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Donnerstag, 27. Juni 2019

Norwegen zu Fuß: Wandern unterm Nordlicht



Ein Land, das sich Zeit lässt: Norwegen fängt gerade an, wenn man glaubt, es ist zu Ende. Und dunkel wird es auch erst, wenn alle Wanderer müde sind.


Die Nummer mit dem Kaffeekessel lässt Tare Steiro schon grinsen, ehe das Wasser kocht. Dann gibt es Zirkuszauberei in der norwegischen Wildnis: Steiro, von Haus aus Naturmensch und von Berufung Wanderführer, nimmt den brodelnden Kessel vom offenen Feuer und stellt ihn sich auf die ausgestreckte Hand. Ohne eine Miene zu verziehen. Die Wandererrunde staunt nun mit offenen Mündern - bis Tare Steiro bescheiden darauf verweist, dass der urtümlich aussehende Kessel ja einen Carbonboden habe. "Wird kein bisschen heiß."

So sind sie, die Norweger hier im Städtchen Mo i Rana, weit oben am Polarkreis. Knurrige Spaßvögel, die mit kleinen Faltbechern aus Wasserfällen trinken, auch im strömenden Regen nur ein Streichholz und etwas Birkenrinde für ein Feuer brauchen und selbst im tiefsten Dickicht gelegentlich das Handy herausholen, um knarzend irgendetwas Wichtiges zu besprechen.
Die Landschaft scheint es den Menschen gleichtun zu wollen. Norwegen ist um einiges größer als die Bundesrepublik, hat aber nur 4,5 Millionen Einwohner. Die meisten von ihnen leben unten im Süden. Nach Norden zu verliert sich das Land in Einsamkeit und rings um den Polarkreis bei magischen 66 Grad und 33 Minuten erstreckt sich nur noch eine felsigen Einöde aus Steinen und Moos unter einem tiefhängenden Himmel.

Das Saltfjell, eine Hochebene auf 700 Meter, ist Anziehungspunkt für Wanderer, die das Besondere suchen, sagt Bjørnar Brændmo, Chef des Polarsirkelcenter und Herr der verlassenen Landschaft. Entlang von farbigen Markierungen an Felsen und Steinhaufen kann man stundenlang gehen, ohne auch nur aus der Ferne andere Menschen zu sehen. Mittendurch zieht sich ein spiegelglattes Asphaltband, das, führe man es immer, immer weiter, erst am Eismeer enden würde.


So weit aber muss niemand gehen, der weit weg will von Geruch und Geräusch der Zivilisation. Gleich hinter Mo i Rana, einer Kleinstadt mit fernbeheizten Gehwegen, die ihre Existenz den reichen Eisenerzvorkommen in der Gegend verdankt, beginnt der mehr als 2 000 Quadratkilometer umfassende Nationalpark. Ein Traumland für Wanderer und Weltflüchtlinge, im Sommer zu Fuß, im schneesicheren Winter auf Skiern. Wie ein feines Netz aus Spinnfäden durchziehen Pfade die Provinz Helgeland -mal sind es schmale Trampelpfade, die über kahle Hochebenen und schaukelnde Brücken führen, mal sind es zweispurige Wege, die an die Zeit erinnern, als Waren und Menschen mühevoll mit Pferd und Wagen Richtung Norden zogen.

Immer aber taucht irgendwann eine Hütte auf, einfach gezimmert aus rot oder grau bemalten Brettern, aber sauber und aufgeräumt. Wer unterwegs nicht zelten will, obwohl das nach dem in Norwegen immer noch geltenden Jedermannsrecht aus dem Mittelalter jedem jederzeit und überall erlaubt ist, holt sich vor dem Abmarsch in die Natur im Touristenbüro die Schlüssel. Und übernachtet zum Preis eines Hotelfrühstücks bequem hier, im Schatten schneebedeckter Berggipfel.


Norweger tun das dauernd. "Fast jeder hier hat eine eigene Hütte irgendwo in den Bergen oder am Meer", beschreibt Tare Steiro. Am Wochenende ziehen ganze Familien und Freundeskreise los, im Gepäck die bräunliche Karamell-Käsespezialität Geitost, Brot und ein -wegen der exorbitant hohen Preise im Land am liebsten selbstgebranntes -Fläschchen mit Hochprozentigem. Dann werden ein paar Fische aus einem Fjord oder einem Bach gezogen, Pilze und Beeren gesammelt, das Lagerfeuer wird angezündet und gemeinsam begangen, was Steiro schlicht "Zusammensein" nennt - zu gut deutsch eine Party ohne Geburtstagskind, Kassettenrecorder und erboste Nachbarschaft.

Am nächsten Morgen wartet Kapitän Albert auf seiner "Sibilla" im Mjelfjord, um die Wanderer an den Fuß des gewaltigen Svartisen-Gletschers zu fahren. Wie auf einen Gemälde von Edvard Munch ragen die Berge schroff in einen düsteren Nordseehimmel, eine fahle Sonne spiegelt sich im eisgrauen Wasser. Ein putziges Rudel Robben rutscht spritzend hinein. Über ihm kreisen drei, vier riesige Seeadler.

Der Svartisen, zu deutsch Schwarzeis-Gletscher, ist mit einer Fläche von der Größe der Städte Halle und Leipzig der zweitgrößte Gletscher Norwegens. An einigen Stellen reichen seine Eisnasen bis beinahe hinunter ans Wasser. In einer Stunde wandert man vom Ufer hinauf, über Geröll und spärliches Gras. Auch vom Inland lässt sich der Svartisen-Gletscher besteigen -nördlich von Mo i Rana führt eine Straße zum Gletschersee Svartisvannet, nach einer schnellen Überfahrt und kurzem Fußmarsch steht man am Rand des Eisgebirges und erlebt, wie sich gewaltige Eisblöcke lösen, in den See stürzen und Flutwellen erzeugen.

Überall ist die Natur hier ohne die gebügelte Freundlichkeit deutscher Laubwälder. Der Wind ist scharf, die Sonne bleich am Saltstraumen, dem größten und mächtigsten Malstrom der Welt. Seine Urgewalt kann man auch beim Blick von der schmalen Brücke erahnen, die ihn wie ein Hochseil überspannt. Hier, etwa 30 Kilometer vom Hafenstädtchen Bodø, quetschen sich zum Gezeitenwechsel 400 Millionen Kubikmeter Wasser durch eine zwei Kilometer lange Felskanüle zwischen den Inseln Straumen und Straumøy.

Viel zu viel für den nur 150 Meter schmalen Sund, der deshalb viermal am Tag Schauplatz atemberaubender Kämpfe ist. Grünes Wasser verschlingt tosend blaues, Strudel brausen wie Düsenjäger auf, Gischt zischt und wird in die Tiefe gesogen. Nebenan am Ufer steht regungslos ein Angler. "Wir haben jede Menge fabelhafte Lachse hier", nickt Tare Steiro.

www.arctic-circle.no
www.visitnorway.de

Sonntag, 28. April 2019

Atlantropa: Der große Plan vom Umbau der Welt



Der vom Bauhaus inspirierte Architekt Herman Sörgel ging vor fast 100 Jahren daran, das Wasser aus dem Mittelmeer zu lassen. Sein ehrgeiziger Plan sollte Europa mit Raum und Energie versorgen.

Er hatte Architektur studiert, dabei aber vor allem gelernt, dass seine Auffassung von Architektur nicht dazu taugte, Häuser zu bauen. Herman Sörgel, Sohn eines Wasserbaubeamten im bayrischen Landesdienst, war vom Bauhaus inspiriert. Er wollte es größer, grundsätzlicher. Architektur, so glaubte der Regensburger, müsse den Raum gestalten und das Leben der Menschen damit einfacher, besser und friedlicher machen.

Vor hundert Jahren beginnt der 42-Jährige mit der Arbeit an einem Projekt, das auf den ersten Blick aus in einem Fantasy-Roman zu stammen scheint: Es ist der Weihnachtsabend des Jahres 1926, als ihn nach der Lektüre eines Buches des englischen Science-Fiction-Autor H. G. Wells die Vision überkommt, das Mittelmeer bei Gibraltar mit einem Damm zu sperren. Dadurch könnte der Zustrom von Wasser aus dem Atlantik kontrolliert erfolgen - der Wasserspiegel des Mittelmeeres sinke, für die wachsende Bevölkerung Europas würde Raum gewonnen werden.

"Die Vereinigung Europas mit Afrika zu einem mächtigen Weltteil."
Herman Sörgel



Der kleine Beamte dreht das große Rad. Er, der bis dahin nur Zweifamilienhäuser projektiert hat, ist getrieben von der Angst vor einem neuen Weltkrieg und der Furcht davor, dass das kleine Europa nicht standhalten wird im Wettbewerb mit Amerika. Weil es ihm an Platz fehlt. Weil es an Rohstoffen mangelt. Weil es mehr Energie verbraucht, als es produzieren kann. Der kleine Kontinent könne allein nicht bestehen, analysiert Sörgel 1929 in seinem Buch "Mittelmeer-Senkung" und weiß einen Ausweg: "Die Vereinigung Europas mit Afrika zu einem mächtigen Erdteil." Eine Kombination aus europäischer Technik und afrikanischen Bodenschätzen sei die ideale Lösung, der Name dieses Erdteil könne Atlantropa sein.



Wie aber vereinen, was von einem Meer getrennt wird? Herman Sörgel entwirft das größte Bauprojekt der Menschheitsgeschichte: Der Gibraltardamm sollte 14 Kilometern breit und 300 Meter hoch werden, Turbinen, größer als alle, die heute in Betrieb sind, könnten dann etwa 110 000 Megawatt Energie erzeugen - ein Drittel mehr als alle deutschen Kraftwerke heute produzieren.

Durch den Damm, so die Vision des Oberpfälzers, wäre es überdies möglich, den Wasserspiegel um etwa anderthalb Meter im Jahr zu senken. Atlantropa hätte seine Küsten nach einem knappen Jahrhundert weit ins Mittelmeer hinausgeschoben, Adria und Ägäis wären ausgetrocknet, Malta zu einem Teil von Sizilien geworden. Fast 560 000 Quadratkilometer Land gäbe das zusätzlich für Landwirtschaft, Städtebau und Industrie - das entspricht der fünffachen Fläche der früheren DDR. Ein Vorhaben, das heute aus vielerlei Gründen eine Idee bleiben müsste.

Wer soll das alles bezahlen? Was ist mit den Auswirkungen auf die Tierwelt? Wie verändert sich das Klima? Sörgel hatte all das berechnet und prognostiziert, sicher sagen aber konnte auch er es nicht. Dennoch wurde der Plan des mit zwei Doktorarbeiten gescheiterten Regierungsbaumeisters begeistert aufgenommen. Städte wie Venedig und Genua klagten zwar, ihnen würde der Zugang zum Wasser abhanden kommen.



