Dienstag, 20. Oktober 2015

Ronald M. Schernikau: Deutsch­land in der Brat­pfanne

Vor 24 Jahren starb der Literatur-Exot Ronald M. Schernikau - nicht ohne zuvor sein großes, rätselhaftes Büchersammelwerk "legende" fertiggestellt zu haben.

Ganz am Ende tritt er dem Leser selbst entgegen. Ronald M. Schernikau, hasenzahnig lächelnd, die Brille im Gesicht groß wie eine Schaufensterscheibe, mit schulterlangem Hippie-Haar und einem Seidentuch um den Hals. Schernikau sieht harmlos aus - doch wer es bis hierher geschafft hat, auf Seite 836 seines Monumentalwerkes "legende", der weiß: Der Kerl ist alles, nur nicht das.

Allein die Geschichte des Buches spricht Bände. 1983, zwei Jahre nach seinem ersten kleineren literarischen Erfolg mit der Coming-Out-Geschichte "Kleinstadtnovelle", begann der damals 23-Jährige mit der Arbeit an seinem Hauptwerk. Fertig gestellt hat er es im Jahre 1991, gerade eben noch rechtzeitig vor seinem frühen Tod. Erschienen ist es erst jetzt, denn lange fand sich kein Verlag, der das überaus anspruchsvolle Buchbrikett veröffentlichen wollte.

Selber schuld, Schernikau. Hartnäckig hatte sich der gebürtige Magdeburger zum Sonderling des deutschen Literaturbetriebes stilisiert: Nachdem seine Eltern 1966 nach Lehrte bei Hannover umgezogen waren, trauert das "Kind, das lieber lacht als Spaß hat" (Sch. über Sch.) der verlorenen Heimat DDR nach. Ohne nachzulassen tut er das und schafft es schließlich wirklich, 1986 die Zulassung für ein Studium am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig zu bekommen.

Seinen Kommilitonen muss Schernikau vorgekommen sein wie ein Wesen von einem anderen Stern: Ein Wessi, der für den Kommunismus glüht, ein Wohlstandsbürger, der die Mangelwirtschaft als Erlösung vom Konsumterror feiert. Am ersten September 1989 ist Schernikau am Ziel seiner Wünsche, als die untergehende DDR seinem Antrag auf Erteilung der Staatsbürgerschaft zustimmt.

Ein komischer Kauz, unbrauchbar für jede moderne Vermarktung. Acht Jahre immerhin benötigte Thomas Keck, Schernikaus Lebensgefährte und Erbe, um aus dem Buchprojekt ein Buch zu machen. Schriftsteller wie Elfriede Jelinek, Matthias Frings und Peter Hacks, die für 135 Mark jeweils ein Exemplar der Erstausgabe vorbestellten, konnte der kleine Dresdner Goldenbogen-Verlag die Finanzierung der regulären Auflage absichern, die für 65 Mark in den Handel kommt. Dafür wird allerdings eine Menge geboten. "Sie müssen bedenken", entschuldigt der eigensinnige Poet eingangs seine nachfolgende Jagd durch Zeiten, Stile und Zitate, "dass ich gezwungen war, mein Spätwerk schon in meinen Dreißigern zu schreiben." Schernikau, bekennender Schwuler, war an Aids erkrankt und wusste recht zuverlässig, dass er nach "legende" nichts weiter mehr würde schreiben können.

Folglich hat er alles zwischen diese beiden schwarzen Leinenrücken gepresst: Neun Bücher, aufgeteilt in durchnumerierte Kapitel mit Namen wie "Beruf Eros Ramazotti", "Hüter der Kugelvase" oder "Der Neffe von Ulla", allesamt von wunderlicher Gestalt und rätselhaftem Inhalt. Deutlich wird nur wenig. Etwa, dass im Zentrum der Schernikauschen Legende eine Stadt steht wie das einstige Westberlin, in dem der Dichter lange lebte. "wie das eigelb im spiegelei liegt die insel mitten im land. wie das spiegelei in der bratpfanne liegt das land in der welt", beschreibt er, praktisch und pathetisch zugleich, die Insel, die den Schauplatz abgibt für eine Handlung, die irgendwo zwischen Arno Schmidts "Kaff auch Mare Crisium" und "Ulysses" von James Joyce spielt.

