Donnerstag, 26. Mai 2016

Eissporthalle: Der letzte Atemzug eines Toten



Wie ein riesiger Dinosaurier greift der Bagger nach den Metallsäulen. Es knirscht, es kracht. Der Bagger fährt zurück, wieder vor, er zottelt am Dach, drückt gegen die Verstrebungen. Es dauert Minuten, denn die Reste dessen, was einmal Halles Eissporthalle war, wehren sich nach Kräften gegen den Angriff der Abrisskolonne. Doch zwei Außenseiten der 1968 errichteten Halle sind schon weg, gegen eine dritte stürmt das Abrisskommando an diesem trüben Mittwochabend gerade an.

Es staubt und stinkt nach dem Taubendreck von Jahrzehnten, als die Wand fällt. Der letzte Akt einer langen Agonie, die eigentlich schon begann, als die Baupolizei die seit der Wende aufgetaute Halle auch für Chemiepokal, Hallenfußball und Konzerte sperrte. was eben noch Mitteldeutschlands etablierteste Veranstaltungsarena war, stand tot in der Landschaft herum. Statt Rammstein, Jethro Tull und Brian May traten nur nur Schrottdiebe auf. Das einzige Interesse der Stadt war es, das ehemals als offene Eisfläche gebaute Gebäude loszuwerden.

Es waren dann zwei ehemalige Eishockeyspieler, die dem Eissport in Halle wieder Leben einhauchten. Nicht mehr ganz so wie früher, als Dynamo Berlin hier eine Siegesserie im Europapokal hingelegt hatte. Aber was mit ein paar Alt-Internationalen anfing, die noch einmal ihre stockigen Dresse überzogen, endete nach ein paar Pleiten und Vereinsneugründungen schließlich mit den Saale Bulls, die sich im Mittelbau der deutschen Eishockey-Ligen etablierten.

Nicht erst als im Sommer 2013 die große Flut kam, knirschte es hinter den Kulissen. Die Kosten für den Unterhalt der Eissporthalle ließen den Eigentümer Stadt und die Pächter Busch und Werkling immer wieder aufeinanderknallen. Über abenteuerliche Rechtskonstruktionen wurde versucht, den Clinch um Nebenkosten und Zuschüsse dauerhaft beizulegen. Vergeblich.

Das Hochwasser brachte nun die Chance für einen Neuanfang ohne vertragliche Altlasten. Dazu wurde die Halle zu einem "wirtschaftlichen Totalschaden" - wirtschaftlich, weil das Gebäude von Näherem betrachtet auch für Gutachter nicht wie ein Totalschaden aussah. Aber es lohnt eben nicht, ein altes Auto zu reparieren, wenn man für - so die beiden Pächter - ein zehnmal mehr Geld auch ein neues bekommen kann.

Zumindest nicht, wenn das Geld kein eigenes ist. Und im Falle der Eissporthalle sprudelten die Fluthilfequellen. Selbst das Angebot eines Klettervereins, die Halle zu übernehmen und trocken als Kletterhalle zu betreiben, musste abgelehnt werden: Bedingung für eine Übernahme von Abriss- und Neubaukosten aus dem Nottopf für Hochwasserschäden ist es, dass dort, wo bisher eine Halle war, danach keine mehr steht.

Was bleibt, sind die nostalgischen Erinnerungen derer, die hier früher Eislaufen gelernt haben. Die zum unvermeidlichen "Weißes Boot" von den Roten Gitarren beim öffentlichen Eislaufen verbotene Bandenhasche gespielt haben. Die mit der in Halle üblicherweise nur „Eishalle“ genannten Eissporthalle Konzerterlebnisse, Jugendsünden und Boxtriumphe verbinden.

Das Dach ist schon weg, zwei Seitenwände ebenso. Die Eissporthalle ist wieder, was sie ganz zu Anfang war, eine nach oben offene Betonfläche. Es ist 18.20 Uhr, als dann auch die vorletzte Seitenwand fällt. Noch mehr Metallschrott stürzt auf den Berg aus Beton, Glas und Eisen, der übrigbleibt, wenn Geschichte planiert wird.