Sörgel aber hatte auch daran gedacht: Venedig sollte einen eigenen Damm bekommen und so im Wasser stehen bleiben. Genua hingegen würde einfach Richtung neue Küstenlinie erweitert. An der stünden auch die neuen Häfen, die hätten gebaut werden müssen, weil alle alten Hafenanlagen nun drei Kilometer vom Wasser entfernt liegen würden. Bis Mitte der 30er Jahre arbeitete Sörgel ruhelos für sein Projekt. Seine Stelle hatte er aufgegeben, um in ganz Europa über seine Pläne zu reden. Das tat er sehr überzeugend. "Wenn ein Ingenieur zu träumen beginnt, sticht er jeden Dichter aus", schwärmte die französische Zeitung "Allier Socialiste". In den Zeiten der Weltwirtschaftskrise lechzten die Menschen nach kühnen Visionen und wagemutigen Unternehmen.

Ein Mann wie Sörgel, angetreten, die halbe Erde zum Nutzen des Menschen umzubauen, ist da genau richtig. Dann aber kommt die Machtübernahme der Nazis. Herman Sörgel versuchte, seine Pläne systemkompatibel zu machen. Trotzdem teilt ihm die Staatskanzlei in Berlin 1935 mit, dass Deutschland kein Interesse an Atlantropa habe. Sörgel macht unverdrossen weiter. Lange Zeit bleibt der Sonderling mit dem Monokel ungestört, 1942 allerdings verhängt das Regime ein Publikationsverbot gegen ihn.

Das verhilft der Idee nach dem Krieg noch einmal zu einer kurzen Blüte. Herman Sörgel gründet das Atlantropa-Institut und beginnt erneut mit seinem Werbetouren durchs Land. Doch auf dem Weg zu einem Vortrag gleich nebenan in der Münchner Prinzregentenstraße wird der passionierte Radfahrer von einem Auto angefahren. Es ist der erste Weihnachtsfeiertag des Jahres 1952, Sörgel hat ein Vierteljahrhundert für seine Idee gekämpft und nichts erreicht. Denn mit ihm stirbt auch die Idee von Atlantropa - Sörgels letzte Arbeiten, in denen er Stauseen für den Kongo plante, gingen wahrscheinlich ebenso verloren wie die Archive seines Atlantropa-Instituts.

www.morgenwelt.de

Sonntag, 3. Februar 2019

Kurt Demmler: Ein Schrei ohne Ton




Er war Staatstexter, DDR-Kritiker, Lieferant unvergesslicher Hits für Renft, Karat, Electra und Puhdys und Nationalpreisträger. Vor zehn Jahren erhängte sich der Liedermacher im Gefängnis - angeklagt wegen Kindesmissbrauchs.


Er wolle nichts mehr hören, nichts mehr sehen, nichts mehr erinnern. "Ich bin damit durch", sagt Kurt Demmler, "es ist lange her, und ich möchte nicht mehr darüber reden." 1968 in der DDR, natürlich, das ist sein Thema, nickt der Mann, der damals begonnen hatte, mit eigenen Liedern und mit dem "Oktoberklub" aufzutreten. "Aber wen interessieren diese alten Geschichten noch?"

Ihn selbst nicht, denn ihn selbst quälten längst andere Gedanken. Demmler, der produktivste und erfolgreichste Popmusik-Texter der DDR, wusste in jenem Frühsommer 2008 schon, dass sich dunkle Wolken über ihm zusammenzogen. Nach einer Anzeige von mehreren jungen Frauen ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen Kindesmissbrauchs. Demmler, aus Berlin nach Storkow in Brandenburg gezogen, schaute vom Schreibtisch aus auf den See und dichtete Düsteres. "Mein Wort teilt meine Not / mit bedauernden Zeilen und trockenem Brot", reimte der 65-Jährige im Juli 2008. Eine Woche später klickten die Handschellen. Demmler, DDR-Nationalpreisträger, Tantiemen-Millionär und Autor von Hits wie "König der Welt" und "Du hast den Farbfilm vergessen", saß plötzlich in Untersuchungshaft.

"Mein Wort teilt meine Not / mit bedauernden Zeilen und trockenem Brot." Kurt Demmler Liedermacher

Die Staatsanwaltschaft war überzeugt, dass der Liedermacher und Texter von Gruppen wie den Puhdys, Karat und Renft sich zwischen 1995 und 1999 an sechs minderjährigen Mädchen vergangen habe. Allein die damals 14-jährige Liselotte B. hat er laut Anklage mehr als 180 Mal missbraucht.

Die Opfer, aus denen Demmler die Gruppen "Kussecht" und "Zung'kuss" hatte machen wollen, sagten aus, der Liedermacher habe sich von ihnen befriedigen lassen. Demmler leugnete. Doch eine Vorstrafe aus dem Jahr 2002 sprach gegen ihn.

Die Fans seiner großen Jahre, als keine Hitparade ohne Demmler-Reime auskam, waren entsetzt. Die letzten Freunde, die dem langjährigen Wahl-Leipziger nach seinem freiwilligen Rückzug 1986 geblieben waren, wandten sich ab.

Es ist der tiefe Sturz eines "sensiblen, schrullenhaften und im Privaten schwer zu ertragenden Hochtalents", wie ihn seine Texterkollegin Gisela Steineckert einmal charakterisierte. Demmler, als Kurt Abramowitsch in Posen geboren und in Cottbus aufgewachsen, hatte früh begonnen, Gedichte zu schreiben. Erst das popmusikalische Tauwetter in der DDR Ende der 60er aber gibt dem Medizinstudenten Gelegenheit, Karriere als Dichter zu machen.

Kurt Demmler, Fan von West-Beat und Radio Luxemburg, lernt im Leipziger Jazzclub den gerade mit Spielverbot belegten Klaus Renft kennen. Für dessen Combo liefert er seine ersten Auftragstexte; hier begründete der "Pseudo-Lutheraner und Humanist" (Renft-Sänger Thomas Schoppe) auch seinen Ruf, der einzige Mann, zu sein, der "eine ganze Langspielplatte in zwei Tagen betexten kann" (Renft-Gitarrist Peter Gläser).

Solche Talente sind gesucht in der DDR, wo der Zensor immer das letzte Wort hat. Demmler, nebenbei auch als Liedermacher mit eigenen Songs unterwegs, spricht die poetische Sprache des Systems: Seine Verse lavierten zwischen Wirklichkeit und Wolken, schnell ist er auch bereit, an Formulierungen zu feilen, wenn sie Lieder bedrohen. Und im Prinzip bleibt Demmler immer auch ein bisschen Staatsfeind: Solidarisiert sich mit Wolf Biermann, kritisiert die Enge der Arbeiter-und Bauernrepublik in verschlüsselten Versen und singt Mitte der 80er von Stasi-Überwachung.

Ein Pragmatiker der Poesie, dem geflügelte Worte nur so aus den Schreibmaschinentasten springen. Demmler verteilt, was er hat, an Schlagersänger wie Karel Gott und Rockbands wie die Puhdys, an Bekannte und Unbekannte. Er schreibt Leichtes wie "Liebling, ich verspeise Dich zum Frühstück", Gedankenschweres wie "Ermutigung" für Renft und Todtrauriges wie "Schrei ohne Ton" für den DDR-Popstar Bummi Bursi. Unterwegs auf Tour lebt er dazu ein echtes Rock'n'Roll-Leben: Es gibt Groupies, es gibt Sex, und niemand fragt die Mädchen am Hintereingang nach ihrem Personalausweis.

Damals ist das allenfalls ein Augenzwinkern wert. Der Liederdichter dichtet der Gruppe Dialog den Text "Noch nicht 16" dazu. "Ach, man wird nicht minder / schon durch solche Kinder angemacht", klagt er. Am 3. Februar 2009  um 6.30 Uhr wird Kurt Demmler in seiner Gefängniszelle in Berlin Moabit erhängt aufgefunden. Er hinterlässt keinen Abschiedsbrief, aber eine Frau, zwei Kinder, drei Enkel - und rund zehntausend Liedtexte. Auf seiner Homepage demmlersong.de wirbt heute ein Hersteller von Kaffeeautomaten für sich.




Samstag, 15. Dezember 2018

Lautes Leben und ein stiller Tod: Vor zehn Jahren starb André Greiner-Pol von Freygang





Es gibt ein Foto von André Greiner-Pohl, auf dem er ganz oben in der Berliner Zions-Kirche steht, den linken Fuß gegen das Geländer der Kanzel gestemmt, die Augen geschlossen, vor dem Bauch eine Gitarre, die er weltvergessen spielt. Das Foto stammt aus den 80er Jahren. André Greine-Pohl war ein Ausgestoßener, ein Mann, der einerseits Legende war, andererseits überhaupt nicht existierte: Staatsfeind und Heiliger, Säufer und Narr, Opfer und Täter. 

Die Aufnäher sahen ganz toll aus, und sie garantierten zumindest eine lange Nacht auf der Wache. "Freygang lebt" stand auf dem Stück Stoff, das öffentlich zu tragen nur die Mutigsten wagten in der DDR. Freygang, das war André Greiner-Pohl weswegen das Bildnis des Sängers und Gitarristen wildmähnig über dem Slogan prangte. Greiner-Pohl hatte Auftrittsverbot. Freygang keine Spielgenehmigung. Weder gab es Platten von der Band noch Rundfunkproduktionen, kein Radiomoderator sprach je ihren Namen aus, und keine Zeitung erwähnte sie. Dennoch pilgerten im Jahre 1987 mehrere tausend Leute zu einem unangemeldeten Konzert in einem winzigen Nest an der polnischen Grenze. 


Andere Bands schafften es nach dem Ende der DDR, ihr Leben und Wirken im DDR-Untergrund per Talkshow-Auftritt und CD-Sampler zu vermarkten. 
André Greiner-Pohl, 1952 geboren und nach einer Elektrikerlehre bald entschlossen, ein Künstlerleben zu führen, war dieses Talent nicht gegeben. Bis zu seinem Tod hat der Sohn des DDR-Komponisten Greiner-Pohl den Untergrund nicht verlassen, trotzig buchte seine Band Freygang ihre Konzerte selbst, noch immer erschienen ihre CDs auf dem eigenen Label Flint Records und der unabhängige Buschfunk-Versand sorgt für den Vertrieb. 

Bequem hat es 
André Greiner-Pohl nie gemocht. Scheint die DDR in manch anderer Künstlerbiografie ein recht langweiliges Land gewesen zu sein, so liest sich der Lebenslauf des Kult-Gitarristen wie ein Krimi. Schon Mitte der 70er Jahre geriet der Hobbymusiker, der sich als Modell und Kleindarsteller durchschlug, ins Visier der Stasi. Ein Freund hatte beschlossen, mit Hilfe eines US-Soldaten illegal nach Westberlin abzuhauen. Dazu wollte er die Uniform des Amerikaners anziehen und einfach durch die Grenzbefestigungen spazieren. 

Ohne André Greiner-Pohl ging das nicht: Er hatte eine Wohnung in der Nähe, in der das Umziehen vonstatten gehen sollte, und ein Auto, um den falschen Ami zur Grenze zu fahren, hatte er auch. 
Das Ende vom Lied wurde im gefürchteten Knast von Rummelsburg gespielt. Der Kumpel war erwischt worden, Greiner-Pohl wurde von der Staatsicherheit abgeholt, verhört und zur Zusammenarbeit gezwungen. In der Akte unter dem Decknamen "Benjamin Karo" finden sich allerdings mehr Berichte über ihn als von ihm, der seinen Führungsoffizier wissen ließ, dass er die "Bonzokratie" der DDR verabscheute.