Bei Ronald M. Schernikau treten eingangs vier Götter auf, die fifi, kafau, stino und tete heißen und beauftragt sind, des Schokoladenfabrikanten anton tattergreis' Nachfolger janfilip geldsack zu retten. Der ist angesichts seiner Allmacht traurig, weswegen er über die Heirat mit einer Kommunistin nachdenkt, um sich selbst auszulöschen. "Ich soll mich nicht mehr geben. es soll keinen mehr geben wie mich, niemals mehr."

Das lässt erahnen: Typografisch von Schernikau selbst sehr geschmackvoll gestaltet, ist "legende" nicht unbedingt eine unbeschwerte Strandlektüre. Hier ist Mitarbeit unabdingbar, gelegentliches Blättern Grundvoraussetzung zum Verständnis, das dennoch eingeschränkt bleibt. "legende" ist enigmatisch, Literatur in einem unbekannten Code. Unentwegt springt das Buch durch verschiedene Perspektiven, trotzig umkreist Schernikau seine Themen, sich näher und näher schiebend, um plötzlich unvermittelt abseits weiter zu plaudern.

Im richtigen Leben soll er schüchtern gewesen, aber hin und wieder trotzdem ein offenes Wort gewagt haben. Zur falschen Zeit an der falschen Stelle meist - etwa in der Endphase des Untergangs der DDR, als er seine ostdeutschen Schriftsteller-Kollegen in flammenden Worten vor dem "Maß an Unterwerfung" warnte, das "der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt".

Ausgelacht ist er worden, aufgegeben hat er nicht. Hier kommt dieselbe Botschaft, vielfach verpackt in Szenen, Verse, Miniaturen. Ein Buch wie ein Steinbruch, der rote Faden sorgfältig versteckt unter Geröll und Versschutt. Schernikau erzählt von seinem eigenen Tod, von der Weltrevolution, vom Haareschneiden und vom Ficken in der Parktoilette. Mal wird es beim Er-zählen ein Gedicht, mal etwas wie ein Essay, dann wieder ein dahinwabernder Monolog: "ich möchte ich möchte ich möchte paar locken Dich ein känguruh möcht ich weil ich hab' Dich lieb ja du da Dich".

Ja, Sprachkraft hat Schernikau und Frechheit, doch sein Ehrgeiz, die letzten Dinge zu sagen und sein Hang, ein Monument zu bauen und allen Lächlern und Zweiflern von ganz oben aus dem Wolkenkuckucksheim die Zähne zu zeigen, stehen dem Lektüre-Genuss entgegen. Brüche und Rückblenden zerren die an die Bibel erinnernde "legende" durch den Zerhacker, immer wieder geht die Formulierungsfreude dem Autor durch, bis kein Wort mehr etwas bedeutet.

Was dem Poeten selbst nicht entgangen ist. "schon an dieser stelle die erste rückblende, um den leser auf die übergroße komplitesse des erzählwerks vorsichtig vorzubereiten", schreibt er irgendwo zwischendurch, wo vermutlich schon kein Leser mehr hinkommen wird. Wie Sysiphus hat Schernikau an diesem Monstrum von einem Buch gearbeitet, größenwahnsinnig, selbstverliebt und brillant, besessen von der Aufgabe, mit Worten die Welt zu verändern. "Der Kommunismus wird siegen werden", heißt es zum bitteren Finale. Die Insel wird anschließend offiziell zum Friedhof erklärt und aus der Luft geweiht. 


Kein Schlussakkord, ein Fadeout.

Und heute ein Triumph: Bei Amazon ist die "legende" derzeit zwar zu bekommen. Für 280 Euro.

Ronald M. Schernikau: "legende", verlag ddp goldenbogen, Dresden 1999, 845 Seiten, ursprünglich 32,50 Euro

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