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Samstag, 21. Januar 2023

Josephskreuz im Harz: Der türkise Riese


Es ist nur ein ganz kleiner Berg, auf dem der große Turm steht, von dem aus man weit ins Land blicken kann. Mit einer Höhe von gerade einmal 580 Metern ist die Josephshöhe im Vorharz zwischen Stolberg im Südwesten und Straßberg im Nordosten, offiziell die Südspitze des Großen Auerbergs, nicht einmal der Name, nicht sehr beeindruckend, aber leicht zu besteigen. Vielleicht war das der Grund, warum hier im 17. Jahrhundert ein schlichter Fachwerk-Aussichtsturm mit vier Aussichtsluken errichtet wurde.

Das größte Doppelkreuz der Welt aus Eisen.

Kein Bauwerk, das lange Bestand hatte: 1768 wurde der von Wind und Wetter angegriffene Turm gestürzt, weil er baufällig war und mit Besuchern auf seiner Aussichtsplattform einzustürzen drohte. Interessant, wie es abgerissen wurde: Bergleute, von denen es in der Region viele gibt, haben es untergraben, bis es einfach zusammenbrach. Genau zu der Zeit, als in der Nähe der letzte Wolf des Harzes erschossen wurde.


Damals hat man aus Erfahrung gelernt, dass es etwas Besonderes braucht, um Massen von Menschen anzuziehen. In dieser Zeit wurden vielerorts hölzerne Aussichtstürme errichtet, um Tiuristen anzulocken, aber der Graf Joseph zu Stolberg-Stolberg, ein Mann mit fein entwickeltem Kunstgeschmack, hatte den Plan, in seinem Reich einen Turm von besonderer Schönheit errichten zu lassen.

Die Aussicht von oben ist atemberaubend

Bezüglich Stolberg-Stolberg fragte niemand geringerer als der geniale klassizistische Baumeister Karl-Friedrich Schinkel, ob er eine Idee habe. Schinkel, der die Königswache (Neue Wache), das Schauspielhaus und das Alte Museum in Berlin gebaut hatte, fand die Idee interessant und entwarf einen Turm in Form eines aufrechten vierteiligen rotationssymmetrischen lateinischen Kreuzes, den der Stolberger Zimmermeister Schatz zeichnete aus 365 Eichen waren in den umliegenden Wäldern geschlagen worden.


Aber auch der neue Turm hielt nicht lange. Das Richtfest von Schinkels Holzturm in Form eines Doppelkreuzes wurde am 24. September 1833 gefeiert, aber nicht einmal 50 Jahre später das nach seinem Bauherrn „Josephskreuz“ benannte Gebäude, das keine Treppen hatte und nur stehen konnte kletterte mit Leitern, wurde vom Blitz getroffen. Dann brannte der Turm ab – zum Unmut der Familie zu Stolberg-Stolberg, die nun den Bau eines massiven Turms planten.

1896 wurde es fertiggestellt, diesmal als 38 Meter hohes Bauwerk mit stattlichen 125 Tonnen Gewicht, das von rund 100.000 Nieten zusammengehalten wird. Es dauerte nicht einmal ein halbes Jahr und kostete nur 50.000 Mark, um das unverwechselbare Wahrzeichen auf den Berg zu setzen, das heute das größte aus Eisen gefertigte Doppelkreuz der ganzen weiten Welt ist.


Die mächtige Eisenkonstruktion, die inzwischen zum Anziehungspunkt für hunderttausende Besucher geworden ist, ruht auf einer riesigen Betonplatte, die auch Platz für eine Schutzhalle bietet, die 400 bis 500 Personen Platz bietet. Um zur Aussichtsplattform zu gelangen, müssen Sie 200 Stufen erklimmen, ein schwieriger, aber lohnenswerter Weg. Die Treppen schlängeln sich bergauf, man hört den Atem wie auf einem richtigen Gipfelspaziergang. Der Blick weitet sich immer mehr, man sieht die Nieten und spürt den Wind, der die Konstruktion ein wenig bewegt.



Keine Angst vor einem neuen Zusammenbruch! Zum 100-jährigen Jubiläum 1987 wurde das Wahrzeichen der ganzen Region rekonstruiert, 2003 erfolgte dann eine grundlegende Renovierung. Geblieben ist die einprägsame Farbe des Gebäudes, ein kupfernes Türkis, das einen wunderbaren Kontrast zum Grün der umliegenden Wälder bildet der blaue Himmel über dem Harz. Bei gutem Wetter und klarer Sicht geht der Blick von hoch oben über die Landschaft des Unterharzes bis zum Brocken im Hochharz, der Große Inselsberg ist zu sehen und sogar das 60 Kilometer Luftlinie entfernte Magdeburg, dessen Domtürme deutlich zu sehen sind sichtbar. 

Englisch: Hier

Samstag, 19. Februar 2022

Gegen alle Naturgesetze: Wo das Wasser aufwärts fließt


Es ist sehr schwer zu beschreiben, was man sieht, wenn man in Dulan, Donghe Township, an der Ostküste Taiwans ist. Es gibt einen Parkplatz und danach geht es eine Straße hinauf, auf eine Art und Weise, die man in den Beinen spüren kann. Es geht wirklich nach oben, nur ein paar Meter von der Autobahn entfernt - und der Rest ist ein wahres Wunder. Was uns verblüfft, ist nicht viel mehr als ein schmaler Kanal in der Oberfläche, 40 Zentimeter breit und halb voll mit Wasser.

Aber was für ein Wasser! Wenn man zurückblickt, woher man kommt, sieht man den Parkplatz und den kleinen Hügel - und den Kanal, der nach oben geht. Und das Wasser fließt mit. Wirklich!  