Schon 1968, fanden die Spitzel heraus, sei dem Komponistensohn in der Schule eine Westzeitung abgenommen worden. Auch habe der kleine André stets Westfernsehen anschauen dürfen, später hätten sich bei ihm regelmäßig politisch negative Jugendliche versammelt, ließ ein eifriger Hausmeister die Stasi-Männer wissen. So einen darf man nicht öffentlich musizieren lassen. Ohne offizielle Spielerlaubnis avancierten Freygang dennoch zu den Puhdys des DDR-Rockuntergrunds. Neben eigenen Songs spielten André Greiner-Pohl und seine wechselnden Mitmusiker vor allem Ton, Steine, Scherben nach - mehr wild als perfekt, mehr schräg als schön. 

Es gab keine Platten von seiner Band, kein Radiomoderator sprach je ihren Namen aus und keine Zeitung erwähnte sie. 1987 strömten dennoch mehr als zehntausend Fans zu einem Open-Air-Konzert, um Greiner-Pol "Ich bin ein Mörder" singen zu hören. Im Sommer 1986 wurde Greiner-Pohl von der Bühne weg verhaftet. "Der Blues muss bewaffnet sein", glaubte Greiner-Pol, "sonst glaubt dir kein Schwein". Im Revolutionswinter 89/90 machte der Musiker ernst, er gründete die Kult- und Kulturstätte "Tacheles" mit und trat mit seiner eigenen Partei Wydoks zur Wahl an. Ohne Erfolg natürlich. 

Es blieb die Musik. Wilde Klänge, zu denen Greiner-Pohl, Bassistin Tatjana Besson, Keyboarder Frank Trötsch, Gitarrist Egon Kenner und Trommler Ronald Vorpahl Mythen schredderten. Lieder hießen "Skysegeljack" und "Vier Panzersoldaten und ein Hund",  Freygang, einst der lebende Beweis, dass Rock in der DDR nicht gleichbedeutend mit angepasstem Puhdy-Pop sein musste, zwangen die Extreme in eine Rille.

Kurz vor Weihnachten vor zehn Jahren starb André Greiner-Pohl an einem Herzinfarkt, der ihn im Schlaf überraschte. Er wurde nur 56 Jahre alt.

Montag, 10. Dezember 2018

Halle, ehrlichste Stadt: Das Fahrradwunder vom Franzosenweg


Normalerweise dürfte dieses Fahrrad dort nicht stehen. Nicht dort und nirgendwo sonst, denn schließlich ist Halle die Fahrraddiebstahl-Hauptstadt Sachsen-Anhalts: Knapp 4 000 Räder wurden 2017 an der Saale gestohlen - nur knapp 500 Fahrraddiebstähle waren es im Jahr 2011. Dabei gehen nach wie vor die wenigsten Diebstahlsopfer zur Polizei, weil deren Aufklärungsrate unterirdisch ist. In nicht einmal jedem zwölften Fall wird ein Fahrraddieb erwischt, mehr als 90 Prozent aller Diebstähle bleiben unaufgeklärt. Wer Anzeige erstattet, erhält in der Regel schon nach wenigen Tagen ein Standardschreiben der Staatsanwaltschaft: Es habe leider kein Täter ermittelt werden können. Die Ermittlungen seien eingestellt.


Und nun dieses Rad, wie ein Hohn auf die Statistik und den Ruf der Saalestadt als Klau-Hochburg. Seit Anfang Juni, also ist mehr als sechs Monaten steht es im Franzosenweg, ein Damenrad, konservatives Modell, tiefer Einstieg, leicht hässliches Dunkelrot, Doppelrahmen, eher belastbar als schick, aber fahrtüchtig, abgesehen von einem Platten am Hinterrad.

Das Fahrrad ist nicht angeschlossen, nicht einmal an sich selbst. Jeder Passant könnte es nehmen und wegschieben - normalerweise werden auch solche Räder gnadenlos aus Kellern gezerrt, von Ständern vor Kneipen oder Freibadzäunen geschnitten. Manchmal dauert es keine fünf Bier und das Rad, mit dem der Gaststättenbesucher gekommen ist, fehlt auf dem Nachhauseweg. Manchmal halten nicht einmal verschlossene Haus- und Kellertüren "organisierte Banden" (Polizei) davon ab, gleich ein Dutzend Räder aus einem Fahrradraum zu schleppen.

Wie ein trotziges Mahnmal gegen das Vorurteil, Halle sei für Fahrradbesitzer eine teure Stadt, steht nun das ehemals edle Winora-Rad da, inzwischen nicht mehr unauffällig gelehnt an eine Hauswand, sondern an die Außenmauer der alten Uni-Klinik, wo Studentinnen und Studenten, aber auch andere Passanten das Angebot gar nicht übersehen können. Dennoch hält es sich, mitten in der Stadt, die nach einer Statistik eines Vergleichsportals bundesweit auf Rang 3 rangiert, wenn es um die Spitzenränge beim Fahrradklau geht.

Eine Erklärung gibt es nicht. Das Wunderfahrrad vom Franzosenweg, es hat den Sommer überstanden, den Herbst und wenn alles gut geht, steht es vielleicht nach dem Winter immer noch da.

Oder nun auch nicht. Dann aber liegt es womöglich nur an diesem Text hier.


Samstag, 17. November 2018

AKA Elektrik und Biox Ultra: Warum die DDR Werbung abschaltete


Wer ihn damals jeden Abend sah, kann die Melodie noch heute mitsingen. „Baden mit Badusan, Badusan, Badusan“! Oder auch „AKA Elektrik, in jedem Haus zu Hause“. Viel mehr hatten die sogenannten "Verbrauchertipps" im DDR-Fernsehen nicht zu bieten - aber die beiden Werbespots, die natürlich nicht so heißen durften, haben Ewigkeitscharakter für die Generationen, für die sie die erste Begegnung mit Werbung waren.

In den 60ern hatte die DDR angefangen, mit dem Aufbau des Sozialismus im Land auch Werbung zu machen. Zwischen 1959 und 1976 wurden rund 4 000 Werbesendungen im DDR-Fernsehen ausgestrahlt. Wenig im Vergleich zum Westen, viel aber für einen Staat der Bückwirtschaft, in dem sich begehrte Waren nur über Beziehungen besorgen ließen.

In einer funktionierenden Planwirtschaft hätte planmäßig für nichts Werbung gemacht werden müssen, weil jederzeit planmäßig und bedarfsgerecht produziert worden wäre. Die Praxis allerdings  sah anders aus: "Tausend Tele-Tips", die am Vorabend ausgestrahlte Fernsehwerbesendung,  sollte Schluss machen mit dem Verstecken der "beachtlichen neuen Erzeugnisse des Siebenjahresplanes in einem verhängten Schaufenster", das das SED-Organ Neues Deutschland kritisiert hatte. Während politisch mit Slogans wie "Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit" Reklame für den Sozialismus gemacht wurde, sollte Werbung für Küchenmaschinen, Mopeds und Kaffeefilter zeigen, wie modern die DDR ist und wie gut es ihren Bürgern geht.


So kam der Minol-Pirol in die Welt, es gab eine "HO-Frühjahrsmode", Kofferradios vom VEB Stern-Radio Rochlitz und Berlin-Kosmetik, "Biox Ultra - die gute Zahnpasta" und "Esda - der Qualitätsstrumpf" wurden neben dem "Wartburg - ein zuverlässiger Wagen" angepriesen, obwohl der ohnehin nur auf Vorbestellung zu haben war. Laut eigenem Statut wollte das Werbefernsehen "auf Leitbilder orientieren, die dem entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus entsprechen". Der Schriftsteller Uwe Johnson beobachtete diese Bemühungen von Westberlin aus und schrieb 1964 im Tagesspiegel: "Es werden aber tatsächlich Waren angepriesen, Seifen, Suppen, Sorten, und erstaunlicherweise mit den bekannten Mitteln der Übertreibung und anderer dreister Rhetorik."

Alles wie überall, nur aus heutiger Sicht unbeholfen und daher sympathischer. "Mein Mann und Fewa-flüssig, die beiden sind Gold wert", sagt eine Hausfrau, die mit demselben Spruch und anderem Markennamen auch in der ARD hätte auftreten können.

Die Werber fingen sich damit Kritik ein, zumal sie meist Ladenhüter bewerben mussten, die auch mit Werbung niemand haben wollte. Eier zum Beispiel, die immer beworben wurden, wenn es zu viele gab. 1972 kam dann ein Spot für einen  Geschirrspülautomaten heraus, eine Revolution der DDR-Küchen, die in einer Überflutungswelle endete. Der Spot verschwand. "AKA Elektrik" blieb, die Abkürzung stand für: "Aktiv auf dem Markt - Konzentriert in der Handelstätigkeit - Aktuell im Angebot".

Mitte der Siebzigerjahre war plötzlich Schluss mit „AKA Elektrik, in jedem Haus zu Hause“  und dem  legendären Unterleibswasser "Yvette Intim", das "nach Meinung namhafter Frauenärzte" eigentlich auch "jeder Mann" verwenden sollte. Die Werbesendung „TTT“ endete kommentarlos, indem sie aus dem Programm flog.  Zuvor hatten die Minister der DR-Regierung ganz demokratisch beschlossen, dass Werbung Quatsch sei, weil ohnehin nichts Neues mehr auf den Markt kam.

Erst Mitte der 70er-Jahre bemerkten die zuständigen Entscheidungsträger, dass da kaum noch etwas zu bewerben war und beendeten den 17-jährigen Feldversuch. Da half es auch nicht, dass wenigstens ein 1965 produzierter Spot dem Ideal der sozialistischen Fernsehwerbung schon recht nahe gekommen war. Mann und Frau sitzen am gedeckten Tisch: "Weißwein ist so recht das Getränk unserer Zeit. Für unseren Optimismus. Weißwein für glückliche Menschen, die sich gemeinsam über Vollbrachtes freuen."

Mittwoch, 14. November 2018

Blockchain: Wie die DSGVO in Europa die Zukunft beendet hat

Datenverarbeitung im Honecker-Bunker.

Blockchain-Anwendungen gelten als Basis für neue Geschäftsmodelle. Eigentlich. Denn mit ihrer neuen Datenschutzverordnung aber macht Europa die breite Nutzung der neuen Technologie dauerhaft unmöglich.

Mit dem Höhenflug der virtuellen Währung Bitcoin Ende vergangenen Jahres rückte der Begriff Blockchain zum ersten Mal in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit. Das schnelle Geld lockte, der steile Anstieg auf bis zu 20 000 Dollar für einen einzigen Bitcoin verführte viele, auch ein paar Euro auf das zu setzen, was nach Meinung vieler Experten ein Stück Zukunft mitten in der Gegenwart ist.

