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Samstag, 16. Januar 2021

Corona-Kultur: Spazierengehen gegen die Zeit



Es ist schon ein paar Jahre her, dass der englische Musiker und Dichter Justin Sullivan ein Gedicht über den Moment schrieb, in dem "das Licht im Zeitalter der Vernunft erlischt". In dem Song namens "Here comes the war" gibt es eine Zeile, in der ein Chor "schneller, schneller, schneller" singt - ein Moment, der die Gegenwart bis vor einigen Monaten perfekt beschrieb. 

Bis zu dem Tag, als Corona kam und all die Dinge stoppte, die sich nie ändern würden, wie jeder ziemlich genau wussten Doch dann 2020. Und das Frühjahr, das alles geändert hat.

Eine neue Welt, die ein Politiker später "neue Normalität" genannt hat. Der Mensch ist eingesperrt, das ganze Leben heruntergefahren. Das Land im Ausnahmezustand. Kneipen sind geschlossen, die Städte sind leer wie einsame Wege im australischen Outback. 

Weihnachten war wie nie zuvor - nicht nur ohne Schnee und Frost, sondern ohne Treffen mit Familien und Freunden, ohne Leichtigkeit und Freude und Klingeln. Was geschieht mit einer Gesellschaft, die vom allgegenwärtigen "schneller, schneller, schneller" in einen völligen Stillstand von allem gezwungen wird?

Niemand weiß es, aber alle fürchten dasselbe: Niemals wird die alte Welt mit den gleichen Freiheiten zurückkehren, die es  so selbstverständlich gab, bevor die moderne Pest kam. Jeder spürt es, jeder fühlt es, wenn er seine Ohren und Augen öffnet. Wie still die Künstler sind. Wie verlassen das Land wirkt.  

Eigentlich sind große Krisen immer eine gute Stunde für große Kunst. Diesmal aber fehlen den Dichtern die Worte, den Sängern die Melodien. Es gibt keine Songs über das Virus, keine Filme und keine Bilder. Die Songwriter haben mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen, weil viele von ihnen kein Einkommen haben, seit alle Konzertsäle geschlossen sind. 

Rock'n'Roll ist tot wie die Kinos, das letzte Stück Leben tobt an den Aktienmärkten, an denen die Kurse seit Monaten steigen. 

Aber in den Nebenstraßen der Wall Street hängen nur noch Schatten früherer Tage: Niemand ist unterwegs, niemand gibt Geld für Einkäufe, für Essen, ein Bier oder für einen Kaffee aus.

Die einzigen belebten Orte der Zivilisation sind heute Parks und Wälder. Dies sind die Plätze, an die Menschen gehen, wenn der Tag im Home Office vorrüber ist und die Wände und Bildschirme genug angestarrt worden sind. Und wenn das nächste Wochenende begonnen hat, das abends wieder nur die Wahl zwischen Büchern und Fernsehen bietet, zwischen Musik und Internet. 

Ausgerechnet auf Deutsch gibt es ein wunderbares Wort für diese neue Weltordnung, durch die Menschen ohne Ziel ziehen: "Spanzierengehen" bedeutet Gehen nur zum Zweck des Zeitvertreibs, bewegen, nicht um voranzukommen, sondern um die Zeit zu überlisten.

Die braucht für gewöhnlich keine Hilfe, um in der Vergangenheit zu verschwinden. Sie kommt und sie geht immerzu, eben noch da, ist sie gleich schon wieder fort. Aber im Lockdown entsteht wohl automatisch die Sehnsucht, das alles zu beschleunigen, der Zeit auf die Sprünge zu helfen und ihr Beine zu machen. 

Spaziergehen, diese alte, lange vergessene Kunst des Laufens ohne jede Notwendigkeit, aber auch ohne die Eile des vorüberjagenden Joggers, hilft. Und eines Tages wird der erste Tag der Zukunft sein, an dem alle auch so wieder rausdürfen. An diesem Tag kennen wir dann alle Orte um uns herum. Fürchterlicherweise je besser, desto länger es bis dahin dauert.

Samstag, 11. Januar 2020

Ostgold von der Goitzsche Front: Gipfel der Generationen

Pascal Bock und Dieter "Maschine" Birr - Freunde fürs Leben.
Sie sind am selben Tag geboren, wenn auch ein paar Jahrzehnte voneinander entfernt. Als Pascal Bock geboren wurde, war Dieter Birr schon näher am ersten Bühnenabschied seiner Band Puhdys als am Anfang seiner Karriere. Und als Bock die erfolgreichste DDR-Band zum ersten Mal im Radio hörte, hatte die Berliner Musiklegende, die alle nur “Maschine” nennen, sein zweites oder sogar schon drittes Comeback erfolgreich absolviert.

Kennengelernt haben sich der Sänger der Bitterfelder Rockband Goitzsche Front und die DDR-Rocklegende schlechthin schließlich auf der Trabitour der Sachsen-Anhalter einmal längst durch die Republik: Birr, der gerade eine Krebs-OP überstanden hatte, stieg quasi zum Nachwuchs auf die Bühne, der mit "Geh zu ihr" schon vor Jahren einen Klassiker der Puhdys gecovert hatte. Gemeinsam spielten sie dass "Was bleibt", eine tränenselige Ballade, in die an jedem Abend ein bierseliger Chor einfiel. Herzen im Dreiviertel-Takt. Gefühle für Männer.



Gefühle, wie sie auch das neue Goitzsche-Front-Album "Ostgold" wieder und wieder formuliert. Hart, aber herzlich. Roh, aber ehrlich. Nachdenklich im Kampfanzug. Seit die Sänger Pascal Bock, Gitarrist Maximilian Beuster,  Christian „Ulze“ Schulze am Bass und Tom Neubauer hinterm Schlagzeug vor fünf Jahren mit ihrem zweiten Album "...aus Ruinen" signalisierten, dass in der Bitterfelder Pop-Provinz nicht nur  eine kleine Spaßpunkband von vier Freunden musiziert, sondern eine Band, die Hits wie "Die Axt aus der Provinz" und "Der Osten rockt" schreiben kann, hat die Karriere der anfangs wegen ihres Namens ebenso wie wegen ihrer Attitüde angefeindeten Kapelle rasant Fahrt aufgenommen.

Album 3, etwas verschroben "Mo[nu]ment" genannt, landete auf Platz 16 der offiziellen deutschen Charts. Und der Nachfolger "Deines Glückes Schmied" führte zum ersten Mal seit Tokio Hotel wieder eine Band aus Sachsen-Anhalt auf den Spitzenplatz der Hitparade. Schulze, Neubauer, Beuster und Bock gelang das zudem als ersten Sachsen-Anhaltern, die auch tatsächlich im Land wohnen.

Die Musiker, bis auf den später dazugestoßenen Maximilian Beuster allesamt Kumpels seit der gemeinsamen Kindergartenzeit, leben wirklich hier und sie spielen hier, etwa immer kurz vor Weihnachten ihr Weihnachtskonzert in Halle und stets im Sommer  ihr eigenes Goitzsche-Festival daheim am gleichnamigen See vor der Bitterfelder Haustür.

Heimat ist ein großes Wort für alle vier, auch auf "Ostgold", dem neuen Werk, das direkt nach Erscheinen in die Charts marschierte, Max Raabe und Sarah Connor überholte und nur durch die Schlagersängerin Daniela Alfinito darin gehindert wurde, erneut auf Platz 1 zu debütieren. In den neuen Songs geht es um Autoschrauber und zerbrochene Beziehungen, um verlogene Argumente und Luther, Rucksäcke voller Bier und Pfeffi, das mittlerweile auch im Westen entdeckte Kultgetränk einer Band, die sich selbst als Truppe aus "ganz normalen Irren" (Liedtext) bezeichnet. Keine Idole, keine Stars, nur ein paar Jungs auf der Bühne, die Gitarre spielen und singen.

Dieter Birr erinnerte das von Anfang an an die eigenen Ursprünge. „Wir eben auf einer Wellenlänge“, weiß der 75-Jährige, der nach der ersten Anfrage aus Bitterfeld noch meinte, „die junge Punkband und icke, das wird nicht zusammenpassen.“ Tut es aber doch. Wenn Bock und Birr, die Geburtstagszwillinge mit 44 Jahren Abstand, gemeinsam singen wie auf dem Ostgold-Bonustrack "Was bleibt", dann ergänzen sich das zwei Stimmer auf magische Weise: Hier der erfolgreichste Rockstar der DDR, der die Arme selbst beim Singen im Studio ausbreitet. Dort der Sänger der erfolgreichsten Rockband Sachsen-Anhalts, der hauptberuflich noch immer bei einem großen Autohersteller arbeitet und den gemeinsamen Vortrag mit seinem tiefen Bass erdet.

Im Unterschied zum Vorgänger "Deines Glückes Schmied" ist "Ostgold" gelassener, mit weniger Zorn und mehr Zwischentönen aufgeladen. Das Titelstück gibt die Richtung vor: "Wir sind aus Gold / geboren aus einem Guß", heißt es da, "wir sind nicht aus Fleisch und Blut / das einmal sterben muss". Ein Mittelfinger für all die, die an der Band gezweifelt haben, die ihr den Namen nehmen und sie in eine Ecke schieben wollten, in die sie nie gehört hat. "Wir sind immer noch da / auch nach dem zehnten Jahr", singt Bock in "Rucksack voller Bier", einer Hymne, die die alten Zeiten feiert, in denen "elf Leute vor der Bühne" standen und die Gage aus ein paar Bier bestand.

Seit jenem Platz 1 vor zwei Jahren ist das endgültig anders. Die Goitzsche Front hat den HFC mitgerettet, für die Weißenfelser Basketballer gespielt, sie haben Spenden für Suchtkranke und für eine Kinderklinik gesammelt und aus dem toten Goitzsche Festival auf eigene Faust ein jährliches Gipfeltreffen für alle Freunde des Deutschrock der härteren Gangart gemacht. Trotz der "Schwarzen Raben" (Liedtitel), die über der Gegenwart kreisen, ist Optimismus angesagt, ein eigenes ostdeutsches Selbstbewusstsein, das sich nicht bückt und schuldbewusst danke sagt.

Hier singt der andere Osten, wie ihn der Publizist Stefan Krabbes nennt, ein Landstrich, der sich mehr nicht um Fremdzuschreibungen scheren, sondern sich selbst definieren will. Im muskulösen Punkrock der Goitzsche Front splittern die Klischees reihenweise: Bitterfeld entsteht hier als wunderschöne Stadt neu, der verhärmte Osten rockt, es ist Party immer wieder und überall, gute Laune und Pech hat der, der nicht hat, was Bock im gleichnamigen Stück "Meine kleine Welt" nennt.