Ende Mai soll der Abriss abgeschlossen sein.


Dienstag, 24. Mai 2016

Starkregen - ein noch relativ neues Phänomen in der Menschheitsgeschichte



Vor 1957 war er nicht aktenkundig, es finden sich keinerlei Spuren in Archiven, die belegen könnten, dass es das Phänomen "Starkregen" vor der ersten Erwähnung in der ostdeutschen Tageszeitung "Freiheit" gegeben hat. Ein populärwissenschaftlicher Text zu meteorologischen Fragen erst macht dann den "großtropfigen Starkregen" (Zitat) bekannt. Der seitdem von Halle aus einen Siegeszug sondergleichen angetreten hat.

Wie der Begriff "Starkregen" entstand

Freitag, 20. Mai 2016

Klassentreffen: Eine deutsche Geschichte


Sechs Jahrzehnte, vier Währungen, drei Systeme: Der Abgangsjahrgang 1949 der Dorfschule Holleben trifft sich regelmäßig.


In welchem Jahr das war, das weiß Renate Andreß auch nicht mehr so genau. Kann sein, damals beim allerersten Mal, als sie alle noch nicht richtig wussten, wie das überhaupt werden würde. Kann sein, es war später, als die Stasi schon nicht mehr vom Nachbarzimmer lauschte, was im Saal nebenan gesprochen wurde. In dem Jahr jedenfalls erzählte Gerhard Demigkeit, den sie ganz zuletzt gefunden hatten, dass ihm beim Lesen eine Träne auf den Brief mit der Einladung gefallen sei. Renate Andreß, eine Frau mit entschiedenem Auftreten, muss beim Erzählen schlucken. Der Gerhard, das ist doch so ein großer Kerl, sagt sie. Aber das hier ist ja auch so eine große Geschichte.

Die Geschichte der Schüler einer ganz normalen deutschen Schulklasse, Jahrgang 1941. Eine deutsche Geschichte. Als Hitler gerade an die Macht gekommen war, wurden sie geboren. Als der Führer die Welt in Brand setzte, feierten sie Einschulung. Über die nächsten Jahre, die Renate, Horst, Albert, Gretchen und die anderen in der Dorfschule in Holleben verbrachten, wurden die Klassen immer größer, weil der Lehrkörper mit jeder Schlacht im Osten schrumpfte. Der Krieg brauchte auch Lehrer als Futter für die Front. "Zu Kriegsende waren wir 47 in einer Klasse", erinnert sich Stefan Baumgärtner, der in Serbien geboren wurde und 1944 als Flüchtlingskind in den Saalkreis kam. Fünf Jahre später, als die Bundesrepublik und die DDR gegründet wurden, feierten die Achtklässler aus Deutschlands zweitältester Dorfschule Kommunion. Und Abschied vom Klassenzimmer neben der alten Dorfkirche.

Für die meisten war es auch ein Abschied von den Freundinnen und Freunden der Kinderjahre. "Nur acht von uns", zählt Renate Andreß, "sind hier geblieben". Wie unter dem Brennglas zeigen die Lebensläufe des Abschlussjahrgangs 49 deutsche Geschichte. Sieben Mitschüler gingen in den Westen. Eine verschlug es nach Übersee. Die meisten anderen verstreuten sich über die ganze DDR.

Es sind die in der alten Heimat Zurückgebliebenen, die Anfang der 80er Jahre beginnen, nach den Spuren der Freunde von früher zu suchen, um zum nächsten Jubiläum der letzten Zeugnisausgabe ein Klassentreffen zu organisieren. Es gibt kein Internet, keine Adressbücher und keine Telefonauskunft, die weiterhelfen kann. "Also haben wir einfach überlegt, wer noch Verwandtschaft hier in der Nähe hat", erinnert sich Renate Andreß. Holleben ist ein kleines Dorf, in dem die Menschen einander traditionell nicht wie anderswo Siegfried Stedtel, sondern "Stedtel-Siegfried" nennen. Jeder hier kennt jeden, und jeder weiß von irgendwem irgendetwas. "Die Jungs hatten ja auch alle noch denselben Namen, da war es eigentlich einfach."