In scheinbarer Missachtung der Gesetze der Schwerkraft scheint das Wasser im 1,8 km langen Bewässerungskanal von Dulan nach oben zu fließen.  Den Hügel hinauf, in einen kleinen Garten auf dem Gipfel. Wer oben angekommen ist, kann auf sein Auto hinunterschauen. Kein Zweifel: Das ist unten. Wir sind oben.

Aber das Wasser ist mit uns den Berg hinaufgestiegen. Neben dem Kanal ist eine Steintafel mit der Aufschrift "Miracle" aufgestellt worden, wegen dieses geheimnisvollen Phänomens, das man für echt hält, wenn man davor steht. Sie können den ganzen Weg entlang des Kanals weiter nach oben gehen, jeder Schritt fühlt sich an wie eine Stufe auf einer Treppe. Aber die Schwerkraft, die Sie spüren, scheint nicht die gleiche zu sein, der das Wasser ausgesetzt ist.

Das Sprichwort "Der Mensch steigt auf, während das Wasser abwärts fließt" gilt überall sonst, nur nicht an diesem Ort der Wunder.


Macht Gott einen Scherz? Oder sind die Naturgesetze außer Kontrolle geraten? Nein, sind sie nicht. Es ist nur eine perfekte optische Täuschung, die Mutter Natur selbst ohne Grund geschaffen hat: Durch die Form des Hügels und die Wege rund um die Szenerie wurde der Schauplatz "Wasser läuft nach oben" geschaffen. Wenn Sie Ihr Smartphone nehmen und den Fall mit Hilfe von Google Maps wie ein Detektiv von CSI untersuchen, werden Sie feststellen, dass die reale Welt Sie und Ihre schlauen Augen fürchterlich täuscht. Das Aufwärts-Wasser geht in Wirklichkeit abwärts, so wie es sein muss.  Nur optisch stimmt das nicht: Der Mensch, daran gewöhnt, sich auf seine Sinne zu verlassen, wird hier von ihnen verlassen.

Es ist eine Sensation. Viele Touristen und Gläubige sind begeistert vom "Qiguan", auf chinesisch "spektakulärer Ausblick". Tatsächlich ist der Neigungswinkel des Straßenrandes, der größer ist als der der Straßenoberfläche, das Geheimnis hinter dieser Illusion in der Nähe des Taitung Coast Highway.

Samstag, 17. April 2021

Zeitreise zu Fuß: Wo der Rost für immer schläft



Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.


Der Eiserne Vorhang, in unserer Zeit eine unsichtbare Mauer zwischen Freunden, Familienangehörigen und Klassenkameraden, hat tiefe Spuren hinterlassen - nicht so sehr in der Landschaft, aber in den Köpfen.   Und in einer Kleingartenanlage in der kleinen Stadt Boizenburg, in die wir uns nach einmal Falschabbiegen verirrt haben. Hier gibt es viele Zäune zwischen den Gärten - und wer den Grenzweg wandert, erkennt in Sekundenschnelle, woher das Geflecht zwischen den Pfählen stammt: Es ist der gute alte Chrom-Nickel-Stahl aus Westdeutschland, der verhindert hat, dass die Ostdeutschen in den Westen stürmten.   


  Nichtrostender Stahl, beste Ware. Ja, ohne Zweifel der haltbarste Zaun, den man bekommen kann, aber sehr teuer, wie Jens uns sagt. Für einen Kilometer Zaun zahlte die DDR 120.000 Mark, der gesamte Zaun kostete sie mehr als 165 Millionen. Und nun ist es ein Gartenzaun in einer Anlage, in der die ehemaligen Boizenburger Werftarbeiter ihre viele Freizeit verbringen, weil sie alle ihre Arbeit verloren haben.   Boizenburg ist nicht mehr die Industriestadt des Kalten Krieges. Die ganze Industrie ist weg, die Werften sind geschlossen. Was seit der Auswanderung der Elbdeutschen und der Ansiedlung anderer Stämme hier ab dem 8. Jahrhundert immer und immer weiter gewachsen war, schrumpft seit Jahren. Mittlerweile liegt schwere Apathie über der Szenerie. Alte Männer und alte Frauen sind auf den Straßen unterwegs, eine heißt „Straße der Jugend“. Sie sehen zu, wie Geschäfte und Fabriken leerstehen, während eine goldene Sonne sich im Wasser der beiden Flüsse Elbe und Boize spiegelt.

     Bis in die 1970er Jahre befand sich auch Boizenburg im direkten Sperrgebiet entlang der innerdeutschen Grenze, nach 1990 war es wieder frei, jetzt hätte es richtig losgehen können. 30 Jahre später hat die Stadt trotzdem tausend Einwohner weniger als 1950. Wir verabschieden uns mit einem Stück knochentrockenem Kuchen vom Salzbäcker an der Bahnhofstraße. Wir müssen jetzt wieder auf den Kolonnenweg. Es sind ja nur noch 100 Kilometer bis zu den Stränden der Ostsee. 


  Im Norden von Zarrenthin, einer kleinen, aber schönen Touristenstadt am Schaalsees, in der wir zur Halbzeit der Tour in einem Edelhotel übernachtet haben, endet jede Zivilisation ziemlich abrupt. Die Stadt hat einige alte Kirchen, ein kleines Kloster und am See ein paar schicke Segelclubs. Abends marschieren Scharen von Touristen über den Puppenstubenmarktplatz.  