 „Uns haben immer Leute gratuliert, weil wir angeblich so viel Glück hätten“, hat Bock, den sie in der Band nur „Bocki“ nennen, nach der Veröffentlichung des Albums genannt, dessen Name eine Art Antwort darauf war. "Deine Glückes Schmied" zeigte, dass harte Arbeit das Erfolgsgeheimnis der Goitzsche Front war. "Reingekniet und geackert“, hätten sie immer, vom ersten Tag an, als Maximilian Beuster sich um den vakanten Gitarristenjob bewarb - nach einer Anreise mit dem Moped, weil er erst 17 war und noch keinen Führerschein hatte.

Seitdem heißt Rock'n'Roll hier Doppelschicht: Morgens früh, noch vor der Schicht bei einem großen Autohersteller in Leipzig, Abrechnungen Buchhaltung, Fanbestellungen, Absprachen fürs eigene Festival, dann Spätdienst, Mitternacht nach Hause. Aber, glaubt Bock, „wer zu Hause auf dem Sofa sitzt, der wird nie etwas erreichen.“ Genauso sind sie mit den Hinweisen meist wohlmeinender Ratgeber umgegangen, die mehr oder weniger vorsichtig insistierten, ob ein neuer Bandname den Erfolg nicht grundsätzlich beflügeln könne.

„Weil Osten, Bitterfeld, Sänger mit Glatze und Goitzsche Front, das wäre vermarktungstechnisch ungünstig.“ Sie haben darüber nachgedacht. Und abgelehnt. „Wir wollen echt sein, so, wie wir wirklich sind“, sagt Maximilian Beuster, „und wie könnten wir das sein, wenn wir beim ersten Widerspruch unseren Namen ändern?“

Es geht ihnen nicht um Schönheit, nicht um Stromlinienform und Designerrock für Metropolen. Goitzsche Front macht Musik für Leute, die es mögen, im Gegenwind zu stehen, die vielleicht an sich zweifeln und sich fragen, warum nicht immer alles klappt. "Warum gibt es Krieg, warum macht vieles keinen Sinn, gibt es einen Himmel und wie komme ich dahin?", singt Bock, dessen brachiale Poesie an Vorbilder wie die Toten Hosen ("Pfeffi") oder die Südtiroler Band Frei.Wild erinnert.

"Diese Lieder heilen Wunden" verspricht Bock in "Große Lieder", einem Stück über den Glauben an die therapeutische Kraft von Rocksongs. „Es geht nicht um Talent oder Genie oder ob du gut bist oder schlecht“, hat Maximilian Beuster einmal beschrieben, dessen Gitarrespielen "Ostgold" prägt wie noch kein GF-Album zuvor. es gehe nur darum, zu tun, was man glaubt, tun zu müssen. „Das Leben ist irgendwann vorbei“, hat Pascal Bock damals ergänzt, „dann will ich sagen, ich habe getan, was ich richtig fand.“

Kommende Woche startet die Ostgold-Tour der vier Bitterfelder, die sie bis Anfang März mit 16 Konzerten durch die ganze Republik führen wird.

Sechs Auftritte finden im Osten statt.

Zehnmal rockt der Osten den Westen.

Tourtermine: goitzschefront.de



Mittwoch, 31. Juli 2019

Friedliche Revolution: Die vierte Enteignung der Ostdeutschen


Beim ersten Mal tat es noch weh. Gerade erst hatten die Ostdeutschen nach dem 2. Weltkrieg von ihrer neuen, sozialistischen Regierung Land und Industrie übereignet bekommen, da war alles auch schon wieder fort. Aus den kleinen Bauern wurden LPG-Angestellte. Die Arbeiter traten zwar jeden Morgen in volkseigenen Betrieben an. Die aber gehörten eigentlich nicht ihnen, sondern dem Staat.

Eine Enteignung, der mit dem Zusammenbruch der DDR eine zweite folgen sollte. Glaubten die Menschen in der DDR nach den Monaten der friedlichen Revolution immer mehr, dass sie im Begriff waren, sich die Macht im Land und die Verfügungsgewalt über das vermeintliche Volkseigentum zurückzuholen, machte ihnen die letzte echte SED-Führung im letzten Moment einen Strich durch die Rechnung. Bemüht, noch einmal in den Sattel zu steigen und das Pferd zu lenken, und sei es auch in den Abgrund, öffnete das Krenz-Politbüro die Grenze. Der Mauerfall markierte nicht mehr als die Kapitulation eines Regimes, das sich nicht mehr anders zu helfen wusste als mit Selbstvernichtung, um damit wenigstens noch einmal die Ereignisse zu bestimmen, statt von ihnen bestimmt zu werden.


Der Mut weniger, die Macht vieler


Es war der Schlusspunkt einer Umwälzung, die bis dahin getragen gewesen war vom Mut weniger Bürgerrechtler, deren Vorbild aber immer mehr ganz normale Menschen motivierte, selbst mit auf die Straße zu gehen. Die untergehende SED entmündigte die Bürgerinnen und Bürger, die eben erst im Begriff waren, den aufrechten Gang zu üben, indem sie sich durch die Maueröffnung ein letztes Mal absolute Entscheidungsgewalt anmaßte.

Aus der friedlichen Revolution wurde über Nacht ein Taktieren der Mächte um die deutsche Einheit. Aus den friedlichen Revolutionären, die sich bis dahin gerade als Subjekte der Geschichte neu entdeckt hatten, wurden Objekte, die auf dem Schachbrett des Machtpokers nach dem Ende des Kalten Krieges herumgeschoben wurden. Die dritte Enteignung übernahm dann Helmut Kohl selbst, der die Einheit herbeiverhandelte und den neu zur Party gestoßenen Ostdeutschen blühende Landschaften versprach. Niemandem würde es schlechter gehen, vielen aber besser. Wenn die Ex-DDR-Bürger nur bereit seien, ihr Schicksal in seine Hände zu legen.


Die letzte Bastion


Das letzte bisschen, was den Ostdeutschen danach blieb, war das Bewusstsein, sich selbst aus der eigenen Unmündigkeit befreit zu haben. Aber auch das ist nun vorbei: Im 30. Jahr nach 1989 gehen die Weltbilderklärer der Leitmedien zusehends daran, diese letzte Bastion ostdeutscher Selbstvergewisserung zu schleifen.

Nicht mehr Havemann, Bohley, Templin, Lengsfeld, Köppe oder Führer sollen es gewesen sein, die mit ihrem zivilen Ungehorsam zeigten, dass die SED-Herrschaft angreifbar ist. Und nicht mehr die einfachen Bürgerinnen und Bürger, die durch Demonstrationen, Ausreiseanträge und schließlich auch die anschwellende Botschaftsflucht in den Westen genau in diesen tagen vor 30 Jahren immer mehr Druck auf das spätestens nach der Erkrankung von Erich Honecker im Sommer 1989 komatöse System ausübten, seien verantwortlich für dessen Sturz. Sondern allein die großen Kräfte der Weltpolitik. Washington, der Kreml, Bonner Bemühungen und Gorbatschows Großmut.


Die vierte Enteignung


Es ist die vierte Enteignung, die der Osten jetzt erlebt. War es eben noch der aus Weimar stammende Detlef Pollack, der in der FAZ daranging, „die Mär von den Oppositionellen in der DDR" (Pollack) zu widerlegen, "deren Widerstand gegen die Diktatur zu deren Sturz geführt habe“ und an ihre Stelle einen „Aufstand der Normalbürger“ zu setzen, lässt der frühere Taz-Chef Arno Widmann in einem Aufsatz in der Frankfurter Rundschau nicht einmal mehr das gelten.

„Nicht die Bürgerbewegung der DDR hat das Brandenburger Tor besetzt“, beschreibt der Kolumnist, „der Sturz der Berliner Mauer hatte nichts mit der Bürgerbewegung der DDR zu tun.“ Gorbatschow sei es gewesen, „weil Gorbatschow es doch ernst meinte“ mit der Aufgabe der Breshnew-Doktrin, die den Ostblock bis dahin im Innersten zusammenhielt.

Selbst das bisschen Freiheit, das die DDR-Bürger meinten, sich selbst erobert zu haben, ist nun wieder weg. Widmann, geboren in Frankfurt am Main und später ein Leben lang Westberliner, sammelt ein, was noch an ostdeutschem Selbstbewusstsein übrig ist, nachdem die Einheit aus den ehemaligen Landstrichen der DDR eine Region ohne eigene Eliten gemacht hat..

„Unsere Wende“ nennt der 72-jährige Philosoph, was damals geschah, und er schafft es mit dieser Formulierung, allen alles fortzunehmen: „Unsere“ erklärt das, was war, zur gesamtdeutschen Leistung. Und „Wende“ nutzt den Begriff nach, den Egon Krenz den finalen Monaten des SED-Regimes zu geben versucht hatte, um die Definitionsmacht der SED noch einmal auszuspielen.

Widmann, der kenntnisreiche Westdeutsche, entpuppt sich als einer jener überaus kundigen Experten aus den alten Ländern, die mit ausreichendem zeitlichen Abstand besser als alle Beteiligten wissen, was seinerzeit los war. Kein Volksaufstand, sondern eine Revolution von oben. Keine Selbstbefreiung, sondern ein sowjetischer Gnadenakt.

Diese „Wende“ sei nicht etwa „das Ergebnis eines Lernprozesses“ gewesen, „in dem aus Untertanen selbstbewusste Bürger wurden“, sondern „das Resultat einer weltpolitischen Konstellation, in der die DDR der Bundesrepublik in den überraschten Schoß fiel“. Keine Selbstbestimmung, nirgends, keine Bürger, keine Zivilgesellschaft, keine friedliche Revolution. Alles nur Kulissenschieberei, für Kenner der Verhältnisse früh absehbar: Die Taliban in Afghanistan hatten die große Sowjetunion besiegt, nicht die Bürgerrechtsbewegungen Mitteleuropas. Die waren im Grunde gar nicht beteiligt an "einer weltpolitischen Konstellation, in der die DDR der Bundesrepublik in den überraschten Schoß fiel" (Widmann).



Donnerstag, 11. April 2019

Nach dem letzten Schuss: In der Nie­man­ds­zeit

Zu Ostern 1945 flogen die Alliierten letzte große Bombenangriffe auf Halle, die Stadt  wird in jener Osternacht schwerer getroffen als je zuvor.


Der Berliner Autor Harald Jähner erkundet in senem Buch "Wolfszeit" ein unbekanntes Land: Deutschland zwischen Kriegsende und Staatengründung.

Noch im September, fast sechs Monate nach dem letzten und größten Bombenangriff auf Halle, ist nicht nur die Welt, sondern auch die Saalestadt ein Trümmerfeld. Die Journalistin Ursula von Kardorff beschreibt das Elend, das auf dem Bahnhof von Halle herrscht, mehr als hundert Tage nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht und dem Untergang des Dritten Reiches. "Schaurige Bilder", schildert von Kardorff, die im Krieg zwar für Nazi-Zeitungen geschrieben, zugleich aber Kontakte zum Widerstand unterhalten hatte, "Trümmer, zwischen denen Wesen herumwandern, die nicht mehr von dieser Welt zu sein scheinen".