Allerdings nicht, weil Blockchain-Geld wie Bitcoin, Ethereum, Ripple oder IOTA schnelle Gewinne verspricht. Sondern weil die Technologie, die hinter den sogenannten Kryptowährungen steckt, zahllose andere Anwendungen ermöglicht. Bei jeder Blockchain - zu Deutsch so viel wie „Blockkette“ - handelt es sich um eine Art elektronisches Fahrtenbuch, an dem viele Teilnehmer schreiben. Jeder Nutzer hat Einsicht in alle Transaktionen, die Daten liegen nicht bei einem einzelnen Anbieter wie etwa bei Google, Amazon oder Facebook, sondern auf vielen dezentralen Computern zugleich. Dennoch sind sie nicht manipulierbar, weil jeder später geschriebene Eintrag für die Echtheit aller früheren garantiert: Was einmal in der Blockchain steht, ist nachträglich nicht veränderbar - so wie ein zwei Monate alter Eintrag in einem Fahrtenbuch nicht korrigiert werden kann, weil sich sonst automatisch die Endsumme ändern müsste.

Eine solche Buchhaltung braucht keinen Buchhalter mehr, Überweisungen benötigen keine Bank, die Abrechnung etwa von Stromkosten geschieht automatisch und Mietverträge oder Interneteinkäufe können über sogenannte Smart Contracts geschlossen werden. Die Initiatoren der sozialen Netzwerke minds.com und steemit.com nutzen eine Blockchain, um Facebook Konkurrenz zu machen. Das niederländische Startup Channels dagegen baut einen Messenger auf Blockchainbasis und die Macher von Dtube.com setzen auf ein dezentrales Youtube ohne den Datenhunger des Originals.

Die Blockchain bietet damit die Möglichkeit, das vielkritisierte Datenmonopol der Internetriesen aufzuheben. Zudem: Eine Zensur von Inhalten, die über Blockchain-Netzwerke oder - Messenger verbreitet werden, ist so wenig möglich wie ein Auslesen privater Daten durch Werbenetzwerke oder Behörden.

Ein Ziel, das auch die im März in Kraft getretene neue europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) verfolgt. Ausgerechnet das über Jahre entwickelte Projekt aber droht nun, Blockchain-Anwendungen in der EU für die Zukunft rein  rechtlich gesehen unmöglich zu machen.

Schuld daran ist Artikel 17 der DSGVO, der ein „Recht auf Löschung“ festschreibt. Danach kann jeder Mensch verlangen, dass Betreiber von Internetseiten oder soziale Netzwerke von ihm hinterlassene Daten löschen, wenn er das wünscht. Eine Vorgabe, die sich bei einer Blockchain-Anwendung nicht realisieren lässt, weil jede nachträgliche Veränderung der quasi wie die Steine eines Hauses aufeinandergeschichteten Blöcke den gesamten Bau zum Einsturz bringen würde.

Ein Problem, das der grüne EU-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht „eine besondere Herausforderung für Blockchain-Anwendungen“ nennt, „da hier eine nachträgliche Veränderung von einmal eingegeben Datensätzen nicht mehr möglich ist“. Der 35-jährige Politiker gilt als Vater der DSGVO, er hat die Grundzüge der Verordnung entworfen und sechs Jahre lang für den verschärften Datenschutz gekämpft. Heute verweist er darauf, dass es ja Versuche gebe, „Blockchain-Anwendungen mit anonymisierten Daten oder mit ausdrücklichem Verzicht Betroffener auf nachträgliche Löschungsmöglichkeiten zu entwickeln“. Albrecht gesteht zu, dass das „mit einem besonderen Aufwand verbunden“ wäre, gelänge es denn, eine Lösung zu finden.

Aber bisher gibt es die ohnehin nicht, so dass Albrecht einen Ausweg nur darin sieht, dort, wo nicht gelöscht werden kann, „die Notwendigkeit fortgesetzter Datenverarbeitung zu rechtfertigen“. Die DSGVO lässt es zu, Daten trotz Löschwunsch weiterzuspeichern, wenn eine ausreichende Begründung vorliegt. Damit ließe sich „Recht auf Vergessenwerden“ aushebeln - zumindest, bis Gerichte anders urteilen.

Spätestens dann aber wäre Europa einmal mehr abgekoppelt von einer neuen Entwicklung, die in den nächsten Jahren den Alltag von Millionen verändern wird. Jan Phillip Albrecht allerdings sieht das nicht so dramatisch. Beim Recht auf Vergessenwerden gehe es „ja eigentlich um das De-Indexieren von Suchmaschinenergebnissen“, versichert er.

Personenbezogene Daten, die in einer Blockchain gespeichert werden, seien davon nicht betroffen, liest er aus der DSGVO, was dort nirgendwo steht. Aber besser so, denn bei dezentralen Netzwerken wie Steemit.com fehlt es schon am von der EU-Richtlinie erwähnten „Verantwortlichen“, dem Löschwünsche gemeldet werden müssen.

Sonntag, 23. September 2018

Hermann Zickert: Der Warren Buffett aus dem Mansfeld

"Arbeiten Sie mit Ihrem Kapital! Streben Sie nach Rente, nicht nach Kursgewinn! Kaufen Sie nur marktgängige Sachen! Lassen Sie sich nicht durch Versprechungen blenden! Prüfen Sie, bevor Sie kaufen! Fragen Sie nicht den Bankier um Rat! Versäumen Sie nicht rechtzeitigen Verkauf! Machen Sie keine Bankschulden!" Ratschläge, die Hermann Zickert gab, eine Art Warren Buffett aus dem Mansfelder Land.


Zickert war der Sohn eines Fleischermeisters aus Eisleben, besuchte das Gymnasium in Sondershausen und wurde zum Börsenpionier in Deutschland: Seiner Zeit weit voraus, gilt der 1885 geborene Börsehai als Gründer der modernen Finanzmarktanalyse. Die von ihm entworfenen Werkzeuge benutzen die Analysten von n-tv bis zum Bundeswirtschaftsministerium bis heute.

Zickert war aber nicht nur ein Erneuerer des finanztechnischen Denkens, sondern auch ein Mann mit klaren Prinzipien. In Heidelberg promoviert, gründete er später die Fachzeitschrift "Spiegel der Wirtschaft", wollte sich und seine Ideen aber von niemandem vereinnahmen lassen. Noch ehe Hitler die Macht ergriff, flüchtete Zickert vor dem "schweren psychologischen Druck" (Zickert) in der Heimat nach Liechtenstein, um "einen freieren, weiteren Blick zu gewinnen".

Gerade noch rechtzeitig. 1936 verboten die Nazis den Vertrieb seiner Zeitschrift in Deutschland. Zuvor hatte Zickert sich über die Konjunkturprognosen der großen Wirtschaftsforschungsinstitute lustig gemacht: "Wenn so große Institute in ihren Forschungsergebnissen so gründlich versagen", schrieb er, "wie muss dann die Planwirtschaft aussehen, die sich auf solche Wahrheiten aufbaut!"

Zickert überlebte den Krieg im Exil, später wurde er mit seinem Blatt und seinen Lehren zum Berater unzähliger Kleinanleger. Der vergessene Börsenpionier starb 1954 in Liechtenstein.

Mittwoch, 22. August 2018

Sie sind unter uns: Goethes Begegnung der 3. Art


Es ist nicht irgendwer, der da an einem Septembertag des Jahres 1768 aus seiner Postkutsche steigt, ein paar Schritte zur Seite tritt und plötzlich wie erstarrt stehenbleibt. "Es blinkten in einem trichterförmigen Raume unzählige Lichtlein", beschrieb er später. "Eine Art wundersam erleuchtetes Amphitheater", von dem der Zeuge noch fast 45 Jahre später wissen wird, "dass das Auge davon geblendet wurde" und "dass sie flimmerten, aber nicht stillsaßen, sondern hin und wieder hüpften, sowohl von oben nach unten als umgekehrt und nach allen Seiten".

Johann Wolfgang von Goethe, kein Geringerer war der Postkutschenpassagier, war fasziniert, berauscht, beeindruckt. Und ratlos, denn eine Erklärung für das Phänomen, das er später in seiner Autobiografie "Dichtung und Wahrheit" beschrieb, fiel ihm partout nicht ein. Goethe, obschon Universalgelehrter und einer der klügsten Köpfe seiner Zeit, wusste nichts von Außerirdischen. Er sah nur, verstand aber nicht.

In den "Atlas der außerirdischen Begegnungen" (Frederking & Thaler, 29,99 Euro), den der französische Schriftsteller Bruno Fuligni zusammengestellt hat, schaffte es der deutsche Dichterfürst nur wegen seiner blumigen Beschreibung des Unerklärlichen. Fuligni, selbsternannter "Experte für Geheimarchive" griff sie dankbar auf, als er daranging, eine Weltkarte der Welträtsel zu entwerfen. Von den prähistorischen Astronauten, die Felsritzungen aus dem Mesolithikum zeigen - samt Handfeuerwaffe und Navigationsgerät - über das Leuchtkreuz, das die französische Stadt Migné anno 1826 plötzlich erleuchtet haben soll, bis zum "Tor zur Innenwelt", über das der russische Schriftsteller Antoni Ossendowski auf seiner Flucht vor Lenins Revolutionären zufällig irgendwo in der Mongolei gestolpert sein will, bleibt keine Legende unerwähnt, so erstaunlich unmöglich sie auch klingt.

Dänikens Idee, bei den Kratzzeichnungen in der peruanischen Steinwüste könne es sich um einen "Flugplatz" handeln, wird ebenso erwähnt wie der Alien-Kirchengründer Emanuel Swedenborg und die brasilianische Ufo-Insel Trindade, auf der 48 Menschen im Jahr 1958 einer Ufo-Landung beigewohnt haben wollen.

Es fehlt keiner der bekannten spektakulären Fälle. Wohl aber einige der am besten dokumentierten Ereignisse aus Ostdeutschland - so ein angeblicher Ufo-Überflug über Halle, bei dem fünf Polizeibeamte im Februar 1985 zwischen 23.40 und 23.50 Uhr von vier Orten im Stadtgebiet aus dieselbe Beobachtung eines nach Norden fliegenden Objektes machen, das dann plötzlich zerplatzt. Obwohl die Staatssicherheit damals sofort ermittelt und Minister Erich Mielke selbst auf dem Laufenden gehalten wird, findet der diensthabende MfS-Major Herbert Jeschke keine Hinweise auf einen Absturzort des von einem der Volkspolizisten als "zigarrenähnlich" beschriebenen Flugkörpers, der von einem anderen Zeugen als eher "länglich-viereckiger Körper" wahrgenommen worden war.

Der Vorfall blieb geheim, obwohl die Uno schon 1978 ihre Resolution 33/426 verabschiedet hatte, die die Mitgliedsstaaten dazu aufforderte, "geeignete Schritte zur Untersuchung außerirdischen Lebens einschließlich unidentifizierter fliegender Objekte" zu unternehmen.

So eifrig die USA war, die allein im Air-Force-"Projekt Blue Book" 12 618 Ufo-Sichtungen anhäufte, so zurückhaltend wurde in Deutschland mit dem Thema umgegangen. So erklärte der damalige Staatssekretär Peter Altmaier am 12. Juni 2008 , dass es "keine Erkenntnisse über Sichtungen sogenannter Ufos bzw. Außerirdischer in Deutschland" gebe. Entsprechend seien auch keine Akten über Ufo-Sichtungen vorhanden.