Auch die meisten Mädchen, damals schon Frauen um die 50, sind nach monatelangen Recherchen gefunden. Verwandte in der DDR haben die Adressen derer, die in den Westen gezogenen sind. Die wissen dann manchmal die von denen, die keine Verwandten mehr in der DDR haben. Und Gerhard Demigkeit, von dem monatelang einfach keine Spur auftauchen will, wird durch ein Missverständnis doch noch gefunden: Weitläufige Verwandte des Verschollenen berichten, dass "der Gerhard doch im ZDF Reklame für Persil" mache. Renate Andreß muss sich im Büro der BHG einschließen, um beim Westfernsehen in Mainz anrufen zu können. Dort ist kein Gerhard Demigkeit bekannt, der Persil-Werbung macht. Nur ein Herbert. Der Bruder. Geschafft. Der zweite Anruf, diesmal beim Gesuchten selbst, dauert nur ein paar Sekunden: "Renate, ich komme", sagt Gerhard Demigkeit, dann ist der Draht von Ost nach West auch schon wieder tot.

Die Geschichte der Suche der Kinder von einst nacheinander ist so ein Spiegelbild der deutschen Geschichte mit all ihren Wirrnissen und Irrwitzigkeiten. Es ist der Beginn der 80er Jahre, die Zeit von Nachrüstung und Atomangst. Der Kalte Krieg bläst einen letzten eisigen Hauch übers Land. Das erste Wiedersehen nach 35 Jahren wird ein tränenfeuchter Tag unter einem drückenden deutsch-deutschen Himmel. Horst ist da, der als Tischler arbeitet. Hans, der Landwirt. Hilmar, der Seemann. Der andere Horst von der Feuerwehr, Albert, ein Gerüstbauer, Inge, die Schneiderin und Renate von der BHG. Die einen kommen im Trabi, die anderen im Mercedes. Der Kofferraum des letzteren ist voller Apfelsinen. "Jeder Mann bekam einen Schlips, jede Frau eine Strumpfhose", amüsiert sich Renate Andreß.

Deutsche Lebensläufe, die von einem gemeinsamen Punkt auseinanderstreben, um sich am Ende doch wiederzubegegnen. "Wir hatten damals Auflage, dass die Westautos nicht vor der ,Friedenstaube´ stehen dürfen", erzählt Dieter Andreß, der seiner Frau bei der Organisation hilft, "und es durfte keine Heino-Musik gespielt werden."

Aber es ist egal. Sogar Christa, die schon so lange in den USA lebt, ist gekommen. Der Pfarrer feiert einen Gottesdienst mit den Kindern, die zum Konfirmandenunterricht immer eine Kohle hatten mitbringen müssen, damit es ein bisschen warm wurde im Zimmer. "So ein glücklicher Tag", sagt Renate Andreß, und ihre Augen sind feucht.

Seitdem sind sie einander nicht mehr verlorengegangen. Regelmäßig feiert der Hollebener Abgangsjahrgang 1949 Wiedersehen, während die Zeit vorüberzieht. Im letzten Jahr der DDR forderte schon niemand mehr, dass sie sich eine Bescheinigung beim Schuldirektor holen, damit bestätigt ist, dass sie wirklich eine ehemalige Schulklasse und kein Ost-West-Fluchthilfeverein sind. 1994, als die Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse auch die Abgangsjahrgänge 48 und 50 dazubitten, sitzen dann endlich auch keine Stasi-Männer mit Fasslimogläsern mehr lauschend in der Kneipe. Später waren ein paar Mitschüler sogar drüben bei Christa in Michigan. Und die Neu-Amerikanerin hat ihre Enkeltochter mit nach Holleben gebracht. Die spricht zwar nur Englisch, so dass Renate Andreß eigentlich kein Wort versteht. Aber inzwischen sagt sie trotzdem Tante zur Schulfreundin ihrer Oma.