Die Apokalypse, zum Alltag verlängert. "Heimkehrer in zerfetzten, wattierten Uniformen, mit Schwären bedeckt, an selbstgemachten Krücken schleichend", schreibt die Mittdreißigerin, die das Ende halbwegs glimpflich in Bayern überlebt hat. Überall nur "lebende Leichname", schreibt sie, stolpernd durch eine Zeit, die nicht mehr die alte ist und noch nicht wieder eine neue. Deutschland zwischen Kriegsende und Staatengründung.


Harald Jähner, studierter Historiker und Literaturwissenschaftler und ehemals Feuilletonchef der Berliner Zeitung, besucht dieses Land in der Niemandszeit zwischen 1945 und 1955, die keineswegs die "Stunde Null" war, von der so oft die Rede ist. "Wolfszeit" erzählt den Zusammenbruch nicht als kurzen Moment, sondern als quälenden Prozess. Die Städte liegen in Ruinen, von 75 Millionen Menschen, die in den vier Besatzungszonen leben, befindet sich mehr als die Hälfte nicht dort, wo sie hingehören oder hin wollen.

Doch es gibt keine Transportmittel, diese 40 Millionen Flüchtlinge, ehemalige KZ-Häftlinge, entlassene Kriegsgefangene, Fremdarbeiter und rückkehrwillige Stadtbewohner, die vor den alliierten Bomben aufs Land ausgewichen waren, zurückzubringen. Nicht einmal genug Koffer für alle sind da, obschon die meisten kaum noch eine Habe ihr eigen nennen. Und wer es trotzdem dorthin schafft, wo er sein Zuhause wähnt, findet oft nur Ruinen, Häuser ohne Dach, Räume ohne Wände.

Fast die Hälfte aller Wohnungen in Deutschland sind zerstört, man haust in Gruppen in verbliebenen Zimmern, auf den Bahnhöfen, in Kaufhauskellern. "Doch die verbreitete Vorstellung, Deutschland nach Kriegsende sei ein leeres, unendlich stilles Land gewesen, ist falsch", korrigiert Jähner. Denn überall auf den Straßen zogen Kolonnen entwurzelter Menschen entlang: Sieger und Besiegte begegneten sich aus unterschiedlichen Richtungen kommend, in einer Welt aus Rädern. "Verschleppte fuhren in Lastwagen zurück Richtung Warschau, französische Kriegsgefangene schwenkten die Trikolore, wie ein schmaler Bach rieselte dazwischen die andere Welt, die deutsche Welt, die Welt zu Fuß."

Nichts ist festgelegt in diesen Tagen der Neuordnung, der auch die Alliierten nur mit Mühe und ganz grob eine Richtung geben können. Die Integration der nach Westen strömenden Bewohner der verlorengegangenen Ostgebiete, die später als "Eingliederungswunder" Furore machen wird, ist vor Ort ein Kampf um die raren Ressourcen, der mit allen Mitteln ausgefochten wird.

Es gibt einerseits sehr schnell wieder Theatervorstellungen, Zeitungen, Musik und trotz des grausamen Missbrauchs von hunderttausenden Frauen eine wilde Sehnsucht nach menschlicher Wärme und körperlicher Nähe. Gleichzeitig aber ist der Hunger allgegenwärtig. Plündern und Rauben wird hoffähig und Schwarzmarkthandel gibt denen, die nur schnell, skrupellos und gewitzt genug sind, einen Vorgeschmack darauf, was für Möglichkeiten im Kapitalismus schlummern.

Hans Magnus Enzensberger, damals ein Teenager, ist einer der frühen Profiteure einer auf den Kopf gestellten Welt. Er spricht Englisch und er muss den Alten, den moralisch diskreditierten, zur Hand gehen, damit die verstehen, was Briten und Amerikaner von ihnen wollen. Enzensberger, gerade 16, spielt seine Macht aus: Er tauscht NS-Devotionalien gegen Ami-Zigaretten und erwirbt für diese immer noch mehr Dolche, Orden und Waffen. Im Keller hortet er irgendwann 40 000 Kippen, jede zehn Reichsmark wert. Ein Vermögen, das den Jungen in der kurzen Hose das Lammsein hinter sich lassen wird. Es macht ihn zu einem Wolf, einem der Wesen, die er Jahre später in seinem Dichter-Debüt "Verteidigung der Wölfe" nur halb ironisch vor den Lämmern in Schutz nimmt.

Da ist die Niemandszeit vorbei und die Deutschen haben sich rechts und links der ideologischen Blöcke eingeordnet.

Auf beiden Seiten wird es ihnen bald gelingen, zu den besten Gefolgsleuten ihrer Schutzmacht zu werden.





Mittwoch, 14. November 2018

Blockchain: Wie die DSGVO in Europa die Zukunft beendet hat

Datenverarbeitung im Honecker-Bunker.

Blockchain-Anwendungen gelten als Basis für neue Geschäftsmodelle. Eigentlich. Denn mit ihrer neuen Datenschutzverordnung aber macht Europa die breite Nutzung der neuen Technologie dauerhaft unmöglich.

Mit dem Höhenflug der virtuellen Währung Bitcoin Ende vergangenen Jahres rückte der Begriff Blockchain zum ersten Mal in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit. Das schnelle Geld lockte, der steile Anstieg auf bis zu 20 000 Dollar für einen einzigen Bitcoin verführte viele, auch ein paar Euro auf das zu setzen, was nach Meinung vieler Experten ein Stück Zukunft mitten in der Gegenwart ist.

Allerdings nicht, weil Blockchain-Geld wie Bitcoin, Ethereum, Ripple oder IOTA schnelle Gewinne verspricht. Sondern weil die Technologie, die hinter den sogenannten Kryptowährungen steckt, zahllose andere Anwendungen ermöglicht. Bei jeder Blockchain - zu Deutsch so viel wie „Blockkette“ - handelt es sich um eine Art elektronisches Fahrtenbuch, an dem viele Teilnehmer schreiben. Jeder Nutzer hat Einsicht in alle Transaktionen, die Daten liegen nicht bei einem einzelnen Anbieter wie etwa bei Google, Amazon oder Facebook, sondern auf vielen dezentralen Computern zugleich. Dennoch sind sie nicht manipulierbar, weil jeder später geschriebene Eintrag für die Echtheit aller früheren garantiert: Was einmal in der Blockchain steht, ist nachträglich nicht veränderbar - so wie ein zwei Monate alter Eintrag in einem Fahrtenbuch nicht korrigiert werden kann, weil sich sonst automatisch die Endsumme ändern müsste.

Eine solche Buchhaltung braucht keinen Buchhalter mehr, Überweisungen benötigen keine Bank, die Abrechnung etwa von Stromkosten geschieht automatisch und Mietverträge oder Interneteinkäufe können über sogenannte Smart Contracts geschlossen werden. Die Initiatoren der sozialen Netzwerke minds.com und steemit.com nutzen eine Blockchain, um Facebook Konkurrenz zu machen. Das niederländische Startup Channels dagegen baut einen Messenger auf Blockchainbasis und die Macher von Dtube.com setzen auf ein dezentrales Youtube ohne den Datenhunger des Originals.

Die Blockchain bietet damit die Möglichkeit, das vielkritisierte Datenmonopol der Internetriesen aufzuheben. Zudem: Eine Zensur von Inhalten, die über Blockchain-Netzwerke oder - Messenger verbreitet werden, ist so wenig möglich wie ein Auslesen privater Daten durch Werbenetzwerke oder Behörden.

Ein Ziel, das auch die im März in Kraft getretene neue europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) verfolgt. Ausgerechnet das über Jahre entwickelte Projekt aber droht nun, Blockchain-Anwendungen in der EU für die Zukunft rein  rechtlich gesehen unmöglich zu machen.

Schuld daran ist Artikel 17 der DSGVO, der ein „Recht auf Löschung“ festschreibt. Danach kann jeder Mensch verlangen, dass Betreiber von Internetseiten oder soziale Netzwerke von ihm hinterlassene Daten löschen, wenn er das wünscht. Eine Vorgabe, die sich bei einer Blockchain-Anwendung nicht realisieren lässt, weil jede nachträgliche Veränderung der quasi wie die Steine eines Hauses aufeinandergeschichteten Blöcke den gesamten Bau zum Einsturz bringen würde.

Ein Problem, das der grüne EU-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht „eine besondere Herausforderung für Blockchain-Anwendungen“ nennt, „da hier eine nachträgliche Veränderung von einmal eingegeben Datensätzen nicht mehr möglich ist“. Der 35-jährige Politiker gilt als Vater der DSGVO, er hat die Grundzüge der Verordnung entworfen und sechs Jahre lang für den verschärften Datenschutz gekämpft. Heute verweist er darauf, dass es ja Versuche gebe, „Blockchain-Anwendungen mit anonymisierten Daten oder mit ausdrücklichem Verzicht Betroffener auf nachträgliche Löschungsmöglichkeiten zu entwickeln“. Albrecht gesteht zu, dass das „mit einem besonderen Aufwand verbunden“ wäre, gelänge es denn, eine Lösung zu finden.

Aber bisher gibt es die ohnehin nicht, so dass Albrecht einen Ausweg nur darin sieht, dort, wo nicht gelöscht werden kann, „die Notwendigkeit fortgesetzter Datenverarbeitung zu rechtfertigen“. Die DSGVO lässt es zu, Daten trotz Löschwunsch weiterzuspeichern, wenn eine ausreichende Begründung vorliegt. Damit ließe sich „Recht auf Vergessenwerden“ aushebeln - zumindest, bis Gerichte anders urteilen.

Spätestens dann aber wäre Europa einmal mehr abgekoppelt von einer neuen Entwicklung, die in den nächsten Jahren den Alltag von Millionen verändern wird. Jan Phillip Albrecht allerdings sieht das nicht so dramatisch. Beim Recht auf Vergessenwerden gehe es „ja eigentlich um das De-Indexieren von Suchmaschinenergebnissen“, versichert er.

Personenbezogene Daten, die in einer Blockchain gespeichert werden, seien davon nicht betroffen, liest er aus der DSGVO, was dort nirgendwo steht. Aber besser so, denn bei dezentralen Netzwerken wie Steemit.com fehlt es schon am von der EU-Richtlinie erwähnten „Verantwortlichen“, dem Löschwünsche gemeldet werden müssen.