Mittwoch, 30. Mai 2018

Spukhafte Fernwirkung: Als Einstein Gott Vorschriften machte


Albert Einstein veröffentlichte 1905 die spezielle Relativitätstheorie und revolutionierte die gesamte Physik - für viele eine harte Nuss. Ein weiterer Versuch populärer Erklärung.


Albert Einstein ahnte nur, dass es jenseits der Physik noch etwas geben muss. Heute gilt die Quantenphysik als letzter Stand der Wissenschaft - verstehen aber kann sie nur, wer sie sich von kundigen Männern wie Anton Zeilinger erklären lässt. Ein ganz klein wenig Hexerei ist dabei. Stellen wir uns Folgendes vor: Zwei Photonen, also Lichtteilchen, die mit Hilfe eines Lasers und eines Prismas im Labor miteinander "verschränkt" wurden - in einfachen Worten. Diese Photonen sind winzig klein, man kann sie nicht sehen, man weiß nur, dass sie da sein müssen. Und weil sie da sind, weiß man, dass eines von ihnen die bestimmte Eigenschaft A hat, während das andere die bestimmte Eigenschaft B in sich trägt. Welche Eigenschaft das eine hat, hängt ganz davon ab, welche im anderen enthalten ist.

Zu kompliziert? Schwer verständlich? Das fand Einstein auch. Also machen wir es doch gleich noch ein bisschen schwieriger: Keines der beiden verschränkten Teilchen kennt seine eigene Eigenschaft. Denn die wird erst festgelegt, wenn ein Beobachter von außen sie zu ergründen versucht - wie zwei Würfel mit nur zwei Buchstaben, die erst eine Zahl zeigen, wenn sie geworfen worden sind. Dann aber, und das ist wirklich wahr, entscheidet sich nicht nur das eine Quant für Eigenschaft A oder B. Sondern ganz automatisch auch das andere - hat ein Würfel das "A", zeigt der andere das "B" und umgekehrt. Und nun halten wir uns mal fest, denn was jetzt kommt, ist mehr als nur ein bisschen Hexerei: Dabei ist völlig egal, welcher Abstand zwischen beiden Teilchen liegt. Und gleichgültig, dass es keinerlei Verbindung zwischen ihnen gibt.

Albert Einstein nannte das einst "spukhafte Fernwirkung" und er hatte ernsthafte Zweifel daran, ob er eine Welt akzeptieren könne, in der Wirkungen ohne Ursachen möglich sein sollen. Was heute als einer der Grundlehrsätze der Quantenmechanik gilt, war Einstein ein rotes Tuch. Schließlich hatte er doch die Lichtgeschwindigkeit als theoretisch höchstes Tempo überhaupt mathematisch nachgewiesen. Und die verschränkten Photonen kümmerte das überhaupt nicht! Sie "beamten" sich offenbar Informationen in Null-Zeit, also ohne jede Verzögerung zu, und das ohne Verbindung miteinander. Irgendwo, vermutete der Vater der Relativitätstheorie, müsse da noch etwas sein, das alles erkläre. Bis Niels Bohr, auch er ein großer Physiker, ihm eines Tages entgegenschleuderte: "Hören Sie endlich auf, dem Herrgott Vorschriften zu machen, wie er die Welt gestaltet."

Und im Bauplan des Kosmos ist Einsteins "spukhafte Fernwirkung" nun mal ein Fakt, wie der Wiener Physik-Professor Anton Zeilinger auf einer eben erschienenen Doppel-CD gleichen Namens ausführt. Die, als Teil einer populärwissenschaftlichen Hörbuch-Reihe im Kölner Supposé-Verlag erschienen, versucht, Leuten die Quantenphysik zu erklären, die bei dem Wort allein schon an langweilige Gleichungsketten und endloses Formelgewimmel denken. Ein Vorhaben, das Zeilinger, im vergangenen Jahr Leiter eines Aufsehen erregenden Experiments, bei dem es erstmals gelang, Lichtteilchen durch ein Glasfaserkabel unter der Donau hindurch zu beamen, mit Wiener Charme und nahezu ohne Fachausdrücke erledigt. Locker plaudernd beschreibt der 60-jährige Experimentalphysiker eine Welt, in der ganz andere Gesetze gelten als in unserem Alltag. Eine Welt ist dies, in der Dinge zugleich da und dort sein können und in der der Zufall kein Ergebnis von beeinflussbaren Faktoren, sondern reine, pure Willkür ist.

Zeilinger, ein wuschliger Charakterkopf von Reinhold-Messner'schem Format, bemüht einprägsame Beispiele, um klarzumachen, was die Welt im Innersten zusammenhält. "Wenn ein Spiegel genau halb durchsichtig ist", beschreibt er, "geht die Hälfte des Lichtes hindurch und die andere Hälfte wird reflektiert." Soweit, so gut. Was aber geschieht mit einem einzelnen Photon, das auf den Spiegel trifft? Wird es zurückgeworfen? Oder durchgelassen? "Niemand weiß das", sagt Anton Zeilinger, "nicht einmal das Photon selbst."

Und all unsere Wissenschaft kann daran nichts ändern. Einstein meinte einst, die Welt könne gar nicht so verrückt sein, wie uns die Quantenmechanik glauben machen will. "Heute aber wissen wir, die Welt ist so verrückt", zitiert Anton Zeilinger seinen amerikanischen Forscherkollegen Daniel Greenberger. Im Reich der Quanten können Teilchen an verschiedenen Orten zugleich sein, und auch die Regel, dass Dinge selbst dann existieren, wenn sie niemand sieht - wie die Sonne, die auch scheint, wenn keiner hinschaut -gilt nicht mehr. 


Das ist im ersten Moment verstörend. Männer wie Anton Zeilinger aber sehen vor allem "Die Schönheit der Quantenphysik" (CD-Untertitel) und die Fülle der neuen Möglichkeiten, die in Einsteins "spukhafter Fernwirkung" stecken. Schon hat Zeilingers Team so genannte Quantenzustände kilometerweit über die Dächer von Wien hinweg transportiert. Und schon basteln andere Forscher an Computern, die auf Quantenbasis funktionieren - dann stünde eine Revolution ins Haus, die alle bisherigen technischem Umwälzungen in der Menschheitsgeschichte in den Schatten stellen wird.

Nur das Beamen größerer Objekte oder gar ganzer Menschen bleibt wahrscheinlich für immer Science-Fiction: "Allein die Information über die Quantenzustände eines Menschen, die zum Beamen übertragen werden müssten, würden einen CD-Stapel von 1 000 Lichtjahren Länge füllen", weiß Zeilinger. Ein Lichtjahr sind knapp 10 Billionen Kilometer - selbst mit bester Technik würde die Übertragung dieser Daten Ewigkeiten dauern. Der britische Quantencomputerexperte Samuel Braunstein hat das einmal gallig kommentiert: "Natürlich wäre es einfacher zu laufen."

Donnerstag, 26. April 2018

Wandern auf der Rota Vicentina: Meer geht nicht


Im Südwesten führt ein 350 Kilometer langer Weg am Atlantik bis zum äußersten Ende Europas. Warum die malerische Rota Vicentina auch für unerfahrene Wanderer ein toller Tipp ist.

Es ging nicht mehr weiter, keinen Schritt. Die junge Frau hat sich in ihre Jacke gewickelt, den Rucksack unter den Kopf geschoben und sich am Wegesrand langgestreckt. Keine 50 Meter entfernt peitscht der Atlantik die Steilküste, weißer Schaum schwimmt auf den Wellen, über denen Störche kreisen. Kein Mensch ist zu sehen, nicht vorn und nicht hinten, kein Schiff, kein Boot und ein Auto sowieso nicht. Wer hier schläft, der findet seine Ruhe.

Und wer hier wandert, tut es auch. Die Rota Vicentina, die von Santiago do Cacém im Norden über 350 Kilometer bis zum Cabo de São Vicente am äußersten südlichen Zipfel Portugals führt, ist ein einsamer Pfad. Verglichen mit großen Pilger- und Wanderrouten wie dem Jakobsweg in Frankreich und Spanien oder der Annapurnarunde in Nepal ist die Strecke, die zumeist direkt am Atlantik entlangführt, nahezu unbekannt. Völlig zu Unrecht, denn abgesehen von hohen Bergen bietet die Rota alles, was ein Wanderer sich wünscht: Abwechslungsreiche Landschaft, wilde Natur, weite Aussichten, einsame Dörfer und idyllische Badebuchten.

Das „Schlandern“ entspannt


Die locken in der Vorsaison allerdings nicht wirklich zum Baden. Ein Nieselregen treibt vom offenen Meer herein, die Sonne versteckt sich kurz hinter einer Wattewolke. Gelb und orange leuchtet das Land hinter Almograve, wo die Rota als breite Wanderautobahn Richtung Zambujeira do Mar führt. Links Hügel, rechts steile Felsen, die zum Meer abfallen. Wer auf der Rota wandert und unterwegs nicht zelten will, der bucht Hotels auf der Strecke. Von dort aus lässt sich der Rota-Gänger dann von einem Taxi an den Start der jeweiligen Tagestour fahren oder aber am Ende der Etappe abholen und zum Hotel zurückbringen.

Genusswandern ist das, hier „Schlandern“ genannt, wie eine Mischung aus Schlendern und Wandern. Gepäck muss niemand tragen, ein kleiner Tagesrucksack für Wasserflasche, Müsliriegel und Regenjacke reicht. Dazu ein paar Karten über den Streckenverlauf, der von ein paar wenigen missverständlichen Stellen abgesehen, hervorragend markiert ist.


Die Erfinder der erst 2012 offiziell eröffneten Rota Vicentina haben die Tagesetappen auch für ungeübte Wanderer überschaubar gehalten. Die gesamte Strecke ist in Abschnitte eingeteilt, die nicht länger sind als 20 Kilometer. Da es abgesehen von Teilstrecken an der Steilküste, die sich kilometerlang über kleinere Anstiege und Abstiege erstrecken, nur Höhenunterschiede von höchstens 200 Metern zu überwinden gibt, ist das in jeweils fünf bis höchstens sieben Stunden Gehzeit gut zu schaffen.

Unterwegs geht es an zerklüfteten Klippen und Felsbögen vorbei. Winzige, menschenleere Küstenorte finden sich ab und zu am Wegesrand. Wegen der reichen Fauna und Flora ist die Costa Vicentina zum Naturschutzgebiet erklärt worden, sie heißt jetzt „Parque Natural do Sudoeste“.