Nur die "Friedenstaube", in der früher gefeiert wurde, ist zum 60. Jahrestag des Schulabschlusses, nicht mehr da. Eine zerfallene Ruine der Dorfkneipe nur ist übrig, wie ein Symbol von allem, was unterwegs zum diamantenen Jubiläum des Klassentreffens auf der Strecke bleiben musste. Da waren vier Systeme und vier Währungen. Da war ein heißer und ein kalter Krieg, da waren Mauerbau und Mauerfall. Nach alledem stehen hier nun drei Dutzend 75-Jährige mit weißem Haar, mit Stöcken und Falten, neben ihrer alten Schule, aus der längst ein Wohnhaus geworden ist. Und sie sind Freunde immer noch und immer wieder, und sie herzen und scherzen miteinander, als hätte die Schulglocke eben erst zur großen Hofpause geklingelt.

Dienstag, 17. Mai 2016

70 Jahre Lindenberg: Der Udonaut als Phönix


Kurz bevor es zu spät war, bemerkte der zuständige Oberleutnant Müller aus der Hauptabteilung XX der Staatssicherheit seinen Fehler doch noch. Es gibt gar kein "Grohnau" in der BRD, in dem der "Orchesterleiter" Udo Lindenberg geboren sein könnte! Müller, offenbar in Eile und ohne Tipp-Ex, strich das überflüssige "h" auf dem Befehl zur Fahndung nach dem Hamburger Musiker kurzerhand durch.

Ja, "Gronau" muss es heißen, das weiß knapp fünf Jahrzehnte später jeder. Gronau, ein Städtchen im münsterländischen Kreis Borken, ist das Graceland der Udo-Verehrung, der Ort, an dem alles begann. Die Rampe, von der der Udonaut, der heute seinen 70. Geburtstag feiern wird, einst in den Pophimmel startete. Das war vor genau 45 Jahren, als Udo Gerhard, der jüngere der zwei Söhne von Hermine und Gustav Lindenberg, nach Jazzexperimenten mit Klaus Doldinger von seinem Schlagzeugstühlchen aufstand und zu singen begann. Schon ein Jahr später hatte er mit "Hoch im Norden" einen Klassiker geschaffen. Und sich die Figur der schnoddrigen Deutschrockdrossel erfunden, als die er seitdem selbst zum Klassiker wurde.

Heute ist Udo überall. Politiker loben, Kollegen schätzen, das Publikum liebt ihn. Udo ist der Mann, auf den man sich einigen kann. Alte Fans klampfen "Cello", jüngere feiern "Mein Ding". Der Rest huldigt ihm durch einen Besuch im Musical "Hinterm Horizont".

Und doch bleibt Lindenberg, der sich seit Jahren in einer Schutzrüstung aus Fliegenbrille und Cowboyhut versteckt, ein Mann, der nicht zu fassen ist. Wenn er spricht, klingt er wie ein Udo-Imitator. Wenn er angetrunken über die "Wetten, dass..."-Bühne wankt, dreht der wahre Lindianer sich betreten zur Seite.



Die Kunstfigur aber, in der der wahre Udo steckt, der auch nicht mehr viel anders tickt, verträgt das. Lindenberg, als Sänger limitiert und als Musiker weder Bach noch Beethoven, war ganz oben und ganz unten und am Ende doch immer wieder da. In den engen Spandexhosen, mit dem Gehrock, das Mikrophon wirbelt an der Schnur herum und der Mund, unverwechselbar wie der von Mick Jagger, nölt etwas von "Neugier-Detektiv" und "Fredies aus der Berufspolitik" und wie er mit seinen "Jungs aus der Phantasterei" da ganz kräftig dagegenhalten werde.