Sonntag, 21. Oktober 2018

Breshnew, Che und Honecker: Die Rolex-Revolutionäre


Gerade steckt die Berliner SPD-Politikerin Sawsa Chebli in einem veritablen Shitstorm von rechts, weil sie eine Rolex Datejust für 7000 Euro trägt. Dabei hat das bei linken Politikern eine lange Tradition. Am Arm trugen Erich Honecker und Leonid Breshnew, Mao und Fidel Castro am liebsten aus gerechnet diese sehr kapitalistische Uhr.


Nikita Chruschtschow scherte ein wenig aus. Der Mann, der Stalin als Führer der Sowjetunion nachfolgte, entschied sich für den rechten Arm, um seine Uhr zu tragen, weil er glaubte, dass Armbanduhren die Zirkulation des Blutkreislaufs stören. Eine Abweichung von der sozialistischen Norm, die prominenten Führern der Linken den linken Arm für die Uhr vorzuschreiben schien. Und noch eine. Chrutschschow bevorzugte eine Uhr aus sowjetischer Produktion. Viele andere seiner kommunistischen Führungskollegen dagegen setzen auf Produkte einer ganz besonderen und sehr kapitalistischen Firma.

Die Liebe zum Luxus  


Fidel Castro und Che Guevara, Erich Honecker und Leonid Breshnew, sie alle trugen ihre Uhr links, als hätten sie das so miteinander verabredet. Und noch erstaunlicher: Genau wie der rumänische Machthaber Nicolae Ceausescu, der chinesische Revolutionsführer Mao Zedung und sein libyscher Kollege Muhammar Gaddafi entschieden sie sich für Uhren der 1905 vom Kulmbacher Uhrmacher Hans Wilsdorf in Genf gegründeten Edel-Uhrenschmiede Rolex.

Genosse Rolex. Ein größerer Widerspruch zwischen behauptetem Anspruch und Wirklichkeit ist kaum denkbar. Rolex-Uhren gelten bis heute als Statussymbole ohne jedes Understatement: Modelle wie die von Che Guevara anfangs bevorzugten Modelle sind klobig und sie glänzen golden oder silbern, eine drehbare Lünette strahlt zweifarbig und statt auf Lederarmbänder setzt der größte Luxusuhrenhersteller der Welt auf dicke Kettengliederbänder. Rolex steht nicht für Eleganz und Feingeist, sondern für Protz und Prahlerei. Technisch sind die Uhren aus der Schweiz zuverlässig. Geschmacklich aber ein Fall für Rüpel-Rapper, neureiche Sportler und überbezahlte Schauspieler.

Unter 4 500 Euro ist heute keine Rolex-Uhr zu haben, doch auch in der Zeit des Kalten Krieges waren die Schweizer Edeluhren nicht billiger. Fidel Castro trug dennoch gleich zwei - eine Rolex Day-Date, eingestellt auf Kuba-Zeit. Und eine Submariner, eingestellt auf Moskauer Zeit. Die behielt Castro auch um, als er Chruschtschow 1963 in Moskau besuchte. Bilder zeigen den Kubaner an einem Tisch im Kreml sitzend, Chruschtschow gegenüber. Castro hat eine Zigarre im Mund und zwei Rolex am Handgelenk.

Die Liebesaffäre des Revolutionärs mit Rolex hatte wohl schon vor der Revolution begonnen. Als seine Kämpfer dann Havanna einnahmen, ließ der Maximo Lider alle Uhren im kubanischen Rolex-Hauptquartier requirieren. Später beschenkte er Mitkämpfer mit der Beute: Che bekam erst eine Omega Seamaster geschenkt - Wert etwa 10 000 Euro. Später kam eine Rolex GMT Master dazu, heute 25 000 Euro wert.

War es die Geschichte von Rolex, die untrennbar mit dem Pioniergeist des Firmengründers Hans Wilsdorf, dei Guevara faszinierte? 1905, im Alter von 24 Jahren, hatte der in London ein Unternehmen gegründet, das auf den Vertrieb von hochwertigen Uhren spezialisiert war. Wilsdorf aber träumte von einer Uhr, die am Handgelenk getragen werden kann. Die gab es damals, aber sie waren nie genau, dafür aber äußerst empfindlich. Wildorf entwarf dann ein Modell, dasdurch Eleganz und Genauigkeit bestechen sollte. Um die Zuverlässigkeit seiner Armbanduhren unter Beweis zu stellen, rüstete er sie mit kleinen, höchst präzisen Uhrwerken aus, die von einer Schweizer Uhrenmanufaktur in Biel hergestellt wurden. Ein Erfolg, der 1920 dazu führte, dass Rolex seinen Sitz in die Schweiz verlegte.

Rolex-Mania im Ostblock  


Es ist nicht bekannt, ob es Castro war, der die Rolex-Manie in den Ostblock brachte und ob ihn dabei der Gedanke bewegte, dass die Uhren der Marke aus einem neutralen Land kamen.  Vielleicht aber faszinierte den gebürtigen Argentinier auch der Gedanke, dieselbe Uhr zun tragen wie  Albert Einstein, Audrey Hepburn und Charlton Heston, denn Che Guevara verstand sich nicht nur als Revolutionär, sondern als Fackelträger der Weltrevolution. Als er nach Jahren als Geburtshelfer des Aufbaus in Kuba als Anführer seiner eigenen Rebellion der Entrechteten nach Bolivien ging, tat er das ausdrücklich in der Erwartung, dass die Massen sich auf sein Signal hin erheben werden, um den Kapitalismus auf seinem Heimatkontinent hinwegzufegen.

Die Rolex-Sammlung war immer dabei, auch bei Fidel Castro, dem Maximo Lider Kubas, der auch in sachen Rolex richtig dick auftrug. Castro trug nicht eine, sondern gleich zwei Modelle der Genfer Firma, beide am linken Arm. Der Legende nach soll eine Day-Date die Zeit in Havanna, eine Submariner die in Moskau angezeigt haben.

Klar aber ist: Unter den offiziell anspruchlos lebenden Führern der sozialistischen Welt galten teure Uhren stets als lässliche Sünde. Lenin brachte sich aus dem Exil einen Chronometer der Manufaktur Moser mit. Sein Nachfolger Stalin besaß eine Sammlung aus Taschenuhren von Tissot und Cartier. Und Chinas Führer Mao Zedung ließ in die Datumsanzeige seiner Date Just chinesische Zahlen schreiben, um immer up to date zu sein.

In der Führungsetage des sozialistischen Weltreiches war keine andere edle Uhrenmarke so verbreitet wie Rolex. Leonid Breschnew liebte nicht nur schnelle Autos und Ray-Ban-Sonnenbrillen aus den USA, er machte auch die gelbgoldene Rolex Datejust - ein Modell, wie es jetzt Sawsan Chebli trägt - zum Standard für Revolutionäre. Erich Honecker hatte bald eine Uhr vom selben Modell. Als er Breschnew 1979 zur Feier des 30. Jahrestages der DDR empfing, umarmten sich zwei Markenbotschafter: Sowohl Honecker als auch Breschnew trugen eine Rolex Datejust in Gold. 

Saddam Hussein, der Machthaber im Irak, bevorzugte dagegen eine Rolex Day-Date im Wert von 100.000 britischen Pfund, die er nach einer Erzählung seines Protokollchefs eines Tages bei einer Geliebten liegenließ. Als sie ihm sein Mitarbeiter hinterhertrug, zeigte der enigmatische Herrscher, dass es ihm nicht auf persönlichen Besitz ankam. Er schenkte dem treuen Gefolgsmann das Fundstück.

DDR-Staatschef Erich Honecker, der in der Politbürosiedlung Wandlitz in einem vom Staat zur Verfügung gestellten Haus wohnte, das ihm möbliert zur Verfügung gestellt und über fast 30 Jahre nie mit neuen Möbeln ausgestattet wurde, achtete stets darauf, nicht mit derteuren Uhr am Handgelenk fotografiert zu werden. Honecker war sich durchaus bewusst, dass es ein schlechtes Licht auf ihn und seine Herrschaft werfen würde, bekämen die Untertaten mit, dass er Wasser predigt und Wein trinkt. 

Wasser und Wein


Auch seine Yacht mied er, obgleich sie einst der Stolz der DDR-Führung hatte sein sollen. Die "Ostseeland" arn eigens für die DDR-Staatsspitze auf der Peene-Werft in Wolgast umgebaut worden - aus einem Minenräumschiff wurde für 15 Millionen DDR-Mark ein Kreuzfahrtschiff. Erich Honecker aber nutzte die Yacht nur selten - nicht nur, weil es ihm peinlich war, sondern auch, weil er unter Seekrankheit litt.

Allenfalls, wenn es Staatsgästen zu imponieren galt, wie dem rumänischen Diktator Nicolae Ceaucescu oder dem kubanischen Staatsführer Fidel Castro, begab er sich an Bord. Unter zweifelhaften Bedingungen: Das Schiff war nicht nur mit gepanzerten Bullaugen und Luftfiltern gegen chemische Attacken ausgerüstet - jede der 16 Kabinen, außer der Honeckers, konnte abgehört werden. 

Als sie Jahre nach dem Ende der DDR versteigert wurde, zwischendurch war die Yacht in den Besitz einer Reederei mit Sitz auf Malta gelangt, später dann lag sie in den Niederlanden gesichtet, anschließend auf einer schwedischen Werft und schließlich in Dänemark, befand sich das Schiff immer noch im Originalzustand. Die Einrichtung entsprach dem Standard, den die DDR-Führung für luxuriös hielt - kleinbürgerlicher Schick, kombiniert mit der technischen Ausstattung der 70er Jahre, als die DDR kurzzeitig glaubte, ein weltweit führender Industriestaat werden zu können.

Passende Zeitmesser


Die edlen Zeitmesser von Rolex passen zu diesem Anspruch, aber sie passten eben nie zu den nach außen bescheiden lebenden Staatsführer,n der kommunistischen Staaten. Allerdings bekamen sowohl Honekcer als auch Breschnew ihre Rolex-Uhren offenbar von Staatsgästen geschenkt, die um seine Vorliebe für westliche Statussymbole wussten. Honecker konnte später dank der Geschäftstüchtigkeit seines Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski zukaufen. Und ab 1987 gab es sogar in einem DDR-Rolex-Shop Uhren zu erstehen, die vom Hersteller sogar mit dem von Rolex für die DDR vergebenen Ländercode 301 graviert worden waren.

In einem eigenen Laden neben der Rezeption des Grand Hotels in der Berliner Friedrichstraße wurden in der Endzeit der DDR von einem Rolex-Verkaufsagenten im staatlichen Auftrag Rolex-Uhren an Gäste aus dem Westen verkauft. Alle bekamen in die offiziellen Begleitpapiere einen Stempel des Grand Hotels, wie der Uhren-Blogger Walter Castillo herausgefunden hat.