Zu Recht: Über dem Steilufer von Cabo Sardao fliegen die Sturmstörche zu ihren Nestern, die wie von einer geheimen Kraft festgenagelt auf schmalen Felsspitzen selbst peitschenden Atlantikstürmen trotzen. Wie Fischadler segeln die Riesenvögel durch die Böen, um die Horste mit neuen Zweigen in Schuss zu bringen. Am Wegesrand des Trilho dos Pescadores - zu deutsch Fischerpfad - blühen Blumen in allen Farben. Der Weg mäandert durch Pinienwälder und weiße Dünen. Das einsame Haus dort oben soll einmal Amália Rodrigues gehört haben, der „Königin des Fado“, des klassischen Klagegesangs der Portugiesen, die es lieben, Liebe, Ungerechtigkeit und Alter in Liedern voller Herzblut und wilden Tonsprüngen zu besingen.

Die letzte Thüringer Bratwurst


Das Ende der Welt - an der Costa Vicentina ist es nie allzuweit weg. Dabei scheint alles hier zugleich unendlich: Der Weg, der Himmel, die bizarren Felsen, die drei Meter hohen Wellen, die Wände aus Schiefer, Sandstein und Granit, die spritzende Gischt und die Schaumflocken, die bis 30 Meter hoch fliegen. Weil sich an der Rota die afrikanische Platte unter die europäische schiebt, stehen ganze Küstenabschnitte schief. Sie wirken, als würden sie gleich umfallen - oder seien es schon. Es wäre genug Platz da. Die Rota Vicentina verläuft ja entlang des äußersten Westens Europas. Gegenüber, 5 700 Kilometer entfernt, hinter ein paar winzigen Azoren-Inseln, liegt Atlantic City im US-Bundesstaat New Jersey.

Nach Süden zu, immer den Weg lang, ist am Leuchtturm am Cabo de São Vicente Schluss. Ein Kiosk bietet Thüringer Bratwurst, die letzte vor Amerika, wie Wirt Wolfgang Bald wirbt. Ringsum ist Wasser. Meer geht nicht.

Freitag, 23. Februar 2018

Saale-Paddeln: Ein Traum von einem Fluss


Jahrzehntelang galt die Saale als vergifteter Strom. Heute finden Paddler hier idyllische Landschaften. Das weiß nur leider niemand.

Es ist still an dieser engen Stelle vor der malerischen Brücke, an der der Fluss seine ganze Kraft durch eine kaum 30 Meter breite Engstelle presst. Eine Minute, länger schwimmt niemand gegen die Strömung an. Ein Flussregenpfeifer tiriliert, ein paar Frösche quaken. Die Blätter der Bäume am Ufer rauschen. Am Ufer gegenüber geht die Sonne unter.


Wäre nicht der Zug, der gerade nebenan über die Brücke donnert, die Wiese am Parkkiosk von Rolf Wintermann könnte irgendwo an einem schwedischen Flüsschen oder weit im Osten an den masurischen Seen liegen. Spiegelndes Wasser, endloses Grün, völlige Einsamkeit. Doch was sich hier bei Dehlitz, einem winzigen Flecken zwischen Weißenfels und Bad Dürrenberg, tief ins Tal duckt, ist nicht der berühmte Paddelfluss Krutynia und es ist auch kein schwedischer See in den Nordmarken. Sondern die Saale, ein Gewässer, dem noch immer das Image anklebt, stinkend, schmutzig, giftig und überaus hässlich zu sein.

Abschied von der Kloake


Nicht zufällig natürlich. Noch vor einem Vierteljahrhundert war der Fluss, der bei Zell im Fichtelgebirge entspringt und über Thüringen kommend Richtung Elbe fließt, tatsächlich mehr Kloake als Fließgewässer. Leuna, Buna und unzählige andere Fabriken leiteten ihr Abwasser mehr oder weniger ungeklärt ein. Das Saalewasser, eine braune Brühe mit unverwechselbarem Geruch, kroch schaumgekrönt durch die Landschaft. Kaum ein Fisch mehr, kaum noch Leben. Vorbei die Tage, als der 17-jährige Joseph von Eichendorff von Gimritz bis nach Trotha schwamm und der Schwimmverein Schwan am Ufer "Gut Nass, Hurra!" jubelte. Statt "silbern glänzender Wellen", wie sie der begeisterte Saale-Schwimmer Johannes Teller Anfang des vergangenen Jahrhunderts beschrieb, nur stickiger Chemienebel. Mitte der 80er <&gt; wurden trainierende Ruderer in den Cyanid-Ausdünstungen ohnmächtig, die einschlägigen Grenzwerte waren um das 50-fache überschritten worden. Nach dem Dafürhalten der zuständigen DDR-Behörden hieß das "stark verschmutzt". Und bedeutete: Baden verboten, Paddeln auf eigene Gefahr. 

Ein Ruf, der dem Fluss bis heute nachhängt - und das völlig zu Unrecht. Nicht nur, weil sein Wasser längst das Prädikat "chemisch gut" trägt. Sondern auch, weil die Saale alles hat, was sie zu einem beliebten Paddel- und Kanurevier machen könnte: Unberührte Natur mit fliegenden Bussarden und Graureihern, Bachstelzen, Enten und Nutrias, eine touristische Infrastruktur mit Zeltplätzen und Gaststätten, Sehenswürdigkeiten an beiden Ufern und zwischen ihnen einen Strom, der jedes Boot gemächlich schiebt, so dass das Paddeln auch mal unterbleiben kann.

Alles das hat die Saale. Nur Paddler und Kanuten hat sie kaum. Nach einer Untersuchung der Investitions- und Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalts halten derzeit nur sechs Prozent der Deutschen die Saale-Unstrut-Region für eine Wassersport-Gegend. "Manchmal kommen zwei, manchmal zwölf", sagt Rolf Wintermann, der in Dehlitz die letzte Verpflegungsstation vor dem weltvergessenen Stück Strecke nach Merseburg betreibt. Das ist der Andrang an einem Wochenende. "Da ist immer mehr los", sagt Wintermann, der seinen Kiosk mit Anlegesteg und Zeltwiese nur nebenbei betreibt. "Leben kann man davon nicht.

Die Zahlen machen es deutlich. Anfang der 90er, als über den wahren Zustand der Saale berichtet werden durfte, wagten sich keine 500 Paddelboote pro Jahr auf den Fluss. Doch je sauberer die Saale später wurde, desto beliebter wurde sie. Fast 8 000 Boote waren 2009 zwischen Naumburg und Barby unterwegs, so viel wie seither nie wieder. Letztes Jahr zählten die Schleusenwärter des Wasserstraßenamtes Magdeburg nicht einmal mehr 5 500 Boote, die zwischen Frühjahr und Herbst auf dem Fluss unterwegs waren. Selbst die Unstrut, die bei Naumburg in die Saale mündet, zieht mehr als dreimal so viele Freizeitkapitäne in Kanadiern und Faltbooten an.

Wenn die Saale bepaddelt wird, dann "gehört die Strecke Camburg - Naumburg zu den am stärksten frequentierten Abschnitten", beschreibt Matthias Beyersdorfer, der Geschäftsführer des Fördervereins Blaues Band e.V. Auch die 90 Kilometer zwischen Halle und der Mündung in die Elbe werden nach Erfahrungen des halleschen Bootsvermieters Thoralf Schwade häufiger befahren als die Strecke von Naumburg nach Halle. Dabei ist die Saale gerade hier eines dieser von Menschen und Massentourismus noch völlig verschonten Gebiete, nach denen Paddler und Kanuten in ganz Europa suchen.

Dennoch setzt am Blütengrund in Naumburg am Morgen nur eine einzige Familie in Faltbooten ein, erfahrene Paddler, bei denen jeder Handgriff sitzt. Vom Start weg ist die Strömung kräftig; die Unstrut, die 400 Meter flussaufwärts in die Saale fließt, drückt mehr als die Morgensonne. Naumburg liegt nur ein paar hundert Meter hinter dem rechten Ufer, ist aber vom Wasser aus genau so unsichtbar wie es später die meisten Dörfer entlang der Route sein werden.

Das Wasser ist klar, kein "Blaues Band", wie die Werbeschilder am Ufer suggerieren, aber ein grünbraunes, das im Licht glitzert. Die Schönburg Ludwig des Springers taucht auf, danach Schloss Goseck. An der Oeblitzschleuse bietet Peter Frick Wasser- und Radwanderern Essen und kalte Getränke. Eine Stunde weiter wartet schon das Bootshaus eines Rudervereins. Es wäre Platz für zahlreiche Paddler, auf dem gemütlich dahinschlängelnden Fluss und auf der Terrasse. "Aber Paddler sind eher selten", sagt die Kellnerin.

Obwohl die Förderservice GmbH der Investitionsbank des Landes den Wassertourismus auf der Saale seit 20 Jahren auf Messen und neuerdings auch im Internet vermarktet, sind nirgendwo welche zu sehen. Stattdessen kommt Weißenfels in Sicht und mit der größten Stadt auf der Strecke auch das Gefühl, dass die alte Saale noch nicht ganz tot ist - hinter der Brückenmühlenschleuse riecht sie nur so.

Masterplan Tourismus


Hier tauchen auch unübersehbare Hinterlassenschaften des Hochwassers von 2013 auf, das den Wassertourismus auf der Saale, der Teil des Masterplan Tourismus 2020 ist, um zehn <&gt; zurückwarf. Autoreifen liegen im Uferschlamm, Kinderwagen, Badewannen, Fässer und Plastikstühle. Dreck, der niemandem gehört, wie die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung erklärt. Es trete "kein Abfallbesitz des Bundes ein, da das hierfür erforderliche Mindestmaß an tatsächlicher Sachherrschaft nicht vorhanden ist". Zuständig seien die örtlichen Entsorgungsträger. Die vermutlich keine Schiffe haben. 

Zum Glück endet Sachsen-Anhalts hässliches Stück Wasserseite bald. Nun wird das Saaletal wieder zu einem verwunschenen Ort, an dem Outdoorfans und Freizeitkanuten durch waldige, grüne Einsamkeit treiben. Hinter Rolf Wintermanns Kiosk gibt es keine Verpflegungsmöglichkeiten mehr, nur Hindernisse. Die meisten Schleusen sind jetzt auf Selbstbedienung ausgelegt. Funktioniert eine nicht, geht unter Umständen auch niemand ans Telefon. Die noch von Wärtern betreuten Hebewerke dagegen sind wochentags geschlossen und am Wochenende nur halb besetzt. Der Masterplan für Touristen: Wer Kanu und Gepäck nicht umtragen will, übt sich in Geduld.

www.blaues-band.de
www.bootsverleih-halle.de
www.saale-unstrut.de
www.bootsverleih-halle.de


Freitag, 19. Januar 2018

Janis Joplin wird 75: Gottes Reibeisen

Am Tag vor ihrem Tod sang sie noch schnell das Lied ein, das das auch fast ein halbes Jahrhundert später jeder sofort im Ohr hat, der ihren Namen hört. „Oh Lord, won't you buy me a Mercedes Benz?“m, raspelte Janis Joplin ganz ohne instrumentale Begleitung, „my friends all drive Porsches, I must make amends“. Ein musikalischer Moment für die Unendlichkeit, keine zwei Minuten lang. 24 Stunden später war Janis Lyn Joplin, als Tochter eines Ölarbeiters im texanischen Port Arthur geboren, tot und das Popgeschäft um eines seiner größten Talente ärmer.