Wer Lindenberg für eine Karikatur hält, unterschätzt den großen alten Mann der deutschen Popmusik. Hinter den flotten Sprüchen im selbstausgedachten Kinderzimmeridiom versteckt der Freizeitmaler und Kräuterzigarettenraucher messerscharfe Analysen der Gegenwart. Er erlebe derzeit eine "Zeit von leichter Ablenkung und großer Müdigkeit, wo das Make Up wichtiger ist als der Song", analysierte Lindenberg vor Jahren. Die Medien hätten da "ein Leichentuch der Unbildung über das Land gezogen, unter dem schon ein deutscher Liedtext im Radio als intellektuelle Zumutung" gelte, nuschelt er, als lasse sich der gallebittere Inhalt leichter schlucken, wenn er ihn beiläufig verabreicht.

Ein Intellektueller im Zwirn des Eckenstehers, ein Philosoph, getarnt als Unterhaltungskünstler. Lindenberg, der bis jetzt jeden Sonntagabend die Titelmelodie des "Tatorts" in die deutschen Wohnzimmer trommelt, hat mit allen zusammengearbeitet, die in der deutschen Rockmusik Rang und Namen haben. Er spielte mit Inga Rumpf, er entdeckte Ulla Meinecke, entwarf mit Peter Zadek die "Dröhnland-Sinfonie", kandidierte mit der Panik-Partei für den Bundestag, vertonte Bert Brecht, protegierte Nena, half den Prinzen, sang mit Nina Hagen und Peter Maffay.

Wer im Lande Deutschrock wandert, findet allenthalben Wegzeichen, die zu Lindenberg weisen. Die Lederjacke, die er einst Erich Honecker schenkte, liegt im Museum in Rostock. Die Rechte an wunderlichen Kunstfiguren wie "Rudi Ratlos" und "Bodo Ballermann" sprach ihm erst vor einigen Jahren ein Gericht endgültig zu. Und sein Hit "Alles klar auf der Andrea Doria" führt inzwischen, folgt man der Fährte bis ans Ende, direkt nach Sachsen-Anhalt. "Gottfried heißt der Knabe da hinten am Klavier, für jede Nummer Ragtime kriegt er 'nen Korn und 'n Bier", sang Lindenberg 1973. Damals spielte Gottfried Böttger noch das Panik-Klavier im Panik-Orchester. Inzwischen lehrt der gebürtige Hamburger, der sich später dem Jazz verschrieb, als Professor für Informatik in Köthen.

Hinterm Lebenswerk geht's weiter, das hat auch der Jubilar Lindenberg sich und der Welt gerade erst bewiesen. Waren die 90er - abgesehen von der Erfüllung seines alten Traums, einmal in Ostdeutschland spielen zu dürfen - kein gutes Jahrzehnt für ihn gewesen, so ließen sich die 2000er noch schlechter an. Udo Lindenberg schlüpfte nach einer Ära eher chansonlastiger Werke erst in die Rolle des "Exzessors" (Albumtitel). Dann wollte er wieder der "Panikpräsident" sein. Doch das Fanvolk verweigerte die Gefolgschaft.

"Lindi", wie sich Lindenberg ohne Scheu vor Peinlichkeiten selbst nennt, hatte den Kontakt zum Zeitgeist verloren, so schien es. Nicht ihm selbst allerdings. Von tief unten im Karriereloch sah Lindenberg "völlige Verblödung" grassieren. Ringsum nur "Quotenjägerei und Casting-Quatsch". Also nichts, was einen Rock'n'Roller erschüttern könnte. "Ich bin ein alter Optimist, ich habe schon solche Zeiten erlebt." Irgendwann haben die Leute wieder genug, irgendwann kehren sie um.