Neben der Rolex Datejust in Stahl-Gold-Ausführung mit Jubileeband war auch ein massives Goldmodell im Angebot, das wohl im Dezember 1989 einen letzten Käufer fand. Danach löste sich das Schalck-Imperium Kommerzielle Koordinierung auf und der Rolex-Laden verschwand mit der Republik, die sich von ihm Rettung aus ihren finanziellen Engpässen versprochen hatte.

Nicht der einzige Liebhaber  


Der einzige Rolex-Träger der DDR war Erich Honecker allerdings nicht. Manfred Buder, Kapitän des DDR-Eishockey-Nationalteams, hatte 1961 bei der Eishockey-WM 1961 in Genf eine Rolex Oyster mit der Registriernummer D64656 als Präsent erhalten, eingepackt in eine Schatulle, die dem Genfer Eishockeystation nachgebildet war. Vor zweieinhalb Jahren landete das kaum getragene Einzelstück bei einem Auktionshaus, das es für 4 000 Euro an den Mann brachte.

Wo Erich Honeckers Rolex geblieben ist, ist hingegen ebenso unklar wie der Verbleib von Castros und Breshnews Edeluhren-Sammlung. Che Guevara soll zumindest eine seiner Rolex getragen haben, als er am 9. Oktober 1967 um 13.10 Uhr im bolivianischen Dschungel hingerichtet wurde. 

Von da an verliert sich die Spur dieser Revolutionsuhr, nicht aber die Spur von Rolex in der Geschichte der Diktatoren, Alleinherrscher und Revolutionäre: Heute trägt der nordkoreanische Machthaber Kim Jong-un eine Rolex, der chinesische staats- und Parteichef Xi schwört auf die Schweizer Uhr und auch IS-Chef Abu Bakr al-Baghdad zeigte sich auf Fotos schon mit Rolex. 

Am rechten Arm, denn so schreibt es der Koran vor.


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Freitag, 21. September 2018

Dean Reed: Genosse Cowboy und der rätselhafte Tod


Als Dean Reed vor 32 Jahren starb, war er fast vergessen. Sein Tod hat seitdem für Spekulationen gesorgt - obwohl der Sänger, der heute 80 Jahre alt werden würde,  freiwillig aus dem Leben geschieden war. Er hatte die Ranch in Texas gegen ein Seegrundstück nahe Berlin getauscht, den Erfolg in den amerikanischen Billboard-Charts gegen Auftritte in der FDJ-Sendung "rund", den Jubel des Madison-Square-Garden gegen den Applaus der Menschen im Arbeiterklubhaus Bitterfeld.

Dean Reed, dessen Leiche ein aufmerksamer Wasserschutzpolizist am 17. Juni 1986 am Schilfgürtel in der Nähe des Badestrandes südlich des Zeltplatzes Nummer 2 am Zeuthener See entdeckte, ließ Zeit seines Lebens keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er stehen wollte. Der Sohn eines Mathelehrers, aufgewachsen auf einer Hühnerfarm in Weath Ridge unweit von Denver/Colorado, sah sich als Sänger des besseren, des moralisch sauberen Amerika. Reed war an der Seite der "fortschrittlichen Menschen" unterwegs, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Sein seltsames Schicksal nahm 1971 seinen Anfang, als der attraktive US-Schauspieler Ehrengast beim Dokumentarfilmfest in Leipzig war - und sich dort für die junge Wiebke erwärmt. Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein, denn schon ein Jahr später heiratet das Paar.

Für den aus Colorado stammenden Sänger, Schauspieler, Friedenskämpfer, Rebell und Frauenschwarm  ändert sich damit das ganze Leben. Dean Reed lebt ab 1972 "als singender Cowboy der DDR" im Arbeiter- und Bauernstaat. Hier wird er viele Jahre später auch sterben - und sein mutmaßlicher Freitod im Jahr 1986 wird noch viel länger geheimnisvolle Gerüchte nähren, die Staatssicherheit habe den Star ermordet.

Dabei war Dean Cyril Reed, mit zehn Jahren auf Wunsch des Vaters an einer Kadettenakademie eingeschrieben, überhaupt nur zufällig Popstar geworden. Als er nach dem Abschluss an der Highschool quer durch die USA fuhr, vermittelte ihm ein Tramper, den er mitgenommen hatte, den Kontakt zum 

Er hatte die Ranch in Texas gegen ein Seegrundstück nahe Berlin getauscht, den Erfolg in den amerikanischen Billboard-Charts gegen Auftritte in der FDJ-Sendung "rund", den Jubel des Madison-Square-Garden gegen den Applaus der Menschen im Arbeiterklubhaus Bitterfeld. Bei den Weltfestspielen in der DDR fühlt er sich geliebt wie daheim in den USA, als alles begann. 

Reed, dessen Leiche ein aufmerksamer Wasserschutzpolizist am 17. Juni 1986 am Schilfgürtel in der Nähe des Badestrandes südlich des Zeltplatzes Nummer 2 am Zeuthener See entdeckt, ließ Zeit seines Lebens keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er stehen wollte. Der Sohn eines Mathelehrers, aufgewachsen auf einer Hühnerfarm in Weath Ridge unweit von Denver im US-Bundestaat Colorado, sah sich als Sänger des besseren, des moralisch sauberen Amerika. Reed war an der Seite der "fortschrittlichen Menschen" unterwegs, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Er war kein Kommunist, aber als Sozialist hätte man ihn in den USA durchaus einordnen können.

Vor allem in Südamerika lieben die Menschen den "Magnificent Gringo", der jedem offen entgegentritt, nicht belehrt, sondern sich lieber belehren lässt. Reed hört zu, er zeigt sich als empathischer Mensch, der an Ungerechtigkeiten leidet, für die sein Heimatland aus seiner Sicht die Verantwortung trägt. Vor aller Augen wird aus dem naiven Country-Sänger ein politisch denkender Künstler, der seinen eigenen Kopf hat. In Peru schreibt Dean Reed seiner Regierung einen Brief, in dem er gegen amerikanische Kernwaffentest protestiert, er freundet sich mit linken Gewerkschaftern an und fährt als Delegierter zum Weltfriedenskongress nach Helsinki.

Der Sänger des anderen Amerika

Danach ist das Leben des jungen Stars
 nicht mehr dasselbe. Er besucht die Sowjetunion und darf dort sogar auf Tournee gehen. Während die Fans in den USA ihn vergessen haben, liegen sie ihm zwischen Moskau und Perm zu Füßen. Reed ist im Osten Ersatz für Beatles und Stones. Schließlich verschlägt es ihn in die DDR, wo er einen Film über Chile vorstellt und sich Hals über Kopf in Wiebke verliebt. 

Es ist der letzte Wendepunkt im Leben des Genossen Cowboy, der in den 13 Jahren bis zu seinem rätselhaften Freitod für die einen zum roten Elvis und für die anderen zum roten Tuch wird. Den DDR-Mächtigen gilt der Seitenwechsler als Glücksfall. Der Amerikaner ist für die DDR ein Propagandacoup. Er 
wird direkt von der Abteilung Agitation des SED-Zentralkomitees betreut und lebt in der DDR ein Leben, das mit der DDR nicht viel zu tun hat. Reed gehört zu den oberen Zehntausend im Arbeiter- und Bauernstaat. Er genießt zahlreiche Privilegien, er kann reisen, er hat Zugang zu raren Waren, an denen es sonst überall mangelt in der Mangelwirtschaft des Sozialismus, der sich selbst als gerechte, klassenlose Gesellschaft lobt.

Der Paradiesvogel im grauen DDR-Kulturbetrieb dreht Filme und spielt Platten ein, besucht Kubas Revolutionsführer Fidel Castro und Palästinenserchef Jassir Arafat. Er dreht das große Rad im kleinen Staat und avanciert nach Ansicht des "People's Magazine" zum "größten Star der Popmusik von Berliner Mauer bis Sibirien". Der Sunny-Boy sonnt sich in seinem Ruf und prominente Revolutionäre suchen seine Nähe. Er bekundet, dass er "im Chile der Unidad Popular eine zweite Heimat gefunden" habe. "Und dieses wunderschöne Land mit seinen wunderbaren Menschen ist mir auch heute noch Heimat. Denn die Zeit der faschistischen Herrschaft über Chile wird vor der Geschichte nur eine Episode bleiben. Aber jedes Gespräch, das ich dort hatte, jeder Händedruck, den ich getauscht habe, jedes Lächeln, das mir zuteil geworden ist - all das ist mir unvergesslich geblieben", schwärmt er.  

Seitenwechsler als Symbol


Bald ist der Seitenwechsler mit dem chilenischen Präsidenten Salvador Allende und mit Palästinenserführer Jassir Arafat befreundet, er protestierte gegen die US-Regierung, gegen Diktaturen und den Vietnamkrieg, verbindet das aber mit Exotik des Countrymusim singenden Amerikaners im DDR-Fernsehen und Star in Defa-Filmen, in denen er etwa im Indianerfilm "Blustbrüder" einen desillusionierten US-Soldaten spielt, der sich nach einem Massaker der US-Kavallerie an einem unschuldigen indigenen Stamm die Barthaare einzeln herausreißt, um wie sein Freund, ein Stammeshäuptling, Indianer zu werden.

Der junge Amerikaner, erstmals aufgefallen, als es ihm gelingt, ein 110-Meilen-Rennen gegen ein Maultier zu gewinnen, weshalb er Probeaufnahmen machen darf, die ihm auf einen Schlag einen lukrativen Sieben-Jahres-Vertrag einbringen, ist wieder ein Star, aber kein kleiner mehr wie daheim, sondern ein großer.

Das wollte  er von Anfang an und anfangs ließ es sc auch gut an. Mit Songs wie "Summer Romance" entert er die US-Hitparaden, bald hagelt es Filmangebote und Touranfragen aus dem Ausland. Dean Reed, von Fans umschwärmt und von den Frauen vergöttert, schwebt durch die frühen Jahre seiner Karriere: Das Leben ist ein Traum, die Welt viel größer, als es von Wheat Ridge aus den Anschein hatte.

Am Ende großer Tage


Doch dann neigen die großen Tage sich dem Ende zu. Zwar findet Dean Reed nach der Trennung von seiner ersten DDR-Frau in der Schauspielerin Renate Blume schnell eine neue große Liebe. Mit der Sommerkino-Klamotte "Sing, Cowboy, Sing" gelingt ihm sogar ein echter Kassenknaller. Der Exotenbonus aber, den der Kommunist mit US-Pass in den 70ern noch genoss, hat sich verbraucht. In den 80ern ist Reed für viele DDR-Bürger nur ein staatsnaher Stetson-Träger, der keine Ahnung vom wirklichen Leben in seiner Wahlheimat hat. Sein Protest gegen die US-Regierung, gegen Diktaturen und den Vietnamkrieg, das Foto mit der Gitarre in der einen und einer Kalaschnikow in der anderen Hand, sie gelten den normalen DDR-Bürgern als Zeichen nicht für Rebellentum, sondern für Opportunismus.

