braucht. Außerdem kann man direkt über das Gerät am Handgelenk telefonieren. Die ersten Smartwatches von LG und Motorola dagegen versuchen, wie gewöhnliche Uhren aussehen, die den Mini-Computer in sich verstecken, ohne Abstriche am Leistungsvermögen zu machen.

Noch ist das alles auf Kante genäht, noch balanciert jedes der Geräte auf einem schmalen Grat zwischen genialem Helfer und totalem Flop. Wie die Finanziers der selbsternannten besten Smartwatch aller Zeiten gerade feststellen müssen. Die „Meteor“ von Steve Tan Kreyos sollte ursprünglich alles können, was ihre Konkurrenten können, dazu aber noch eine ganze Latte zusätzlicher Funktionen bis hin zur Gestensteuerung haben.

Doch als die paar tausend Leute, die die Entwicklung und Herstellung der Uhr mit ihren Internet-Spenden finanziert hatten, jetzt mit einem Jahr Verspätung ihre Uhren bekamen, stellten sie überwiegend fest, dass wenig davon zutrifft. Kaum gelingt es, die Meteor mit dem Handy zu verbinden. In einer Facebook-Gruppe trösten sich Betroffene inzwischen gegenseitig. Wer Ideen per Internet mitfinanziere, kaufe eben kein fertiges Produkt. „Er unterstützt eine Vision.“

Freitag, 12. September 2014

Herbst 1989: Gezeichnete Geschichte

Es gibt längst auch Comics über den Holocaust und über den Zweiten Weltkrieg, an das Thema Friedliche Revolution in der DDR aber wagte sich im vergangenen Vierteljahrhundert noch niemand so recht heran. Aber alles muss irgendwann und so kommt auch die friedliche Revolution nicht darum herum, als Zeichentrickgeschichte aufzuerstehen.

PM Hoffmann, Jahrgang 1968 und als freischaffender Illustrator und Comiczeichner in Leipzig lebend, und Bernd Lindner, Jahrgang 1952 und hauptberuflich wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig, stehen hinter dem Versuch, einer nachgewachsenen Generation ohne eigene Wende-Erinnerung per Comic-Bild und Sprechblase klarzumachen, wie das alles aus heutiger Sicht gewesen ist.

„Herbst der Entscheidung“ heißt das Werk, in dem der Zeichner und der Textautor die Ereignisse Revue passieren lassen, in deren Folge  vor 25 Jahren ein müdes, verbrauchtes Regime stürzte und das Gesicht Europas grundlegend verändert wurde.

Dabei geht es eher lindenstraßenmäßig als analytisch zu: Der Comic spielt in Leipzig, der Held Daniel ist 17 Jahre alt und steht kurz vor dem Abitur. Während seine Eltern natürlich staatstreu sind, zweifelt er immer mehr am politischen System, weil Vater und Mutter ihn gern als Soldaten der NVA sähen, damit er später größere Chancen auf einen Studienplatz hat. Daraus entspringt innerer Widerstand gegen Gängelung und Bevormunderei, bis der Held in der Bürgerbewegung landet und in offener Opposition zu seinen Eltern steht. Ringsum brodelnd die Revolution, innen drin brodelt die Ungewissheit der Jugend. Ein Bilderbuch, das die Weltpolitik außen vor lässt.

Die beiden Autoren beweisen auf 96 Seiten von "Herbst der Entscheidung" immerhin, dass die Übersetzung von „Comic“ mit „komisch“ schon lange nicht mehr zeitgemäß ist. Hier ist der Hintergrund durchaus ernst: Es geht um Geschichtsschreibung per simpler Geschichte, um politische Bildung und die Vermittlung einfacher Wahrheiten.

Mittwoch, 3. September 2014

Phillip Boa: Besuch aus der Zukunft


Im 30. Jahr seiner Band Voodooclub kehrt Phillip Boa mit einem Album voller neuer Lieder in die Konzerthallen zurück.