Das war, als Udo Lindenberg seinen vierten oder fünften Frühling erlebte. 30 Jahre nach dem ersten Alkoholentzug, 21, nachdem ihm Heiner Müller ein Gedicht mit dem Namen "Phönix" gewidmet hat, und 19 Jahre nach dem ersten Herzinfarkt ist Udo wieder da. Stark wie zwei (Plattentitel), ein Hitgigant, der Charts stürmt und die größten Hallen füllt.

Die Stasi hat es immer befürchtet. Lindenberg sei im Grunde ein Künstler, der Gutes wolle und das sogar mit "künstlerischer Meisterschaft" verfolge, bescheinigt ihm ein MfS-Gutachten. Viele seiner Lieder, etwa über Drogenprobleme oder die faschistische Gefahr in der BRD, seien "für unsere Bestrebungen ausnutzbar", heißt es. Alle anderen müssten "für die Popularisierung in der DDR gesperrt werden".

Rein durfte er danach nicht mehr, so sehr er auch bettelte. Am 10. November 1989 aber hat Lindenberg, der gerade in München ist, morgens den ersten Flieger nach Berlin genommen. Er trägt einen falschen Bart, eine Mütze und ist geschminkt, um nicht erkannt zu werden. Er sieht die Stadt, die seit einem Tag keine Mauer mehr hat, nur durch einen Tränenschleier. Es ist vielleicht der Höhepunkt seiner Karriere. "Freudentränen", nuschelt Lindenberg, "so breit war ich noch nie."

Samstag, 30. April 2016

Peißnitzinsel: Hingucker Riesenmauer


Stolze 140 Meter breit, an die fünf Meter hoch, ein Betonungetüm am Rande des Naturschutzgebietes auf der Peißnitzinsel, das gigantisch am Saaleufer thront wie ein havariertes Raumschiff: 1,3 Millionen Euro aus dem Fluthilfefonds der Bundesländer hat sich die Stadt Halle den Neubau einer Stützmauer an der Wilden Saale unterhalb des Leibniz-Instituts kosten lassen. Zwei Jahre dauerten Planung und Bau, einige Tage dann nur das Freischneiden der Sichtachsen auf die graue Zementfläche.

Eine Investition, die sich nun sehen lassen muss. Direkt am künftigen Saaleradwanderweg gelegen, der in den kommenden Monaten auf einer Länge von knapp zwei Kilometern mit rund 880.000 weiteren Euro aus der Fluthilfe standsicher gemacht und für bequemes Fahren asphaltiert werden soll, hat die Riesenmauer gute Chancen, zu einem echten Hingucker für Saaletouristen zu werden.

Wie ein Ufo hockt sie da, gewunden wie das große chinesische Vorbild und gekerbt, als sei sie zur Verteidigung bereit. Schwer soll es gewesen sein, das von der 2013er Flut unterspülte Altgemäuer zu erhalten, das sich jetzt unsichtbar hinter der wuchtigen Kulisse aus Stahlbeton befinden soll. Was vorher aussah, wie es heißt - Weinbergufer -, wirkt jetzt wie die Rückseite der Großbaustelle Berliner Flughafen.

Bilder können den Eindruck von epochaler Architektur aber nur unzureichend wiedergeben. Ein Spaziergang zum Schauplatz wirkt wirklich. Verheerend.




Samstag, 23. April 2016

Meine lange Jagd nach dem supergeheimen Geheimdienstbrief

"Manchmal ist es so, wenn bestimmte Schreiben an (zu) viele Leute geschickt werden, dass sich dann jeder auf den anderen verlässt und die Sache am Ende liegenbleibt", schreibt ein Bundestagsabgeordneter der Linken. Nein, er meint nicht den Brief, der Gegenstand der ursprünglichen Anfrage war. Sondern seine eigene Antwort, die ausblieb.