Privat ist Dean Reed auch nicht immer fein. Er hat Geliebte neben seinen Ehefrauen, beim ihnen genießt er die Reste seines Ruhmes.  So lange es ihm selbst gefällt. Als eine von ihnen ihm lästig wird, wirft er aus dem Haus. Die Frau versteht  die Welt nicht mehr, wie sie im Film "Der rote Elvis" erzählt : "Ich dachte, ich spinne - der große Kämpfer für Frieden und Gerechtigkeit in aller Welt schmeißt eine Frau einfach so aus dem Haus."

Er versteht es doch


Der Amerikaner versteht das alles nicht. Und er versteht es doch.  Denn er merkt zunehmend, dass auch in der DDR einiges im Argen liegt. So faucht er 1982 Volkspolizisten laut Protokoll der Beamten an, als sie ihn wegen einer Geschwindigkeitsübertretung anhalten: "Die Staatslimousinen, die mich gerade mit 160 km/h überholt haben, schreibt ihr nicht auf. Das ist ja wie ein faschistischer Staat hier. Ich habe das langsam wie die meisten der 17 Millionen in diesem Land bis hierher satt!"

Fast klingt er da wieder wie der junge Mann, der, am 1. September 1970 vor dem Konsulat der USA in der chilenischen Hauptstadt Santiago die amerikanishe Flagge wäscht. Eine Symbolhandlung, die Reed so begründet: "Die Flagge der USA ist befleckt mit dem Blut von Tausenden vietnamesischer Frauen und Kinder, die bei lebendigem Leibe von dem Napalm verbrannt worden sind, das von amerikanischen Aggressionsflugzeugen aus dem einzigen Grund abgeworfen worden ist, weil das vietnamesische Volk in Frieden und Freiheit, in Unabhängigkeit und mit dem Recht auf Selbstbestimmung zu leben wünscht." Auch sei die Flagge der USA "befleckt mit dem Blut der Schwarzen Bürger der Vereinigten Staaten, die von einer Polizei des Völkermords aus dem einzigen Grund in ihren Betten ermordet worden sind, weil sie in Würde und mit den vollen Bürgerrechten eines Bürgers der Vereinigten Staaten zu leben wünschen."

Der Flaggenwäscher


Die Flagge der USA, gewaschen vor den "Völkern der Welt", das gefällt Dean Reed , der "Blut und Qual von Millionen Menschen in vielen Ländern Südamerikas, Afrikas und Asiens, die gezwungen sind, in Elend und Ungerechtigkeit zu leben, weil die Regierung der Vereinigten Staaten die Diktaturen unterstützt" als seine eigene Verantwortung wahrnimmt. 

Die Liebe der Menschen in der DDR ist flüchtig, Und als sie fort ist, gewinnt er sie nicht zurück. Reeds Platten liegen wie Blei in den Läden. Neue Filmprojekte werden ihm zwar noch angeboten, aber nicht mehr verwirklicht. Dem Mann, der seiner Umwelt ganz amerikanisch stets beweisen wollte, dass er der Beste ist, tut das weh. Dean Reed beginnt zu trinken. Parallel streckt er seine Fühler zu alten Freunden nach Amerika aus, um vorzufühlen, wie es denn wäre, wenn er zurückkäme.

Anfang Juni 1986 erleidet er einen Herzanfall. Kurze Zeit darauf droht er nach einem Streit mit seiner Frau, sich umbringen zu wollen. An einem Tag im Juni 1986 verschwindet er plötzlich. Seine Witwe erinnert sich: Es ist ein Donnerstag, dieser 11. Juni, als Reed sich abends ins Auto setzt, angeblich um nach Babelsberg zu fahren. "Er packte seine Tasche und sagte, er gehe zu den Menschen, die ihn lieben. Dabei gab er jedoch kein konkretes Reiseziel an", berichtigte seine Frau später.  

Nie irgendwo angekommen


Wohin auch immer, nirgendwo ist Dean Reed je angekommen. Am Ufer des Zeuthener Sees bei Berlin wird Dean Reed wenige Tage später tot gefunden, in seinem Lada findet die Polizei erst vier Tage darauf einen 15-seitigen Abschiedsbrief: "Mein Tod hat nichts mit Politik zu tun", schreibt Reed darin, "aber ich kann keinen Weg finden aus meinen Problemen." Dennoch verschwindet das 15-seitige Schrfeiben bis zum Ende der DDR in den Stasi-Akten. 

Aber der Tod war ein Politikum allerersten Ranges. Honecker persönlich, den Reed im Brief ausdrücklich grüßt, gab die Parole vom Unglücksfall aus. Im Westen tauchte die Vermutung auf, die Stasi könnte den Künstler beseitigt haben, weil er plante, in die USA zurückzukehren. Bis heute halten sich Mutmaßungen, der Abschiedsbrief könne von der Stasi selbst verfasst worden sein. 

Reeds Urne wurde erst 1991 in die USA überführt.

Montag, 3. September 2018

Horror: Letzte Schlacht mit Happy End


Die Anerkennung von denen, auf deren Anerkennung er nie Wert gelegt hat, ist spät gekommen. Aber Stephen King, inzwischen jenseits der 70, hat sowieso nicht gewartet auf das Lob des Feuilletons, den National Book Award und die Anerkennung der großen Hollywood-Studios. Also zumindest nicht öffentlich.

King, der sein Debüt „Carrie“ mit Mitte 20 in einem ärmlichen Wohnwagen schrieb, wenn ihm der Brotjob als Englischlehrer Zeit ließ, hat einfach geschrieben, immer weiter, Bestseller auf Bestseller, von einer treuen Fangemeinde weggefressen wie von Säure. 77 Bücher hat King in den letzten 44 Jahren produziert, zuletzt sogar in schnellerer Abfolge als Anfang des Jahrtausends. „Der Outsider“, sein neuestes Werk, ist das neunte neue Buch in den letzten fünf Jahren, nicht mitgerechnet allerlei Kurzgeschichten und Kurzgeschichtensammlungen.

Das ist einerseits so viel Stoff, dass auch dem Meister des milden Grusels allmählich die Sujets ausgehen. Andererseits aber führt dieser Mangel an bahnbrechend neuen Ideen King zum Glück genau dorthin zurück, wo er einst mit „Carrie“ startete und auch später immer wieder seine besten Momente hatte: In eine kleine Stadt, zu einfachen Leuten mit überschaubar komplexen Problemen. Menschen, die sich seit Jahren kennen, die einander vertrauen. Bis eines Tages etwas geschieht, das alles auf den Kopf stellt, was alle bis dahin voreinander geglaubt und gewusst haben.

In Flint City im Bundesstaat Oklahoma, den der erbitterte Trump-Gegner King gewählt haben mag, weil sich hier - im Gegensatz zu seinem üblichen Handlungsrevier Maine - eine Mehrzahl der Wähler vor zwei Jahren für Trump entschied, endet die Normalzeit mit einem grausamen Mord an einem kleinen Jungen. Für Detektive Ralph Anderson kein schwerer Fall: Es gibt jede Menge Zeugen, die den Täter gesehen haben, Fingerabdrücke und DNA-Spuren. In einem Akt demonstrativer Staatsgewalt lässt Anderson den Täter Terry Maitland festnehmen, während die Nachwuchs-Baseballmannschaft des allseits beliebten Familienvaters sich gerade müht, das Halbfinale der Meisterschaft zu überstehen.

1 500 Augenzeugen. Eine Vorverurteilung wie ein Fallbeil. Nichts wird mehr gut werden in dieser Geschichte, die sich liest wie ein Kriminalroman von John Grisham. Denn der angebliche Täter hat ein felsenfestes Alibi, er kann es nicht gewesen sein, weil er unter Zeugen ganz woanders war. Was also ist die Wahrheit? Gibt es überhaupt eine? Oder zwei?

Stephen King spielt mit alternativen Fakten, mit abweichenden Wirklichkeiten und der Wahrscheinlichkeit, dass es zwischen Himmel und Erde vielleicht doch mehr Dinge gibt, als Schulweisheit sich erträumen kann.

Sherlock Holmes Satz „Wenn man alle logischen Lösungen eines Problems eliminiert, ist die unlogische, obwohl unmöglich, unweigerlich richtig“ ebnet den Weg in eine zweite Romanrunde, in der aus der Kleinstadtnovelle um die Geschichte eines zu Unrecht beschuldigten Vorzeige-Amerikaners die - lose - Fortsetzung von Kings Trilogie um „Mr Mercedes“ wird. Zwar ist deren Hauptheld Bill Hodges tot, doch in dessen findiger Ex-Assistentin Holly Gibney findet Ralph Anderson eine - im Kampf gegen den Mercedes-Killer Brady Hartsfield übersinnlich gestählte - Mitstreiterin.

Ein Schlüsselroman über amerikanische Verhältnisse in der Ära Trump, in der die Monster sich verwandeln, die Silhouetten, Gesichter, ja, gar Fingerabdrücke von Nachbarn, Freunden und Verwandten annehmen. Und Realität nicht mehr ist, was wirklich ist. Sondern was sein könnte: Der nette Mann von nebenan ein Killer und Kannibale, seine Frau der Komplize, sein ganzes Leben Fassade. Den Mob, der vor dem Gericht auftaucht, nichts wirklich wissend, aber nach sofortigen Konsequenzen verlangend, könnte Stephen King aus der deutschen Gegenwart abgemalt haben.

Aber letzten Endes schreibt King, der kommenden Monat 71 Jahre alt wird und schon zwei Monate später ein neues, wenn auch recht dünnes Buch namens „Erhebung“ herausbringen wird, weder Detektivromane noch Politthriller. „Der Outsider“ wird hier nicht erklärt oder begründet, er braucht keine Motivation als die, eben das sein zu müssen, was Kings Helden nie sind: Böse.

Was aber ist das Rezept, um diese Schlacht des Guten gegen das Schlechte zu gewinnen, in dem Krieg, den Stephen King in all seinen Büchern beschreibt? Nun, der von Schuldgefühlen gequälte Polizist Anderson, die von ihrem Vorbild verlassene Privatdetektivin Holly Gibney und ihre bunte Schar Verbündeter finden, was heute kaum noch jemand sucht: Glauben, was wahr ist. Sagen, was klar ist. Einander vertrauen und nicht auf die Einflüsterungen derer hören, die ganz andere Interessen haben. Dann gibt es auch ein Happy End. Mit Tränen zwar. Aber bis zum nächsten Mal.

Donnerstag, 26. Juli 2018

The Alarm: Ein neues Kapitel


Rory Macdonald und Mike Peters gingen mit ihren Bands Runrig und The Alarm stets eigene Wege. Im vierten Jahrzehnt drehen der Schotte und der Waliser noch einmal auf.