 Aber wenn nicht weit außerhalb stolpern wir wieder in ein echtes Outback. 20 Kilometer ist da niemand, kein Dorf, kein Wanderer, nichts. Mitten in Deutschland, einem der am dichtesten besiedelten Länder Europas. Der ehemalige Eiserne Vorhang ist weg, aber irgendwie ist er doch noch da. Denn die Grenze befand sich hier einst in der Mitte des schönen Sees. Der vollkommen unzugänglich ist: Wir planen ein kühles Bad - aber es ist einfach vollkommen unmöglich, irgendwo ans Ufer zu gelangen.     Kein Strand, keine Uferpromenade, nur Dschungel. Erst nach zwei Stunden finden wir endlich den einzigen winzigen Ort, an dem es zum Wasser geht. Leider passiert das, als die Wolken sich dunkel färben und ein kalter Sturmwind aufzieht. 

 

  Also gehen wir so trocken weiter, wie wir gekommen sind. Unser heutiges Ziel ist ein weiterer kleiner Ort namens Kneese, den wir nach fünf oder sechs Stunden erreichen wollen. Unterwegs kommen wir durch Dörfer wie Lassahn und Techin, die im Kalten Krieg natürlich auch ein schweres Schicksal hatten, denn direkt nach dem Weltkrieg beschlossen die Russen und Briten bei einem Treffen in einem kleinen Pub in Gadebusch auch hier, einige Teile ihrer Besatzungszonen auszutauschen. 


Seen, Wälder und schlechte Straßen machten es einfach schwer, die Dörfer in ihrer jeweiligen Zone zu erreichen. Warum also nicht tauschen? Der Kommandeur der britischen Rheinarmee, ein Generalmajor Colin Muir Barber, und der der Roten Armee, ein Generalmajor Nikolaj Lyaschenko, einigten sich bei einem Treff in der Kneipe kurzerhand auf den Austausch von Ländereien und Dörfern.  

 

  Die Menschen, die hier lebten, mussten die Rechnung bezahlen. Die mehr als 650 Jahre alte Grenze zwischen Lauenburg und Mecklenburg wurde am 13. November 1945 im Gadebuscher Restaurant "Goldener Löwe" neu gezogen. Es gab keine Diskussion. Die Leute wurden kurz darüber informiert, dass die Neuaufteilung "endgültig und irreversibel" wäre. Familien, die nicht bereit waren, auf der kommunistischen Seite der Grenze zu leben, hatten 48 Stunden Zeit, um ihre Häuser zu verlassen.Und so wurde gepackt und geladen, Getreide gedroschen und Vieh geschlachtet, Tag und Nacht. Alles musste dann über den Schaalsee transportiert werden, denn die Straßen rund um den See waren russisch besetzt. 

 

  Mit einer Fähre, einem Amphibienauto der Briten und Fischerbooten wurden 309 Pferde und Fohlen, 1.130 Rinder, Schafe und Schweine, landwirtschaftliche Maschinen und Geräte, Getreide- und Tierfutter, Kartoffeln, Rüben und andere Lebensmittel, Möbel, Einrichtungsgegenstände und andere große Gegenstände wegtransportiert. 209 von 238 Einwohnern von Techin verließen ihre Heimat, nur 29 blieben zu Hause.   75 Jahre später wirkt das Gebiet immer noch gähnend leer. Aber immerhin, so sagt ein Schild, gibt es hier eine Feenschule!   Nach einem gewaltigen Marsch, wieder viel länger als gedacht, erreichen wir Kneese, ein Dorf mitten im Nirgendwo, wo unsere Gastgeberin Anke eine vegane Pension namens Forsthof betreibt. 500 Meter von der ehemaligen Todeszone und einer Gedenktafel für den Flüchtling Henry Weltzin entfernt, der 1983 hier erschossen wurde, genießen wir veganes Chili und ein paar Belohnungsbier und legen nach dem Duschen den Kopf auf ein paar schöne, saubere Kissen für die Nacht. 

  Am nächsten Morgen macht Anke Frühstück, dann geht es wieder raus auf den Gegenentwurf zum berühmten "Jakobsweg". Hier trifft man wenig Menschen, es ist eher eine Reise in die Einsamkeit, auf der man leeren Orten, der Natur und vielen Bäumen und Tieren begegnet. Niemand geht diesen Weg, nur wir. Und hinter Kneese wird es noch leerer. Die Landschaft ist nun nicht mehr nur einsam. Sie scheint leer wie die dunkle Seite des Mondes. 


 

Mittwoch, 17. März 2021

Iron curtain trail: Unter der Last der Geschichte

 

Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.


Petra hat sich nach der Wende ein Stück Grenzzaun gekauft und es direkt neben ihrer Apfelplantage aufgestellt. Drei Pfeiler, zwei Zäune, ein Schild "Warnung, Grenze, Einreiseverbot" steht nun neben der alten Schule in Neu Wendischthun, nur wenige Steinwürfe vom Elbufer entfernt. "Ich will allen zeigen, wie es hier früher war", sagt die Frau, die ihr ganzes Leben im Sperrgebiet an der Grenze verbracht hat. Ein unglaubliches Leben: "Dreißig Jahre lang", sagt sie, "habe ich die Elbe selber nie gesehen". Erst als die DDR vor 30 Jahren zusammenbrach, konnte Petra zum Damm hinaufgehen und einen ersten Blick auf den Fluss werfen. "Das war so schön", sagt sie, "weil unsere ganze Familie all die Jahre dort drüben war und wir hier und nicht rüber konnten.“  


Viele weinten, als die ersten improvisierten Boote die Kluft zwischen Ost und West überbrückten. "Und es war klar, dass alle sehr schnell alle Zäune und Türme und Sicherheitssysteme loswerden wollten", sagt sie. Es ging einfach nicht mehr, glaubte Petra. Ehe man sich versah, war alles weg. Keine Wachtürme mehr, keine Zäune, keine Spuren der ehemaligen eisernen Grenze. Schade irgendwie, fand sie.   "Vor allem die Zaunpaneele waren die allerbeste Ware", klagt sie, "Franz Joseph Strauß hatte Honecker dafür einen Milliardenkredit gegeben". 