Dabei war die Frage ganz einfach: Ist das Schreiben, in dem ein Gregory J. Broecker, seines Zeichens Verteidigungsattache der US-Botschaft in Berlin, Angela Merkels Sicherheitsberater Christoph Heusgen Dank für das deutsche Engagement für eine vereinte EU in der Ukraine-Krise ausspricht und gleichzeitig weiteres Partizipieren an den "technischen Möglichkeiten spezieller US-Dienste in Deutschland" verspricht, echt oder nicht?

Der Brief kursierte im Herbst 2014 im Internet, verbunden mit gewagten Deutungen: Spezieller Service, das klingt nach Abhörpraktiken. Technische Kapazitäten in Deutschland deuten auf einen möglichen Verfassungsbruch.

Also fragen wir doch einfach mal nach, am besten dort, wo man es wissen muss. Im Bundeskanzleramt gibt es eine große Presseabteilung, schon nach der dritten Nachfrage gibt die auch eine Antwort: Zitiert werden darf „eine Regierungssprecherin“, die "dazu Folgendes mitteilen kann": „Dem Bundeskanzleramt ist ein solches Schreiben nicht bekannt.“

Eine offenkundige Lüge, denn spätestens mit dem Eingang der Frage in der Pressestelle des Bundeskanzleramtes, ob das Schreiben echt ist, war es natürlich bekannt, denn es lag bei. Bekannt ist nun, dass das Bundeskanzleramt die Frage nicht beantworten will.

Unbekannt bleibt aber, ob der Brief echt ist.

Hans-Christian Ströbele jedoch wird es wissen, denn der Grüne scheut bekanntermaßen vor keinem Konflikt zurück, wenn es um die Wahrheit und gegen mutmaßlich grenzwertige Geheimdienstpraktiken geht. Und richtig, sofort meldet sich der in Halle geborene Politiker durch einen Mitarbeiter, und lässt Dank dafür ausrichten, "dass Sie – gerade ihm – den Hinweis auf diesen Brief sandten".

Allerdings sieht Ströbele keine Smoking Gun schmauchen. Sondern lässt seinen Mitarbeiter ausrichten, dass hier "einstweilen noch skeptisch eher an einen russische Desinformations-Versuch" zu denken sei, "auch weil der Brief seine ‚Aufreger-Aussage‘ so unvermittelt direkt vermittele: "Für Ukraine-Einigkeit gibt’s NSA-Infos.". Das scheint den Grünen denn doch "etwas arg simpel".

Zwei Monate - und sechs Nachfragen bei Ströbele - später ist die Prüfung weiter gediehen. In Gesprächen mit "mehreren Menschen", die nicht näher bezeichnet werden, hätten alle die Echtheit "für höchst unwahrscheinlich und die Gefahr einer bloßen Erfindung /“Fake“ für sehr hoch" gehalten.

Aha. Schlauer ist nun niemand, aber zum Glück gibt es ja neben Christian Ströbele noch andere Parlamentarier, die ebenso kritisch zu mutmaßlich fragwürdigen Geheimdienstpraktiken stehen und der Regierung hier gar nichts durchgehen lassen. 


André Hahn etwa kümmert sich für die Linke um die Geheimdienstaufsicht. Er antwortet nach mehreren Anfragen prompt. Kann aber auch nichts zu dem ominösen Schreiben sagen. Und auch nichts machen, wie sich noch einige Nachfragen später herausstellt. "Ich bin bislang davon ausgegangen, dass es sich um ein Dokument handelt, das über kurz oder lang auch in den Unterlagen des Untersuchungsausschusses auftauchen und dann dort debattiert wird. Das ist bislang offenbar nicht geschehen", teilt Hahn mit. Gibt es denn gar keine Möglichkeit, herauszufinden, ob eine Verschwörungstheorie eine Verschwörungstheorie ist - oder doch wahr?

André Hahn will helfen. "Deshalb werde ich das Sekretariat des Parlamentarischen Kontrollgremiums bitten, die Angelegenheit auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung, setzen zu lassen und dazu einen Bericht der Bundesregierung abzufordern."