Hinter der fünf ist inzwischen eine null, hinter der drei ebenso. Phillip Boa hat letztes Jahr seinen 50. Geburtstag gefeiert, seine Band Voodooclub begeht dieser Tage ihren 30. Aber wie das bei Boa ist, der immer ein Sturkopf war, der eigene Wege im eigenen Tempo ging: „Bleach House“, sein gerade erschienenes 19. Album, geht weder auf das eine noch auf das andere Jubiläum ein.

Wozu auch Vergangenheit, wenn Boa, der eigentlich Ernst Ulrich Figgen heißt, immer noch die Zukunft haben kann? „Kill the future“ fordert er gleich im Auftaktsong, der mit Stahlgeprügel anfängt, das sich aber schon nach einigen Sekunden in bestem Voodoo-Sound auflöst. Gitarren und Chöre, eiliges Getrommel und Keyboardschleifen - Phillip Boa war noch nie ein herausragender Sänger, aber er hatte stets ein Händchen für Ohrwurmmelodien und dazu passende prägnante Slogans. Die gibt es hier im Dutzend von „Kill Wiki“ über „The Fear that falls“ bis zu „Down with the Protocols“. Nach Indie, dem Etikett, das sich Boa Mitte der 80er Jahre anheften lassen musste, weil seine Art Musik einfach in keine Schublade passte, hört sich das alles nicht an.

Der Sound, gemischt von Produzent David Vella, der Mitte der 90er schon Boa-Hits wie „And The Wind Cries Mercy“ betreut hatte, ist fett und ein bisschen ungepflegt zugleich. Die Dancebeats des letzten Albums „Loyalty“ machen hier einem fast schon schwermetallenen Gitarrensolo Platz, später heult ein Saxophon los und in „Chronicles of the heartbroken“ trifft die Boa-Brummelstimme auf das helle Organ von Pris, der neuen Duettpartnerin, die die langjährige Kontrahentin Pia Lund abgelöst hat.

Nach und nach bündelt „Bleach House“ so all die Einflüsse und Ausflüge, die der „heitere Apokalyptiker“ in den letzten drei Jahrzehnten auf- und unternommen hat: Vom dilettantischen Rock auf „Philister“ über die Hits von „Boaphenia“ zum Metal mit dem Voodoocult und den Grübel-Songs auf „Faking To Blend In“.
Ein Menü, das zusammengehalten wird von den Boa-Beats, den Melodien und der eigentümlichen Stimme des Dortmunders, der auf dem Cover mit einem Kaktus posiert, der wie das pflanzliche Gegenstück zu ihm selbst wirkt.

Wurzellos, kratzbürstig, eigensinnig, so war der Mann mit der kinnlangen Rundschnittfrisur immer schon. Mit „Kill your idols“ ist er damals in die Charts aufgestiegen, dort hat er bald bemerken müssen, dass Selbstvermarktung auf „Morgenmagazin“-Niveau nicht sein größtes Talent ist. Phillip Boa, von seinen Fans wegen seiner Unerbittlichkeit liebevoll „Arschloch“ genannt, kehrte zurück in die Welt der Minifirmen, in die kleineren Konzerthallen und zu den überschaubaren Tourneen, bei denen er über sich selbst bestimmt.
Seiner Musik hat das so wenig geschadet wie seinem Erfolg. Ohne Medienkampagne, ohne Marketingetat füllt Boas Voodooclub Hallen fast wieder wie in den allerbesten Zeiten. Das letzte Album „Loyalty“ bescherte der Band den größten Hitparadenerfolg seit „Boaphenia“. „Bleach House“ verspricht, das sogar noch zu übertreffen.

In einer Zeit, in der das Album totgesagt wird und die Download-Single als Nonplusultra gilt, hätte es das Werk des Mannes verdient, der von sich selbst sagt, er sei gern uncool, wenn das bedeute, keine Songs für Werbung wegzugeben und bei Facebook nicht um Likes zu betteln. 13 Songs, drei Bonus-stücke, dazu in der „Collectors Edition“ weitere acht Songs, eine Vinyl-Platte und eine Konzert-DVD - manchmal lohnt es sich, mit einer Zukunft abgeschlossen zu haben, die schon längst Vergangenheit ist.

www.boa-digital.net
www.phillipboa.de