Petra ist keine Frau, die über den gefallenen Eisernen Vorhang traurig ist. Aber sie will sich und andere an die dunklen Zeiten erinnern. "Es ist vorbei", sagte sie, "aber wir sollten immer daran denken."    Weil Radfahrer und Wanderer fragten, warum denn vom Eisernen Vorhang überhaupt nichts mehr übrig sei, fuhr Petra eines Tages nach Bayern hinunter. "Ich hatte gehört, dass dort jemand Teile des alten Grenzzauns verkauft.“ Und tatsächlich - das fünf Meter breite Stück, das jetzt neben den Apfelbäumen und dem Kinderspielplatz steht, ist aus Süddeutschland importiert worden. 


"Es ist genau die gleiche Art von Zaun, wie er hier bei uns stand", versichert Petra, die es wissen muss, denn sie hat unten im Haus ein kleines Museum eingerichtet. Man sieht Bilder von ostdeutschen Grenzsoldaten, vom Grenzzaun und von den glücklichen Momenten, als die Mauer fällt und die Leute aus der Gegend eine Party am Ufer feiern.   Danach geht es für uns zurück in die Spur, zurück unter die Last und zurück in die ehemalige tote Zone, die heute ein Ort des Lebens, der Natur und seltener Tiere ist. Den riesigen Rucksack hoch, Trekkingschuhe an und wieder geradeaus in den Norden.  


Die Sonne scheint wieder wunderbar und wir finden ein kleines Kaffeehaus direkt am Elbdamm mit einem leckeren Frühstück. Die Radfahrer sind wie immer in Jack-Wolfskin-Scharen unterwegs und die Tische alle voll. "Die Zeiten, in denen alle hier weggehen wollten, sind vorbei", erzählt der Chef des Ladens. Eher kämen Leute zurück. Und die seien jung, sie kauften die alten Bauernhöfe und modernisierten sie. "Es gibt genug Arbeit, aber die meisten fahren in den Westen.", sagt der Mann. Dort verdiene man doppelt so viel wie in Schwerin, der nächstgrößeren Stadt im Osten. "So viel zur deutschen Wiedervereinigung."  


Die Häuser am Wegesrand erzählen jede Menge Geschichten von genug Geld, um Dächer zu decken, Solaranlagen zu bauen und zwei Garagen zu benötigen. Die Natur ringsum sieht aus wie ein einziger Vorgarten, die Vögel zwitschern und die Bauern bieten Äpfel, Honig und Kartoffeln am Gartenzaun an. Seit das gottverlassene Gebiet zwischen Brandenburg, Niedersachsen und Mecklenburg von Touristen entdeckt wird, erlebt es eine  Blütezeit. Kein Gedanke mehr an die schlimmen Jahre, als die Weltmächte an einem Bartisch Poker spielten, wer in die Ostzone eingesperrt werden sollte und wer in Freiheit leben durfte. 


Wir laufen unterm Gewicht unserer Rucksäcke den Kolonnenweg entlang, und Henry, ein Mann, der in Popelau, einem kleinen Dorf am Flussufer, über seinen eigenen Zaun schaut, erzählt uns einen weiteren Teil der Geschichte. Es geschah 1945, als Ost und West zu einer Einigung kamen: Das gesamte Gebiet, das bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zum Landkreis Lüneburg am westlichen Elbufer gehörte, wurde russisch und in einen Teil des Landes Mecklenburg umgewandelt. Das geschah wieder nur aus praktischen Gründen – es gab hier keine Brücke über die Elbe und deshalb Versorgungsschwierigkeiten.

Für alle, die hier lebten, bedeutete das die Wahl zwischen Gefangenschaft und eiliger Flucht. Wer in den ersten 24 Stunden nach der Entscheidung zur Übergabe der Westecke im Osten an die sowjetische Besatzungszone im Juli 1945 nicht packte und ging, wurde bis 1989 zwangsweise in einen Bürger der DDR.   So schön die Natur, so grausam das Schicksal. Wenn die Bauern zu ihren Kühen gingen, passte die Grenzwache auf jeden LPG-Mitarbeiter auf. Wenn die Armee ein Manöver durchführte, waren keine Wachen verfügbar. Niemand durfte zu den Tieren gehen. „Und die Kühe schrien, weil sie nicht gemolken werden konnten“, erzählt uns ein Mann und er zeigt auf die Kühe, die jetzt friedlich auf der Weide stehen.  


Zeiten, von denen niemand etwas weiß, der heute mit seinem Elektro-Fahrrad über den Damm zischt und den frischen Wind, den blauen Himmel und die Natur genießt. Erst nach 40 Jahren fanden in den acht alten West-Gemeinden auf der Ostseite Gemeinderatswahlen statt, und nach der Volksabstimmung wurde der alte Landkreis Neuhaus neu gegründet. Sie alle seien entschlossen gewesen, wieder nach Niedersachsen zurückzuziehen. "Aber das ist auch nicht leicht", hatte Petra uns berichtet, "denn wir sind jetzt nicht hier, aber auch nicht richtig dort".  

Donnerstag, 4. März 2021

Weiter nach Norden: Wanderung durch ein geschlossenes Gebiet


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.