Debüt in der Entziehungsklinik


Janis Joplin war erst ganze vier Jahre dabei, wirklich professionell zu singen. Als Teenager hatte sie lieber gezeichnet, war von ihrer Mutter Dorothy, die einst selbst hatte Sängerin werden wollen, aber immer wieder motiviert worden, weiterzumachen. Mit 15 stand Janis zum ersten Mal auf der Bühne, fast ein wenig zynisch scheint mit Blick auf ihre spätere Laufbahn die Wahl des Auftrittsortes - einer Anstalt zur Reintegration von Alkohol- und Drogensüchtigen. Das Mädchen mit dem zupackenden Wesen, das den gängigen Schönheitsidealen der ätherischen Fee so gar nicht entsprechen wollte, ging nach dem Highschool-Abschluss nach Kalifornien, in die Stadt der Blumenkinder.

Hier in San Francisco schlug sie sich an der Seite Jorma Kaukonen, dem späteren Gitarrist von Jefferson Airplane, al Kneipensängerin durch, ohne großen Erfolg zu haben. Janis Joplin flüchtete nach Louisiana, wo sie kellnerte, und daheim in Texas nahm sie Anlauf, doch noch einen Collegeabschluss zu erwerben.

Gerade im rechten Moment aber meldete sich Chet Helms, ein früher Strippenzieher im Hippie-Universum. Dessen Band Big Brother and the Holding Company suchte eine Sängerin - der Beginn von Joplins Weltkarriere.

In den folgenden 36 Monaten veröffentlichte Janis Joplin drei Alben mit drei Bands, sie trat beim Monterey-Festival und in Woodstock auf, machte eine Europa-Tournee und flüchtete mittenfrin für eine Zeit nach Nepal. Ein Leben auf der Überholspur, gegossen in Songs wie „Piece of My Heart“ oder „Ball and Chain“, die Janis Joplin mit ihrer unverwechselbaren Stimme auf eine Weise interpretierte, dass das Struppige, Unkommerzielle ihres rüden Bluesrock ihrem Erfolg nicht im Wege stand, sondern ihn erst begründete.

Tragödie mit Drogen


Für die Künstlerin, gerade erst Mitte der 20, eine Tragödie. Ungeschützt einer Öffentlichkeit ausgesetzt, berauscht sich Janis Joplin an allem, was greifbar ist. Sie nimmt Heroin, raucht Marihuana und trinkt exzessiv. Auf der Bühne geht ihr zuweilen jede Kontrolle verloren - so wird sie wegen obszöner Sprache auf der Bühne zu einer Geldstrafe verurteilt und in einem anderen Prozess , angestrengt wegen der Beleidigung eines Polizisten, rettet sie nur das weite amerikanische Verständnis von Redefreiheit vor einer Verurteilung.

Nach dem gescheiterten Ausflug nach Nepal soll Südamerika helfen, Schluss zu machen mit den Drogen. Doch vorher muss noch das neue Album eingespielt werden, wieder mit einer neuen Band, die nun nicht mehr „Kozmic Blue“, sondern „Full Tilt Boogie“ hieß. Einen Monat lang dauerten die Aufnahmen im Sunset Sound Studios in Los Angeles, Janis Joplin wohnte derweil im nur fünf Minuten entfernten Landmark-Motel.

Am Tag, nachdem sie „Mercedes Benz“ eingesungen hatte, erschien Joplin nicht im Studio. Nach offiziellen Angaben starb Janis Joplin am 4. Oktober 1970 an einer Überdosis Heroin. Als ihr Manager John Cooke sie holen wollte, fand er Joplin tot in ihrem Zimmer. Beim Titel „Buried Alive in the Blues“ auf dem posthum veröffentlichten Album „Pearl“ fehlt der Gesang. Janis Joplin hätte das Stück erst am 5. Oktober 1970 einsingen sollen.

Sonntag, 14. Januar 2018

Eisenbahngeschichte: Pelzerzug auf dem Abstellgleis


Morgens drängten sich die Menschen auf dem rechten Bahnsteig. Links fuhr nur eine S-Bahn ab, die kaum besetzt Kurs auf Nietleben nahm. Rechts aber donnerte um kurz nach sechs der Personenzug Richtung Buna-Werk herein. Halle-Neustadt, Tunnelbahnhof, mitten in der Woche, mitten in den 80er Jahren. Ein paar hundert letzte Züge an der F6 oder Karo, während die Bremsen kreischen.


Ein paar hundert erste Schritte zur Waggontür, ein paar hundert kurze gemurmelte Grüße im Wagen. Und schon im Anfahren sind ein paar hundert Augen geschlossen; zehn, fünfzehn Minuten lang, ehe die Bahn ihre Menschenlast am Hintereingang des VEB Chemische Werke Buna wieder ausspukt. Die vom Volksmund „Pelzerzüge“ getauften Pendelbahnen zwischen der Chemiearbeiterstadt Halle-Neustadt und den Fabriken in Buna und Leuna ratterten im Schichtrhythmus hin- und zurück.

Wer in die ersten Züge stieg, war Wechselschichter in Produktionsanlagen wie Karbid oder Aldehyd. In dem danach folgten Büro-Angestellte und das Instandhaltungspersonal. Und im so genannten Mutti-Zug schließlich saßen die, die ihren Nachwuchs vor der Arbeit erst noch hatten in den Kindergarten bringen müssen. Rolf Beilschmidt ist die Strecke zwölf Jahre lang gefahren. „Jeden Morgen hin, jeden Abend zurück“, erinnert er sich, „und immer im selben Wagen, immer mit denselben Kollegen.“

Beilschmidt saß im dritten Waggon, zweite Sitzgruppe, rechte Seite, und er wusste auf dem 200 Meter langen Tunnelbahnsteig genau, wo er stehen musste, damit die Waggontür sich exakt vor ihm öffnete. Schon auf dem Weg zum Bahnhof traf der Schlosser stets einen Kollegen, auf dem Bahnsteig dann einen weiteren. Der vierte Mann stieß eine Minute später beim Halt am Neustädter Kinderdorf dazu. Da waren die Skatkarten meist schon ausgeteilt. „Wir haben bis Buna gespielt“, erzählt Rolf Beilschmidt, „und wenn die Runde nicht ganz fertig wurde, ging es nachmittags auf der Rückfahrt weiter.“

Die Zuggesellschaften auf der Pelzerlinie waren spätestens Mitte der 80er zu einem mikroskopischen Spiegelbild der DDR-Gesellschaft geworden. Die Räder drehten sich noch. Doch es bewegte sich nichts mehr.

Morgens roch es muffig, nach kaltem Qualm und billiger Seife. Die Heizungen in den schmutzigen Waggons waren immer bis zum Anschlag aufgedreht, die Fensterplätze sämtlichst wie mit unsichtbaren Namensschildern versehen. Graue Gesichter hinter ungeputzten Scheiben, auf denen in Schläfenhöhe Fettflecke von den Köpfen glänzten, die sich im so genannten Schicht-Schlaf dagegengekuschelt hatten. Abteilungsleiter und Funktionär, Lehrling und Ingenieur, Monteur und Sekretärin – bei jedem Wetter duckten sich alle vor dem Sturm, der durch den finsteren Tunnelbahnhof blies.

Zwanzig Minuten später dann schwankte die Brücke, die in Buna über die Gleise zum Werktor führt, unter dem Gleichschritt der im Morgengrauen herantappernden Massen. Pelzerzüge hatten die Gemütlichkeit von Mitropa-Toiletten. Die Farbe blätterte, der Boden klebte. Am Nachmittag kreisten unter Skatbrüdern und Werkstattkollegen zärtlich „Rohre“ genannte Flaschen mit Korn und Braunem. Die Skatkarten klatschten auf Aktentaschen, „Karo“ und „Neue Juwel“ qualmten. Fand ein echter Pelzer seinen persönlichen, über Jahre eingesessenen Platz im Zug nach dem Einsteigen besetzt, reichte ein Kopfnicken, um ahnungslose Schüler, die in ihren „Unterrichtstagen in der Produktion“ zum ersten Mal hineinschnupperten in die DDR-Volkswirtschaft, zurück in den Gang zu treiben.

Der Tod der Zweckbahn, für die selbst eingeschworene Eisenbahn-Romantiker kaum Gefühle zu entwickeln vermochten, kam in Raten. Mit der Wende stiegen zahllose Passagiere auf das eigene Auto um. Mit dem Schrumpfen der Werke mussten noch mehr gar nicht mehr nach Buna fahren. Der längste Regionalbahnsteig der Republik leerte sich. Die Wände des düsteren Tunnels füllten sich mit greller Grafitti.

Der Neustädter Bahnhof, ursprünglich als architektonisches Achtungszeichen aus Aluminium und Glas entworfen und mitten in das nie beendete Zentrum der ersten sozialistischen Stadt gestellt, verrümpelte. Das „Schiene“ gerufene Lokal, das nach Einfahrt der Bunazüge einst täglich zur dritten Schicht geladen hatte, machte zu. Später scheiterte ein halbherziger Versuch, das Gebäude zur Kulturinsel zu machen. Das Haus wurde ausgeräumt, abgesperrt und zugenagelt. Inzwischen ist vom belebtesten Bahnsteig der größten Stadt im Land nur eine leere Endzeit-Kulisse geblieben.

Ein paar Trinker lagern schon vormittags verloren am Eingang, eine Handvoll Menschen wartet im Tunnel auf die S-Bahn. Die Bahnhofstreppe hinaus ins Freie, die der Maler Uwe Pfeifer Anfang der 80er als Tür zum Himmel porträtierte, ist videoüberwacht. Dennoch hat kein Fenster mehr eine Scheibe, der Blumenladen ist verrammelt, der halbe Bahnsteig hinter einer Blechwand versteckt.

Die Zeiger der Bahnhofsuhr haben um 17 Minuten vor zwölf für immer Halt gemacht.

Freitag, 12. Januar 2018

Saudi-Arabien: Ein Bayer im Reich der Ölprinzen

Toni Riethmaier lebte zehn Jahre lang im unzugänglichsten Land der Welt - er lernte eine Gesellschaft kennen, in der die Lüge zum Alltag gehört und Gesetze nur soweit respektiert werden, dass niemand ihre Verletzung bemerkt.



Das Himalaya-Königreich Mustang gilt als schwer erreichbar, Nordkorea sogar als unzugänglich. Doch den Titel als das Land der Welt, in das Touristen überhaupt nicht vordringen können, trägt ein anderer Staat. Saudi-Arabien, das 1932 gegründete Öl-Königreich, das sich im Grunde im Privatbesitz der Familie Saud befindet, kennt keinen Tourismus, keine Touristenvisa und keine Durchreisegenehmigung für westliche Ausländer. Es ist abgekapselter als die frühere Sowjetunion, abgeschiedener als Bhutan und schwerer zu erreichen als die Sperrzone um den havarierten ukrainischen Atomreaktor von Tschernobyl.