Es ist eine Stimme aus der Vergangenheit, die da zu vorsichtigen Gitarrenakkorden „Ohoho“ ruft. Rockpalast 1984, Markthalle Hamburg, auf der Bühne vier Männer mit hochtoupiertem Haar und akustischen Gitarren. Eine Band wie eine Mischung aus Robert Smith von The Cure und Bob Dylan, im Mittelpunkt ein blonder Schlacks, der vom „Blaze of glory“ singt und von einem Marsch für die Freiheit.

Der Mann heißt Mike Peters, die Band nennt sich The Alarm. Neben den irischen Kollegen von U2 und den Schotten von Big Country sind die vier Mittzwanziger aus dem Örtchen Rhyl in Wales die Spitze einer neuen Generation von Gitarrenbands inmitten eines Heeres aus Gruppen, die eher elektronische Musik machen. The Alarm zeichnet zudem aus, dass die Gruppe, zu der anfangs auch der spätere World Party-Gründer Karl Wallinger gehört, elektrisch verstärkte Akustik-Gitarren verwendet, um ihren hymnischen und immer wieder auf die walisischen Wurzeln verweisenden Folkrock zu spielen. Eine Gemeinsamkeit, die sie mit den schottischen Kollegen von Runrig verbindet, die ein paar Jahre früher als reine Folkband starteten, später Rockelemente einbauten und wenig später mit dem Album „The Cutter and the Clan“ zum ersten Mal in der Hitparade auftauchten.

Dreißig Jahre und zwei gänzlich gegensätzlich verlaufende Karrieren sind die geistesverwandten 80er-Veteranen zurückgekehrt, auch das aber wieder auf ganz verschiedenen Wegen. Während Runrig sich mit einem Doppel-Album namens „Best of Rarities“ von ihrem Anhang aus sogenannten Riggies verabschieden, schlägt Mike Peters mit dem zwölften Alarm-Album „Equals“ nach acht Jahren Studiopause ein neues Kapitel für die legendäre Band auf. Auf die ersten „Ohohos“ in „Two Rivers“, dem Opener des Werkes, folgen plötzlich elektronische Beats, beim nächsten Song „Beautiful“ klingen US-Punkbands an, ehe das Titelstück balladesk beginnt wie der Bandklassiker „Eye of a hurricane“.

Mit knapp 60 hat sich Peters, Mitte des vergangenen Jahrzehnts zweimal schwer an Krebs erkrankt, noch einmal neu erfunden. Kritisch wie schon seinerzeit mit „Across the boarder“ oder „Hardland“ vermählen Peters, Gitarrist James Stevenson, Bassmann Craig Adams und Drummer Derek Forbes Springsteen-Attitüde und Folkrock-Gefühl. Schmutzig, handgemacht und immer wieder mit unwiderstehlichen Melodien versehen, ist das sechste Album der Ende der 90er Jahre neuformierten Gruppe deren vorläufiges Meisterwerk. The Alarm, einst wie Runrig Vorreiter auch beim Versuch, Rockmusik mit Texten in gälischer und walisischer Sprache zu machen, klingen geerdet, zugleich aber frisch wie eine Newcomerband, die noch Spaß daran hat, Dinge auszuprobieren und ohne Vorfestlegungen draufloszuspielen.

Runrig, seit den allerersten Anfängen in den 70er Jahren die Familiencombo der Macdonald-Brüder, die zeitweise zu dritt im Lineup vertreten waren, versucht dergleichen gar nicht erst. „Best of Rarities“ ist ein Nachruf aus eigener Feder, eine Zusammenstellung von zum Teil wieder gälisch gesungenen Live-Aufnahmen aus den Jahren 1993 bis 2016, aufgehübscht mit einer Neueinspielung des schwergewichtigen Abschiedsstückes „Somewhere“, das besonders gut passt, weil sich Runrig nach 45 Jahren auf der Bühne in diesem Sommer mit einem letzten gewaltigen Open-Air-Konzert verabschieden wollen. „The Last Dance“ überschrieben, sollte dieses finale Konzert im City Park im schottischen 36 000-Einwohner-Städtchen Stirling die Bandgeschichte mit einem letzten großen Hymnensingen beenden. Die Karten für das Konzert am 18. August waren so schnell vergriffen, dass die Macdonald-Brüder ein zweites Konzert am Vortag planen, um dem Andrang einigermaßen beikommen zu können.

Mike Peters jagt derweil noch anderen Träumen nach: Wie in den großen Tagen, als seine Band versuchte, den US-Markt zu knacken, geht der 59-Jährige diesen Sommer auf US-Tournee. Der „Mann in der Tarnjacke“, wie ihn der Filmemacher Russ Kendall in einer abendfüllenden Dokumentation über den Weg zum Ruhm, den Kampf gegen die schwere Krankheit und die Rückkehr auf die Bühne nannte, will es noch einmal wissen. Mit guten Argumenten: Seit Songs von The Alarm immer öfter als Unterlegmusik in Netflix-Serien wie „„Tote Mädchen lügen nicht“ verwendet werden, entdecken neue, junge Hörer das Schaffen der Waliser.

Die ersten Testkonzerte im Mai in New York waren ausverkauft.

Samstag, 26. Mai 2018

Michel Birbæk: Heiße Romance mit Prinz


Das Leben ist hart und der Weltstar tot: Der Däne Michel Birbæk beschreibt in "Das schönste Mädchen der Welt", warum es trotzdem schön ist, da zu sein.

Viel ist nicht übrig vom Ruhm der großen Tage. Ein paar Telefonnummern hat Leo Palmer noch, einen guten Ruf in der Branche und einige Erinnerungen. Aber mit Ende 40 ist der Lack ab. Aus der Zeit, als der begnadete Background-Sänger mit seiner Band "Funkbanditen" kurz davor stand, die Welt zu erobern, ist nur noch die Sammlung von CDs des amerikanischen Superstars Prince geblieben. Der ist für Leo Palmer soetwas wie Jesus, Mohammed und Buddha zugleich. Ein Erretter, Erlöser und Idol, Ratgeber, Tröster und Rhythmusgeber, ein Mann, der in ein Leben voller Alltag glitzernde Diamanten streut und mit seiner Person beweist, was ein Mensch alles sein kann, wenn er will.

Leo Palmer will nur noch mal eine Frau kennenlernen, mit der es länger funktioniert. Ruhelos treibt er sich bei der Rendezvous-App Tinder herum, jeden Tag ein Date, immer mal auch eine anschließende Nacht. Aber Michel Birbæk, in Kopenhagen geboren und selbst anderthalb Jahrzehnte als Musiker weltweit unterwegs, gönnt seinem gefallenen Rockhelden in seinem Pop-Roman "Das schönste Mädchen der Welt" kein Happy End. Als Leo Mona trifft und sich unsterblich verliebt, passiert die Katastrophe: Prince stirbt. Für dessen größten Fan wie für die zersprengten Reste der alten Band ist das ein Schicksalsschlag, gegen den die Apokalypse wirkt wie ein lauer Sommerregen.

Auf einmal ist die neue Liebe nur noch nebensächlich. Auf einmal wird dem altgewordenen Jugendlichen von damals klar, dass Dinge im Leben wirklich zu Ende gehen. Niemals mehr Prince auf Tour. Niemals mehr jung. Niemals mehr Zeit, geradezurücken, was vor vielen, vielen Jahren von einem früheren Selbst verpatzt und verdorben wurde.

Ein Pop-Roman, der in der Sprache lässig ist wie Tommy Jauds Idiotenbücher, damit aber eine tiefere Ebene verbirgt, die weniger zum Lächeln und Lachen ist. Leo Palmer, der eine feste Bindung sucht, seit seine Ehe mit Schlagzeugerin Stella gescheitert ist, geht festen Bindungen aus dem Weg. Nicht noch einmal verletzt werden, nicht noch einmal verletzen können, was man eigentlich liebt - das ist der Plan, nach dem er lebt, ohne ihn selbst zu kennen. Auch die anderen von früher, die sich alle nach Jahren wiedertreffen, um Prince zu betrauern, haben ihre Macken: Der eine kokst und ist selbstmordgefährdet, die andere pleite, der dritte so beziehungsunfähig, dass er mit elf Hunden zusammenlebt. Die Vergangenheit steht zwischen allen und zugleich bindet sie alle aneinander - gemeinsame Erlebnisse sind auf einmal wieder so nah, dass sich auch die Menschen, die aus den Freunden von früher geworden sind, wieder nahekommen.

Keine Romanze, keinen lustigen Bericht von einer bizarren Reise, sondern ein ebenso unterhaltsamer wie nachdenklicher Roman über das, was immer bleibt, hat der seit Jahrzehnten in Deutschland lebende Birbaek geschrieben. Zugleich ist das Buch eine Liebeserklärung an einen der größten Stars, den die Popwelt jemals hatte. Den vor zwei Jahren nach einer versehentlich eingenommenen Medikamentenüberdosis verstorbenen Prince Rogers Nelson hat Buchautor Birbaek selbst zu seinem absoluten Säulenheiligen erklärt, hier steht sein Name für eine Zeit, in der Musik noch handgemacht war, Bands noch auf der Bühne beweisen mussten, was sie können. Und alle, die das taten, jung, schön und voller Energie waren.

Ein Abgesang an eine verschollene Zeit ohne DJs, Computerprogramme und Streamingdienste, verpackt in eine Hymne an die gute alte Liebe. Michel Birbaek gelingt es in seinem fünften Großstadtroman, den Gefühlen und oft komischen Gebrechen einer Generation nachzuspüren, die als erste ganz selbstverständlich mit Rock und Pop und Teenagerliebe aufwuchs, bis heute aber ganz eigene Geister aus dieser so unbeschwert und offen wirkenden wunderbaren Vergangenheit mit sich schleppt. Zwischen Prince-Gottesdienst und zynischem Humor muss das Heimkind Leo Palmer, längst erfolgreicher Tonstudiobetreiber, zurück an den ersten Anfang, um die Chance auf einen zweiten mit dem "schönsten Mädchen der Welt" zu bekommen.

Montag, 14. Mai 2018

Andy Weir: Die Frau im Mond


Mit seinem Debütroman "Der Marsianer" wurde der Amerikaner Andy Weir schlagartig zum Weltstar. Der Nachfolger "Artemis" spielt in einer Stadt auf dem Mond.

Es war eine verzweifelte Idee, die den kalifornischen Softwareprogrammierer Andy Weir mit Anfang 40 beinahe über Nacht zu einem literarischen Weltstar werden ließ. Weir hatte für ein Buch, an dem er lange Jahren herumtüftelte, einfach keinen Verleger gefunden. Und das Werk, das der Frage nachging, was wohl passieren würde, bliebe ein einzelner Astronaut auf einer Marsexpedition allein auf dem roten Planeten zurück, schließlich notgedrungen einfach im Internet veröffentlicht.