Auf dem weiteren Weg zu einem kleinen Nest namens Wendischthun treffe ich dann meine Vorfahren. Direkt am Ufer der Elbe gibt es einen Ort namens "Konau", knapp vorbei, aber naja. Das Nest ist winzig, kleiner noch als jedes andere auf dem Weg. Nur ein paar Gehöfte, ein paar Scheunen, zwei Hunde. Niemand ist auf der Straße. Aber zumindest ist Konau fast ein Weltkulturerbe - ein Marschlanddorf, das vor Jahren sogar mal Teil der Weltausstellung "Expo" gewesen sein soll, weil hier im Sperrgebiet an der ehemaligen Grenze Blumen, Pflanzen und Tiere überlebt haben, die sonst nirgendwo zu finden sind. 


Es gibt auch eine Ausstellung darüber, die jedoch wegen Corona geschlossen ist. Ebenso wie das Hofcafé, auf das wir große Hoffnungen gesetzt hatten, weil wir unsere leeren Flaschen mit Wasser füllen müssen. So wird der Weg wieder lang und die nächste Pause findet am Elbufer statt, das wie immer verlockend aussieht, aber meist kaum zugänglich ist. Die Weiden sind fast überall abgesperrt, es gibt nie Wege nach unten. Nur hier kommen wir endlich doch mal runter zum Wasser, auf dem wie immer kein einziges Boot, Kanu oder gar Schiff vorbeifährt. Mit Ausnahme einiger Arbeiter mit einem Bagger ist die Elbwasserstraße leer, obwohl vom vielbeschworenen Niedrigwasser nichts zu sehen ist. 


Die Elbe ist aber wirklich idyllisch. Je weiter wir nach Norden kommen, desto mehr weiße Sandstrände gibt es am Ufer zwischen den Buhnen. Sie laden zum Landen, Verweilen und Schwimmen ein. Aber es ist niemand da, der den ruhig fließenden Fluss nutzt, um sich zu entspannen und den malerischen Himmel zu bewundern, der an die Weite des Himmelszeltes in Skandinavien erinnert. Nur leere Orte, niemand da, niemand um uns herum. Deutschlands längster Wanderweg ist einer ganz ohne Wanderer. 

Auf einmal spricht uns aber einer der Radfahrer an, Heinz von Zella-Mehlis, der nicht nur Kilometer sammelt, sondern auch Geschichten auf dem Weg. Er selbst ist auf dem Weg nach Schwerin, hat aber gerade ein bisschen die Richtung verloren. "Mal sehen, wohin es mich führt", sagt er. Heinz hat Zeit, Zeit genug, um sein Rad in einem Tempo neben uns herzuschieben, das er wahrscheinlich für sehr gemächlich hält. Aber Heinz trägt auch keinen Sack Zement als Rucksack, sondern nur ein Notizbuch, in das er auf dem Weg notiert, was am Ende ein Buches über seine Reise werden soll. 


"Habt ihr den Mann mit dem Kinderwagen über den Damm rennen sehen?", fragt er. Ja, das haben wir und wir nicken atemlos. Er sagte: "Da ist kein Kind drin, sondern das Gepäck." Ja wirklich? Atemloses Nicken. Ja! "Er rennt von Dresden nach Hamburg", beschreibt Heinz seine Begegnung mit dem Extremsportler, der an uns vorbeiflog, so dass wir dachten, er sei ein junger Vater, der sein Kind auf seiner morgendlichen Joggingrunde mitnimmt.   Wir erzählen Heinz von Elisabeth, der 70-jährigen Erfurterin, die allein von Travemünde nach Thüringen läuft und die einzige Wanderin gewesen ist, die wir bis dahin getroffen hatten. "Mist, die habe ich verpasst", beklagt sich Heinz und notiert, dass Elisabeth dank ihres kleinen Rucksacks und vieler vorgebuchter Übernachtungen in Pensionen mehr als 25 Kilometer pro Tag hinter sich bringt. Heinz scheint beeindruckt zu sein. Das fahre er etwa mit dem Rad, sagt er. 


Auf dem Deich weiden Schafe, Kühe und Pferde und als wir endlich die Räucherei in Stiepelse erreichen, hängt Kneiper Jürgen gerade das "Geschlossen"-Schild raus.   Das kannst du nicht machen!, beklage ich mich. Jürgen sieht die Rucksäcke und versteht. Natürlich, denn der große, dünne Mann im viel zu weiten Pullover hat eindeutig ein Herz für seltsame Vögel - Heinz ist ja auch schon da. Jürgen hat sein Leben als Musiker verbracht und unter anderem Bass für Udo Lindenberg und Gunter Gabriel gespielt. "Bis zu seinem Tod war Gunter immer wieder hier und trat bei mir auf", erzählt er stolz und Fotos von sich und allerhand Stars. Heinz zückt seine Kamera und staunt. "Sogar Prominente hier", lobt er - "und natürlich meine verrückten Wanderer." 


Die wenden sich nun Wendischthun zu, einem kleinen Flecken, in dem wir unser Zelt in einem Apfelgarten aufschlagen, der wie ein Paradies aussieht. Die Bäume sind grün, die Äpfel rot und Heike, die Chefin der „Alten Schule“, hat sogar kaltes Bier. Nur wenige Meter entfernt baut Kai sein kleines Zelt auf, ein Radfahrer, der aus Dresden kommt. Er ist erst seit drei Tagen unterwegs und hat schon 400 Kilometer weg. Weitere 400 braucht er noch bis Kopenhagen. Ein junger Sportler, sehr cool und trainiert. Bevor wir unser drittes Bier geöffnet haben, schläft er direkt vor uns ein.

Bericht auf Englisch



Donnerstag, 28. Januar 2021

Über die Grenze: Zurück in die DDR


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.