Toni Riethmaier hat es dennoch geschafft. Der gebürtige Nürnberger wurde eines Tages gefragt, ob er nicht Lust habe, in der saudi-arabischen Hafenstadt Dschidda ein italienisches Restaurant aufzubauen. Riethmaier, ein abenteuerlustiger Gastronom, dachte nach. Und sagte schließlich zu, diese einzige Möglichkeit zu nutzen, das verschlossene Königreich kennenzulernen: Als ausländischer Arbeitnehmer, ein sogenannter Expat, der von einem saudischen Sponsor ins Land geholt, betreut und ein bisschen auch überwacht wird.

Es wird ein Trip in eine andere Welt, eine Reise, die am Ende zehn Jahre dauert und den heute 34-Jährigen zum intimen Kenner einer Gesellschaft macht, die von außen betrachtet fremd und rätselhaft, intolerant und stockkonservativ wirkt. Riethmaier, der zuvor schon in Singapur, Dubai, auf den Malediven und in China gelebt und gearbeitet hatte, erfährt das Land der Scheichs allerdings ganz anders: Saudi-Arabien, lernt er, spielt nach anderen, oft schwer verständlichen Regeln. Doch hinter der streng muslimischen Fassade und unter den Verschleierungen, die dank der wahhabistischen Staatsreligion ganz besonders kleine Sichtfenster haben, finden wilde Partys statt, wird auch Alkohol getrunken und selbst des strenge Sex-Verbot für Unverheiratete wird von jüngeren Saudis allenfalls symbolisch ernstgenommen.

Die wildesten Feten seines Lebens habe er in Saudi-Arabien erlebt, schreibt Riethmaier in seinem Buch "Inside <>", das einen pragmatischen Blick in eine fremde Kultur wirft, die zwischen Tradition und Zukunftssehnsucht schwankt. Die Macht der Sauds, ausgeübt von einem Königshaus, das seine Basis in rund 7 000 Prinzen hat, ruht auf der strengen Koranauslegung, die westliche Einflüsse strikt draußen hält. Doch im Land, das aus westlicher Sicht ununterbrochen Menschenrechte verletzt, hinrichtet, steinigt und auspeitscht, gärt es. Junge Leute wollen mehr Freiheit, Frauen wollen Autofahren, die Bevölkerung möchte ein Wort mitreden über die grundlegende Politik des Landes.

Ein wenig werden die Zügel gelockert, zumal manche Regel nach Riethmaiers Beobachtungen ohnehin nur formal eingehalten wird. Frauen dürfen nicht etwa nicht Autofahren, weil sie das nicht können, sondern weil sie eine Panne haben könnten. Dann ständen sie allein auf der Straße und ein fremder Mann könnte sich ihnen nähern - eine Katastrophe. Allerdings wohl vermeidbar, denn von fremden Autofahrern mitgenommen zuwerden - selbst von Taxen - ist im Grunde auch verboten, das Verbot aber wird umgangen, indem Fahrer und Mitfahrerin stillschweigend davon ausgehen, dass man sich kennt, weil man ja schließlich in einem Auto fährt.


Donnerstag, 4. Januar 2018

Digedags: Familie Duck der DDR

Hannes Hegens Comiczeitschrift "Mosaik" war zwei Jahrzehnte lang die realsozialistische Antwort auf Mickey Mouse - nur noch viel erfolgreicher. Nach dem plötzlichen Ende der Heftserie übernahmen die Abrafaxe, doch für echte Fans blieben die immer bloße Kopie.

Unvermittelt pflegten sie aufzutauchen, unangekündigt sowieso. Der Schuldirektor,- im Schlepptau ein, zwei Lehrer. "Ranzenkontrolle", blökte einer durch den Raum. Die Deutschstunde jedenfalls war gelaufen. Wenn nicht sogar der ganze Tag. Wurden die gnadenlosen Suchtrupps nämlich fündig, brach das Donnerwetter über den betreffenden Schüler herein. "Schundund Schmutzliteratur" in der Schultasche verwahrt zu haben, zog regelmäßig regelrechte Verhöre nach sich: Woher stammt die Konterbande? An wen wurde das inkriminierte Groschenheft bereits verliehen? Wer besitzt ähnliches "gedrucktes Gift" (NBI)? Wo sind Mickey Mouse, Lucky Luke, Donald Duck und die anderen versteckt? Und warum gab sich der Ertappte mit solchem "geistigen Müll" ab?


Der verderbliche Einfluss, den "westlich-dekadente" Bildgeschichten auf den kindlichen Charakter haben, war in der DDR unumstritten. Dagobert Duck galt als die Inkarnation des bösen, geldgierigen Kapitalisten, Lucky Luke als indianermordender Cowboy. Der Kalte Krieg zwischen Ost und West tobte und die fröhliche Unverkrampftheit der bunten Heftchen konnte so nur eine ganz besonders perfide Masche sein, um den Sozialismus, von dem man felsenfest meinte, er "erstarke" unablässig, zu zerschmettern. 
Walt Disney war ein Handlanger beim Angriff des Klassenfeindes auf die Jugend, die doch eben im Begriff war, die Zukunft zu bauen.


Doch alle Kämpfe an der ideologischen Front, alle Ranzenkontrollen nebst harter Bestrafung erwischter Delinquenten nützen nichts. Die Seuche Comics, ausgebrochen in den USA der vierziger Jahre und von den siegreichen amerikanischen GIs nach Deutschland verschleppt, hatte zum Ärger der SED-Führung auch die halstuchbeschlipste DDR-Jugend angesteckt. 



Irgendwie kam Johannes Hegenbarth da genau richtig. Der Ostberliner Grafiker und Zeichner hatte schon seit Anfang der Fünfziger die Idee einer eigenen DDR-Comiczeitschrift, denn, so meinte er im Unterschied zur damals herrschenden Schulmeinung nicht nur im Osten Deutschlands, nicht die Form der Comics an sich ist schlecht - die Inhalte sind entscheidend. Was also lag näher, als die Comicsform mit dem Erziehungsanspruch des sozialistischen Bildungswesens zu verbinden? Im Dezember 1955 war es soweit. Alle Widerstände glücklich überwunden, die erste Nummer gedruckt. Johannes Hegenbarth, der sich als Herausgeber amerikanisch verknappt "Hannes Hegen" nannte, präsentierte im FDJ-Verlag "Junge Welt" das "Mosaik". Die Folge 1 - "Auf der Jagd nach dem Golde" genannt - war der erste einer einzigartigen Serie von DDR-Comics.


Dig, Dag und Digedag hießen Hegens knollennasige Helden, die in den nachfolgenden 21 Jahren und insgesamt 229 Heftnummern Abenteuer auf Mars, Mond und Erde, im Amerika der Gründerzeit, im Mittelalter, und Gott weiß noch wo erleben sollten. Anfangs von misstrauischen Beobachtern unter Generalverdacht der Jugendverblödung gestellt, gelang es den Digedags genannten Dreikäsehochs mit ihren einfachen und "sauberen" moralischen Ansichten und Ansprüchen schnell zu wahren Kultfiguren zu werden.


Obgleich die Druckauflage seit Anfang der sechziger Jahre beständig - wenn auch stets nur "im Rahmen der ökonomischen Möglichkeiten" - gestiegen war, reichte das Angebot hinten und vorn nicht, um die Nachfrage auch nur annähernd zu befriedigen. Das "Mosaik", sechzig Pfennig teuer und zu seinen Hochzeiten mehr als eine Million Mal im Monat verkauft, avancierte zur gefragtesten Bückware an den Zeitungskiosken zwischen Ahrenshoop und Zittau. Im Abonnement hatte Hegens bahnbrechende Neuerfindung des- Comic als sogenannte Bilderzeitschrift eigentlich von Anfang an eines dieser Sternchen, die besagten: "Neu-Abo nur möglich, wenn Alt-Abonnent stirbt."


Trotz oder gerade wegen dieser, alle Parteitagsbeschlüsse und Republikgeburtstagsverpflichtungen hartnäckig überlebenden Erschwernisse wuchsen glatte drei Generationen von DDR-Kindern mit Dig, Dag, Digedag; dem gutmütig-doofen Ritter Runkel, mit dem lächerlichen Bösewicht Coffins und all den anderen '. freundlichen, skurrilen Gestalten auf. Reisten die von ihren Fans liebevoll "Digis" genannten Gnome in die Zukunft, in der ihnen von glücklichen sozialistischen Menschen nur so wimmelnde gigantische Flughäfen und natürlich gemeinschaftliche genutzte Elektro-Autos begegneten, reisten zumindest alle DDR-Bürger zwischen acht und sechzehn mit. Ging der Ausflug in die ferne Vergangenheit der Kreuzzüge, wartete man nicht weniger gespannt auf die' nächste Folge.


Wie das Abenteuer ausgehen würden, war natürlich immer vorher klar. Die  stets adenauergesichtigen Knurrgestalten des Bösen durften kämpfen. Aber am Ende gelang es den Digedags doch immer,  mit List und Klugheit und durch die Hilfe eines ganzen Haufens sich stets wie von Wunderhand um sie versammelnder guter Menschen zu obsiegen.


Im Unterschied zu "kapitalistischen Comics" hatte Hegens "sozialistische Bilderzeitschrift" vor allem in den ersten Jahren erklärtermaßen eine erzieherische Funktion neben der rein unterhaltenden. Abenteuer, Flüge, ferne Welten und fremde Gestade dienten vorzugshalber als Kulisse für naturwissenschaftliche Kurzvorträge eines Koerzählers namens "Lexi , der es sich bei passender Gelegenheit auch nicht nehmen ließ, vorsichtige Agitation mit chemisch-physikalischen Neuigkeiten zu verbinden. 


Mit den Jahren aber änderte sich das - "Lexi" verschwand ohne Spuren zu hinterlassen.und aus dem "technic strip" wurde mehr und mehr eine Spielwiese des Allgemeinmenschlichen. Ob im alten Rom oder im Wilden Westen, ob im Orient oder auf dem Mond, die Digedags - irgendwie immer unschwer zu erkennen als die DDR-Bürger, die sie ja in Wirklichkeit auch waren - hatten nur noch eine Botschaft: Wo die Bösen regieren, muss das Gute sich einmischen. Dann geht es um das große Ganze, und dann hat der eigene, kleine, persönliche Vorteil nichts zu suchen.


Die Parallelen zur Wirklichkeit ist so unübersehbar wie beabsichtigt: Die Digedags kämpften immer wieder die Kämpfe der Realität nach, siegten als putzige Karikaturen ihrer verhinderten Herren; nicht zuletzt jedoch erlebten sie dabei stellvertretend die große, weite Welt, die ihren Lesern verschlossen blieb. Und ihre Abenteuer begründeten zugleich bis Mitte der siebziger Jahre, warum zum Teufel das so sein muss. Den Garaus machte den drolligen kleinen Kerlen schließlich ein Streit zwischen ihrem Erfinder Hannes Hegen und dem Verlag Junge Welt im Jahr 1976, der mit dem Bruch zwischen beiden und der nachfolgenden Erfindung der "Abrafaxe" endete, die den Digedags zwar bis hin zu Charakteren, Gesten und Verhaltensweisen täuschend echt nachempfunden waren, deren Kultstatus jedoch nie erreichten.

Seit Anfang Dezember gibt es die Digedags in einer eigenen Dauerausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig zu erleben.