Die nächste Sitzung war dann im September, auf der geheimen Tagesordnung stand der Brief dann doch nicht, auch über Antwort der Bundesregierung hat Hahn nie etwas verlauten lassen.

Gehen wir eben zur SPD, deren Abgeordneter Burkhard Lischka seinerzeit zwar noch nicht Landesvorsitzender der Sozialdemokraten in Sachsen-Anhalt war, aber in jedem Fall ein Mann, der interessiert daran ist, gegen falsche Gerüchte vorzugehen. Lischka ist zudem Fachmann, er sitzt im Bundestags-Innenausschusses, ist innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und außerdem gerade im Urlaub, wie sein Mitarbeiter Nicolas Geiger nach einigen Erinnerungsmails schreibt.

"Wir mussten den Sachverhalt selbst erst prüfen", heißt es weiter. Und nun tut es alles leid, denn "kurzfristig können wir Ihnen bei Ihrem Anliegen leider nicht weiterhelfen". Herrn Lischka sei das Schreiben bislang zumindest nicht bekannt gewesen. Das muss dann so stehenbleiben, weil auch langfristig nie mehr eine Antwort kommt.

Christoph Bergner von der CDU hält es übrigens ähnlich, nur dass er persönlich anruft, um mitzuteilen, dass sich da insgesamt wohl wenig machen lasse. Er werde sich aber umhören, verspricht er. Das klingt schon richtig geheimdiensthaft. Bringt aber auch nichts.

Der Brief bleibt ein Brief, der alles sein kann. Und die Abgeordneten sehen aus wie etwas, was sie nie sein sollten: Leute, die nicht einmal im Fall eines einseitigen Schriftstücks in der Lage sind, die parlamentarische Kontrolle der Regierung auszuüben, die eigentlich ihres Amtes ist.



Freitag, 22. April 2016

Conny Ochs: Ein Reisender in großem Gefühl



Das neue Album des Hallensers Conny Ochs heißt „Future Fables“. Es will mehr als die Region.

Mit seiner Band Baby Universal ist der Hallenser Cornelius Ochs seit mehr als einem Jahrzehnt eine der wichtigsten, bekanntesten und erfolgreichsten Figuren des Rocks in der Region. Zuletzt legte die Lieblingsband von Kult-Regisseur Quentin Tarantino mit „Slow Shelter“ ein Meisterwerk vor, das den Mix aus Brit-Pop und Hard-Rock um Folkelemente erweiterte.

Eine Mischung, die Conny Ochs nun auch auf seinem neuen Solo-Album „Future Fables“ pflegt. Zwölf Songs hat der Hallenser mit der unverwechselbaren Stimme im Kabumm-Studio in Golzow eingespielt, alle zwölf orientieren sich mehr an seinen gemeinsamen akustischen Alben mit der US-Doom-Legende Scott „Wino“ Weinrich (St. Vitus) als am treibenden elektrischen Sound seiner Band.

Lieder mit Herz, Lieder mit Seele sind das, vom Auftakt mit dem auf zwei Gitarren hereinschleichenden „Hole“ bis zum Finale mit der dunklen Klavierballade „Make some room“. Conny Ochs singt flehentlich, er flüstert, zeigt aber bei „Killer“ auch, dass er Nirvana ebensogut kann.
Songkunst, der Sachsen-Anhalt, der Osten und ganz Deutschland spätestens seit den gemeinsamen Tourneen mit Scott Weinreich zu klein geworden ist.

Wie ein moderner Troubadour zieht Ochs durch Europa, um die Welt, er spielt in Quedlinburg und Venedig, in der Schweiz und Tschechien. Seine zwischen Mark Lanegan, Lou Reed und Nick Drake pendelnde Musik, mit dem Debüt „Raw Love Songs“ entworfen, mit „Black Happy“ vervollkommnet und mit „Future Fables“ nun für erste vollendet, wird überall verstanden werden.

Direkt zum Künstler:
connyochs.com