Vorige Folge hier

Zurück auf der Ostseite, die inzwischen im – politischen - Westen liegt, sind die Radfahrer schlagartig wieder da, aber auch die wunderbaren Ausblicke auf die Elbelandschaft. Man hat immer einen weiten Blick in die Auenlandschaft, die aussieht wie eine Gegend aus „Herr der Ringe". Uralte Bäume, kleine Strände, weite Wiesen und alte Häuser mit Strohdächern wechseln sich ab mit Strecken, auf denen der alte Kolonnenweg halb überwachsen neben dem Damm entlangläuft. 

Dass auf der anderen Seite drüben der Atommüll der alten Bundesrepublik vergraben liegt, tief in der Erde, ist nicht zu erahnen. Aber unverkennbar ist, warum er ausgerechnet dort landete, ganz an den Rändern der beiden Länder, die ja nicht ahnen konnten, dass sie sich eines Tages wiedervereinigen würden. 


Kaum jemand lebt hier, nur Menschen wie Erika, die der Liebe wegen nach dem Mauerfall hergezogen ist. Damals musste viel Land neu vermessen werden, erzählt sie, die eigentlich aus Thüringen stammt und dort einen Landvermesser kennenlernte. Die Liebe ihres Lebens, der folgt sie einfach. "Hier haben wir damals genügend Platz für unsere Vermessungsfirma gefunden", sagt sie. 

Niemand wollte in diese Ecke, wo nichts war, nur der Atommüll auf der anderen Elbseite. Als dann eines Tages so ziemlich alles vermessen war, hatte das Ingenieurbüro des Paares nicht mehr genug zu tun. Aber das alte Bauerngehöft direkt am Damm stellte sich als idealer Ort heraus, eine Pension für das neuerdings als unablässiger Strom vorbeirauschende Heer der Radfahrer zu gründen.


"Im Herbst und im Winter ist es hier sehr still", erzählt Erika und am Abend bekommt man einen guten Eindruck davon. Die Sonne versinkt hinter der Elbe und abgesehen von ein paar Männern, die eine Schafherde recht handfest in einen Hänger drücken, um sie auf eine neue Weide zu fahren, ist niemand zu sehen. Eine Idylle im Abendlicht, über der die Blätter leise rauschen, während man seinen Gedanken nachhängt und mit dem Vorgefühl hadert, am nächsten Tag wieder diesen elend schweren Rucksack schultern zu müssen.


Eigentlich hat man sich an die 20 Kilogramm ja gut gewöhnt nach einer Woche. Es drückt nicht mehr immer und überall und alle Gurte sitzen meist am richtigen Fleck. "Dass ihr das durchhaltet, ist ganz erstaunlich", sagt ein Mann, der an diesem Abend mit seiner Frau neben uns auf dem Damm sitzt und den Schafen zuschaut, die sich ein wenig dagegen wehren, in den Transporthänger gedrückt zu werden.

Das Paar ist mit dem Fahrrad unterwegs, eigentlich aber mit dem Auto. "Wir fahren von Pension zu Pension", sagt sie, "und zwischendurch entdecken wir diese ganz unbekannte Landschaft vom Sattel aus." Eine etwas leichtere Variante als unsere, die aber zum selben Ergebnis führt: "Es ist so schön hier wie im Märchen", sagt die Frau.



Samstag, 16. Januar 2021

Corona-Kultur: Spazierengehen gegen die Zeit



Es ist schon ein paar Jahre her, dass der englische Musiker und Dichter Justin Sullivan ein Gedicht über den Moment schrieb, in dem "das Licht im Zeitalter der Vernunft erlischt". In dem Song namens "Here comes the war" gibt es eine Zeile, in der ein Chor "schneller, schneller, schneller" singt - ein Moment, der die Gegenwart bis vor einigen Monaten perfekt beschrieb. 

Bis zu dem Tag, als Corona kam und all die Dinge stoppte, die sich nie ändern würden, wie jeder ziemlich genau wussten Doch dann 2020. Und das Frühjahr, das alles geändert hat.

Eine neue Welt, die ein Politiker später "neue Normalität" genannt hat. Der Mensch ist eingesperrt, das ganze Leben heruntergefahren. Das Land im Ausnahmezustand. Kneipen sind geschlossen, die Städte sind leer wie einsame Wege im australischen Outback. 

Weihnachten war wie nie zuvor - nicht nur ohne Schnee und Frost, sondern ohne Treffen mit Familien und Freunden, ohne Leichtigkeit und Freude und Klingeln. Was geschieht mit einer Gesellschaft, die vom allgegenwärtigen "schneller, schneller, schneller" in einen völligen Stillstand von allem gezwungen wird?

Niemand weiß es, aber alle fürchten dasselbe: Niemals wird die alte Welt mit den gleichen Freiheiten zurückkehren, die es  so selbstverständlich gab, bevor die moderne Pest kam. Jeder spürt es, jeder fühlt es, wenn er seine Ohren und Augen öffnet. Wie still die Künstler sind. Wie verlassen das Land wirkt.  

Eigentlich sind große Krisen immer eine gute Stunde für große Kunst. Diesmal aber fehlen den Dichtern die Worte, den Sängern die Melodien. Es gibt keine Songs über das Virus, keine Filme und keine Bilder. Die Songwriter haben mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen, weil viele von ihnen kein Einkommen haben, seit alle Konzertsäle geschlossen sind. 

Rock'n'Roll ist tot wie die Kinos, das letzte Stück Leben tobt an den Aktienmärkten, an denen die Kurse seit Monaten steigen. 

Aber in den Nebenstraßen der Wall Street hängen nur noch Schatten früherer Tage: Niemand ist unterwegs, niemand gibt Geld für Einkäufe, für Essen, ein Bier oder für einen Kaffee aus.