Ein Hit. Das Gedankenexperiment faszinierte zehntausende Leser, Weir schraubte hier und verbesserte dort. Und als die großen Verlage schließlich Schlange standen, war aus dem Hobbyschriftsteller schon ein Vorlagengeber für Hollywood geworden: Altstar Ridley Scott verfilmte die Geschichte um den auf dem Mars gestrandeten Astronauten Mark Watney mit Matt Damon in der Hauptrolle. Der Film war weniger als das Buch ein von Mathematik, Physik, Chemie und amerikanischen Pioniergeist gespeistes Wissenschaftsdrama. Aber genauso erfolgreich. Andy Weir kann seitdem Bücher schreiben, so viele er mag. Er ist schließlich eines dieser so selten gewordenen literarischen Wunderkinder, die eine eigene, unverwechselbare Sprache in einer eigenen Nische sprechen - und dennoch ein Millionenpublikum erreichen.

Mit "Artemis", seinem zweiten Buch, wird Weir das zweifellos wieder gelingen. Denn der inzwischen 45-Jährige variiert seinen Stoff nur vorsichtig. Diesmal spielt die Handlung auf dem Erdmond, der zum Zeitpunkt der Ereignisse am Ende des Jahrhunderts besiedelt ist. Artemis heißt die Mondstadt, in der das Mädchen Jazz Bashara aufgewachsen ist und in der sie nun als eine Art Tagelöhnerin lebt. Mit großen Träumen allerdings, denn richtig glücklich ist die Tochter eines auf den Mond ausgewanderten Handwerkers nicht mit ihrer Rolle als Gelegenheitskurierin, die ihren Job hauptsächlich als Tarnung für ein florierendes Schmuggelgewerbe für alles nutzt, was es auf dem Mond offiziell nicht geben soll.

Wie seine Space Opera vom Mars lebt auch Weirs neuer Weltraumthriller von der Faszination der gnadenlosen Begrenzung aller Dinge mitten im unendlichen Kosmos. Es gibt nicht genug Luft, nicht genug Wasser, nicht genug von irgendetwas, weil alles von der Erde heraufgebracht werden muss. Artemis, gegründet unter der Hoheit des Kongo, der Mitte des 21. Jahrhundert durch eine kluge Steuerpolitik zur führenden Weltraumnation wurde, ist weniger Stadt als Dorf. Eine multikulturelle Minigesellschaft am Rande des Niedergangs, weil der Weltraumboom längst vorüber ist, der Erhalt der Anlagen teuer und das einzige Exportgut Aluminium nicht mehr teuer genug.

Eine Welt auf der Kippe, Leben, das mit spitzem Bleistift rechnen muss. Jeder kennt hier jeden, die Staatsmacht wird geduzt. Die halbe Bevölkerung ist zudem in der Reparaturbranche tätig, weil Artemis unübersehbar Abnutzungserscheinungen zeigt. Die fünf durch Gänge verbundenen Kuppeln funktionieren nur durch konsequente Einhaltung von Regeln. Jede Verletzung hat tödliche Konsequenzen, jeder Verstoß muss deshalb geahndet werden.

Was nicht bedeutet, dass Jazz Bashara nicht bereit wäre, auch über die zulässigen Grenzen zu gehen, um sich ihren Traum von Unabhängigkeit und Wohlstand zu erfüllen. Als ein auf den Mond geflüchteter Milliardär sie bittet, ihm mit einem großangelegten Sabotagemanöver gegen die größte Bergbaugesellschaft auf dem Mond zu helfen, um in den Besitz der Firma zu gelangen, zögert sie nicht lange, die Chance zu ergreifen. Nur ein paar kleine Manipulationen, ein paar Sprengungen weit draußen, wo niemand Schaden nehmen kann. Und das Leben ist geritzt.

Es ist dann genau der Andy Weir, den Leserinnen und Leser vom "Marsianer" kennen, der die Ausführung der Aktion schildert, die im luftleeren Raum auf ganz andere Schwierigkeiten trifft als sie das auf der guten alten Erde täte. Jazz Bashara plant vorzüglich, aber der Kosmos hat eigene Vorstellungen: Es gibt einen Mord, ein Mafiakiller taucht auf, die Luft wird dünn und Weirs Heldin muss wie damals Mark Watney auf dem Mars alle Register ziehen, um am Leben zu bleiben. Unter Bedingungen, die es schon zur Herausforderung machen, von einer Kuppel in die andere zu gelangen, wenn man den normalen Verbindungsgang nicht benutzen kann, entwickelt Weir einen packenden Thriller voll überraschender Wendungen, der nichts gemein hat mit Ballerorgien a lá "Star Wars".

Denn hier geht es streng wissenschaftlich zu. Andy Weir hält die Anzahl der Mitwirkenden in seinem Kammerspiel auf Luna überschaubar, die Schauplätze sind es sowieso, auch die Hintergründe der Verschwörung, die Jazz Bashara nach und nach aufdeckt, sind nicht allzu komplex, sondern auch im vollen Lesesog, den Weir automatisch provoziert, leicht zu bewältigen.

Demnächst dann auch wieder im Kino.

Samstag, 21. April 2018

Bell, Book & Candle: Auf einmal auf Deutsch


Zwei Jahrzehnte nach ihrem internationalen Riesenhit "Rescue me" sind Jana Groß, Andreas Birr und Hendrik Röder mit ganz neuen Tönen zurück. Die Band, die bisher immer englisch sang, hat plötzlich deutsche Texte.

Kommen, gesehen werden und ganz hochschießen an die Spitze, das passierte damals, als Andreas Birr und Hendrik Röder sich aufmachten, mit Sängerin Jana Groß in ihre zweite Karriere zu starten. Zu DDR-Zeiten waren Birr - schon hörbar Sohn von Puhdys-Chef Dieter "Maschine" Birr - und Röder, Sohn von Puhdys-Keyboarder Peter Meyer, als "Rosalili" erfolgreich gewesen. Doch der Ruhm hielt nicht über den Mauerfall, die Band löste sich auf.

Der Neustart gelang erst, als Hendrik Röders Freundin Jana Groß den Wunsch äußerte, ihr musikalisch beschlagener Lebensgefährte könne ihr doch mal eine Band zusammenstellen: Bell, Book & Candle. Zwei Jahre probten beide mit dem alten Rosalili-Kollegen Birr. Dann knallte "Rescue me" in die Hitparaden. Und für einen Moment sah es nicht nur für die Plattenfirma ganz so aus, als habe Deutschland wirklich eine neue Pop-Sensation mit internationalen Marktchancen.

Doch wer Jana Groß und ihre Kollegen damals erlebte, wie sie barfüßig, leicht angeschickert und bester Laune durch ein Bierzelt am Ostseestrand rockten, ahnte, dass die Ambitionen des Trios eher nicht auf die Rockarenen der Welt zielten. Verlässlich lieferte das Trio eingängige Pop-Songs auf der Höhe der Zeit. Doch ein Erfolg wie "Rescue me" gelang nie wieder.

Zusammen mit Ingo Politz, der alle Alben von Bell, Book & Candle produziert hat, haben die drei Berliner sich nun noch einmal neu erfunden. Jana Groß hatte früher schon deutsche Texte für die Band Eisblume geschrieben, die Politz ebenso wie die Kollegen von Silbermond produziert. Für das neue Album "Wie wir sind" lässt die Sängerin nun die verbalen Hüllen fallen: Erstmals verzichtet Groß, die alle BBC-Texte schreibt, auf die sichere Verkleidung und den Schutz der fremden Sprache, wenn sie über ihre Gefühle, ihr Leben und ihren Blick auf die Welt singt.

"Wie wir sind" ist eine Platte, die mit dem folklorisierten Pop-Rock der frühen Tage nichts mehr zu tun hat. Statt akustischer Gitarren gibt es hier elektronische Clubbeats, spitze E-Gitarrenriffs, U2-Bässe wie in "Woran glauben wir" und Melodien, in die sich sogar Helene-Fischer-Fans verlieben werden. "Alles ändert sich, alles ändert mich", singt Jana Groß, die nicht mehr an Dolores O'Riordan von den Cranberries erinnert, sondern eher an Stefanie Kloß von Silbermond oder Anna Loos von Silly. Erwachsen klingt sie, eine Frau, die viel erlebt hat und nun Zeit zum Zurückschauen findet. "Es gibt Menschen, die sind Lieder / und du bis ein Liebeslied / deine Worte sind Musik", reimt sie in "Liebeslied" und bei "Déjà-vu" klingt es fast, als sei das Rap, was sie da zu einem stampfenden Rhythmus vorträgt.

Die 49-Jährige, eine imponierende Sängerin sowieso, entpuppt sich hier als originelle Dichterin, die es schafft, klischeefrei über die ewigen Popmusik-Themen zu schreiben. "Wir waren ein Kartenhaus / das kriegt man wieder aufgebaut", heißt es in "Ich bin wie keine", einem Abschiedsschmerzstück, in dem die Betrogene sich "farblos" findet und den Verflossenen warnt, es sich noch einmal zu überlegen: "Sieh mich an / dann wirst du sehen, was ich meine / ich bin wie keine".

Zwei Jahre haben Groß, Röder und Birr an den dreizehn Songs geschraubt, die nun eine Art Neuerfindung ihrer Band nach fast einem Vierteljahrhundert sind. Damals, als alles losging, sei die Entscheidung für englische Texte eine ganz selbstverständliche gewesen, hat Jana Groß erklärt. Musik wie die von Bell, Book & Candle schien ihren Machern selbst unmöglich mit deutschsprachigen Texten.

Als sich dann Jahre später Gruppen wie Juli, Silbermond und Wir sind Helden auf Deutsch vorwagten, schien es dem Berliner Trio nicht angeraten, auf den Zug aufzuspringen. "Aber jetzt war es einfach an der Zeit zu gucken, ob uns was einfällt." Eine richtige Entscheidung, das glaubt Jana Groß jetzt schon. Nie zuvor seien so viele Menschen auf sie zugekommen und hätten sie auf ihre Texte angesprochen. "Die Leute sagen, ich hab das genau so erlebt, wie du das gerade gesungen hast", erzählt die BBC-Sängerin über ihre ersten Erfahrungen mit einem Publikum, das sie versteht. "Da haben wir danach schon gedacht, was wir haben die ganzen Jahre verpasst?

Es war Produzent Ingo Politz, der die drei, die ihre Band einst nach einem Hitchcock-Film benannten, sanft auf die neue Sprachspur schob. Dort sucht Jana Groß nun erfolgreich nach einer gereiften Version der Leichtigkeit des Anfangs, nach Texten ohne Tabus, und Liedern, die vom Leben erzählen, wie es ist: Mit Liebe, Lachen, Tod und Leiden, Kindern und Kerlen und der Hoffnung, dass es Grund zur Hoffnung gibt.