Die einzigen belebten Orte der Zivilisation sind heute Parks und Wälder. Dies sind die Plätze, an die Menschen gehen, wenn der Tag im Home Office vorrüber ist und die Wände und Bildschirme genug angestarrt worden sind. Und wenn das nächste Wochenende begonnen hat, das abends wieder nur die Wahl zwischen Büchern und Fernsehen bietet, zwischen Musik und Internet. 

Ausgerechnet auf Deutsch gibt es ein wunderbares Wort für diese neue Weltordnung, durch die Menschen ohne Ziel ziehen: "Spanzierengehen" bedeutet Gehen nur zum Zweck des Zeitvertreibs, bewegen, nicht um voranzukommen, sondern um die Zeit zu überlisten.

Die braucht für gewöhnlich keine Hilfe, um in der Vergangenheit zu verschwinden. Sie kommt und sie geht immerzu, eben noch da, ist sie gleich schon wieder fort. Aber im Lockdown entsteht wohl automatisch die Sehnsucht, das alles zu beschleunigen, der Zeit auf die Sprünge zu helfen und ihr Beine zu machen. 

Spaziergehen, diese alte, lange vergessene Kunst des Laufens ohne jede Notwendigkeit, aber auch ohne die Eile des vorüberjagenden Joggers, hilft. Und eines Tages wird der erste Tag der Zukunft sein, an dem alle auch so wieder rausdürfen. An diesem Tag kennen wir dann alle Orte um uns herum. Fürchterlicherweise je besser, desto länger es bis dahin dauert.

Sonntag, 20. Dezember 2020

Wandern in die Vergangenheit: Von wegen sieben Brücken


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.


Vorige Folge: Hier

Der Mensch ist ein seltsames Tier. Er will immer das, was er nicht hat. Und wenn er es bekommt, ist er enttäuscht, marschiert aber weiter, wie Mike Peters von der Band The Alarm singt. Nach einem schönen und sonnigen Spaziergang entlang der Dämme von Hitzacker - schwer sind nur die 20 Kilogramm, die wir jeweils zu tragen haben - stolpern wir heute also in ein Dorf namens Neu-Darchau, direkt am Elbeufer. 


Schon der Name lässt vermuten, dass hier irgendwann einmal etwas passiert ist: Darchau liegt auf der Ostseite der Elbe, "Neu" heißt das hier, weil das mehr als 40 Jahre alte und das neue Darchau voneinander getrennt wurden, als die Elbe zur Grenze zwischen Ost und west wurde. Familien konnten danach nicht mehr zusammenkommen, Brüder konnten einander nicht besuchen, Kinder konnten ihre Eltern jahrzehntelang nicht sehen. Selbst wer von den DDR-Behörden eine Einreisegenehmigung erhielt, musste lange Umwege machen, um die wenigen Meter zum anderen Ufer zu überqueren. Zwischen Darchau im Osten und Neu-Darchau im Westen gab weder eine Brücke noch eine Fähre.

Düsterer Spaß in Neu-Darchau

30 Jahre nach dem Mauerfall und dem Ende der DDR ist zumindest die Fähre da. Aber eine Brücke? Nein. Und das ist besonders merkwürdig, weil die Weltgeschichte sich ausgerechnet hier einen ziemlich düsteren Spaß erlaubt: Wenige Meter hinter Neu-Darchau, das im Landkreis Lüchow-Dannenberg liegt, beginnt der Landkreis Lüneburg, der sich bis Kriegsende bis hinüber auf die andere Elbseite erstreckte. Die Alliierten beschlossen aber der Einfachheit halber, auch hier eine Grenze in der Mitte des Flusses zu ziehen. Alle Niedersachsen, die im Osten lebten, wurden mit einem Federstrich DDR-Bürger. Wenn sie nicht so schnell wie möglich flüchteten.


Wenn man seinen Rucksack durch diese Landschaft aus alten Bäumen, weiten Wiesen und lächelnden Kühen schleppt, bekommt man nie eine Vorstellung davon, wie fürchterlich hier alles noch vor 40 Jahren gewesen sein muss. Erst nach dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung, erzählt Angelika, die in Neu-Darchau lebt, konnten Verwandte und Freunde wieder zusammenkommen. Und nach einer Bürgerentscheidung beschloss der Ostteil des Landkreises Lüneburg dann auch ganz schnell, sich wieder mit seinem früheren Westteil zusammenschließen zu wollen. Leider ohne direkte Verbindung: Außer zwei Fähren gibt es nichts bis nach Lüneburg. "Und deshalb führt für uns im Winter bei Eis und im Sommer bei Niedrigwasser keinen Weg hinüber".


Eine neue Brücke soll also schon lange gebaut werden, eigentlich vom ersten Tag der kleinen Wiedervereinigung an. Aber leider liegt der beste Ort dafür nicht im Landkreis Lüneburg, wie Katrin beschreibt, der in Neu-Darchau lebt und ein entschiedener Brückenbefürworter ist. Sondern in Neu-Darchau, nebenan im Landkreis Lüchow-Dannenberg.  "Ich finde es gut", sagt Katrin, "aber viele sehen das eben anders."

Je neuer, desto dagegener

Vor allem die vielen Flüchtlinge aus den Großstädten Hamburg und Hannover, die sich hier in den alten bundesdeutschen Tagen der Ruhe in der ehemaligen Grenzregion angesiedelt haben, möchten lieber am Ende einer Sackgasse weiterleben. "Dass die Bauern zur Ernte dorthin hinüber müssen, interessiert die ebenso wenig wie die Probleme der Menschen, die zu Niedersachsen gehören, dort aber im Osten völlig abgeschnitten sind", schimpft Katrin.


Deshalb hängen überall in der Stadt Plakate. Keine Brücke! Ja zur Brücke! Seit Jahren gibt es Streit, denn die Zeiten sind vorbei, in denen, wie vor 30 Jahren in Dömitz, Sehnsucht und Entschlossenheit innerhalb von nur zwei Jahren aus dem Nichts eine riesige Brücke entstehen ließen. Heute braucht es unendlich viel Zeit, unendlich viele Auseinandersetzungen, Streit und Zwietracht. Und am Ende wird doch nicht gebaut, Jahr um Jahr.

Also nehmen wir wie alle die Fähre, die hier "Tanja"  heißt, und es dauert fünf Minuten, um den Fluss zu überqueren. Auf der anderen Seite sind wir wieder im ehemaligen Osten, in einem Stück der ehemaligen DDR, das aber jetzt zu Niedersachsen gehört. 

Westen im Ostens., Brüder ohne Brücke. Was für ein verrückter Weg.

Englische Version: Here





Sonntag, 6. Dezember 2020

Iron Curtain Trail: In den goldenen Westen


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land. 
Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen. 




Ja, das muss der goldene Westen sein. Aber leider sieht das Gras auf der anderen Seite der Elbe das Gras nicht grüner aus als im Osten. Wir sind auf dem Weg nach Hitzacker und wir befinden uns mitten in einem Gebiet, das berühmt ist für Atommüll, jahrzehntelange Proteste gegen Atommüll und riesige Polizeiaktionen gegen diese Proteste. Ein gelbes "X" auf vielen Zäunen erinnert an diese Zeit der Angst und der Wut, aber das ist heute alles. 


Gorleben, die wenige Kilometer entfernte Atommülldeponie, ist keine große Aufregung mehr. Nirgendwo gibt es große Aufregung. Das hier ist de Lüchower Landgrabenniederung, ganz altes Grenzland. Mittendurch verlaufen von Menschen festgelegte künstliche Linien, die sich historisch immer wieder veränderten. Die Niederungen sind nass und feucht, oft orienteren sich die Grenzverläufe deshalb entlang diesen geograpfisch vorgegebenen Linien. Nur an wenigen Stellen findet sich eine gefahrlose Furt durch die sumpfige Landschaft, so dass schon im Mittelalter beim Handel über Grenzen hinweg darauf geachtet wurde, vernünftige Trennungen zu ziehen, an denen sich Wege, später aber auch Straßen- und Eisenbahngleise orientierten. 


Erst mit der Teilung Deutschlands wurde die Landgrabenniederung richtig zerschnitten. Durch Flucht und Vertreibung nach dem ll.Weltkrieg verdoppelte sich die Einwohnerzahl in den ländlichen Gebieten beiderseits der Grenze nahezu, in den ersten Nachkriegsjahren blieb aber trotz der neugezogenen Grenze auch die Verbindung zwischen Ost und West erhalten. Die sumpfigen Waldgebiete waren schwer zu kontrollleren und es blühte lange Zeit der Schmuggel in beide Richtungen. Erst später, als drüben der große Zaun gebaut wurde, änderte sich alles, wie uns Walter erzählt, der direkt am Damm auf der Westseite wohnt.


"Eines Nachts wurde ich wach, weil es ganz hell im Zimmer war", sagt er, "und wie aus dem Fenster gucke, sehe ich, dass da drüben eine riesige Baustelle ist." Mit großen scheinwerfern beleuchtete das Grenzkommando den Damm, große Baufahrzeuge errichteten Pfäle und Zaunfelder. Für die andere Seite interessant anzuschauen, für den Osten die totale Abschottung. 


Zwar gibt es in Niedersachsen Schafe und Muttertiere und Füchse, Schlangen, Kühe und Hunde, aber die 20 Kilometer zwischen Dömitz und Hitzacker sind eine lange, ruhige Strecke ohne Berge, Hügel, Wälder oder sonst etwas Aufregendes. Die Radfahrer vermeiden es, hier entlang zu fahren, weil der Radweg hinter der Staumauer verläuft, so dass man nichts sieht, außer grasenden Schafen in der endlosen Schleife, die sich der Weg entlang des Flusses schlängelt.  


Gut für uns Wanderer, denn wir können die frische Luft mit all diesen landwirtschaftlichen Gerüchen einatmen. ein bisschen Kuh, ein bisschen Biogas, ein bisschen tote Schafe. Der goldene Westen riecht wie ein Bauernhof. Und er sieht auch so aus. Nach einem Tag auf einer "langen und kurvenreichen Straße", wie die Beatles gesungen haben, erreichen wir unser Ziel, ein ganz besonderes Lager mit winzig kleinen Holzschuppen namens "Destinature Camp". In den Vororten von Hitzacker, einer Stadt mit fast 5.000 Einwohnern an der Mündung der Jeetzel in die Elbe, haben ein paar Jungunternehmer 18 komfortable kleine Häuslen auf eine Wiese gestellt. Ein paar sind gemütliche Holzhütten, ein paar mobile Einzelbetten mit Zeltdach, so dass man entweder den nächtlichen Sternenhimmel betrachten oder sich eine gemütliche Koje schaffen kann.


Alles - von den Hütten bis zur gemütlichen Bettwäsche - ist aus nachhaltigen Materialien hergestellt und ein Bio-Bistro am Dorfeingang versorgt Sie mit Speisen und Getränken von regionalen Lieferanten. Hier gibt es Kamine, Saunahütten und Whirlpools mit Holzfeuer, und das ganze Dorf bezieht Strom und warmes Wasser aus erneuerbaren Energien - wir befinden uns hier im so genannten Wendtland, einer Gegend, die für ihre Sehnsucht nach Natürlichkeit und Nachhaltigkeit bekannt ist.  All das finden Sie hier, Ruhe für die Füße, Ruhe für den müden Kopf und eine warme Dusche mit französischer Seife. 

Englische Version: Hier