Freitag, 28. Juli 2017

Das geheime Online-Leben unserer Kinder


Was suchen die Jüngsten, wenn sie vor dem Rechner sitzen? Die Antwort auf diese Frage wird viele Eltern erschrecken.

Danach befragt, sind die Antworten klar. Natürlich suchen Kinder im Netz nach Stars, nach Comics, Fußball, Witzen und lustigen Filmen. Soweit die offizielle Realität. Doch wie sieht es wirklich aus? Was interessiert Kinder, wenn ihnen kein Erwachsener über die Schulter schaut?

Eine Frage, der der Virenschutz-Konzern Kaspersky Lab jedes Jahr mit einer Untersuchung nachgeht. Kaspersky hat hier Zugang zu Daten, über die sonst kaum jemand verfügt: Die mit Virenschutzpaketen ausgelieferten Kindersicherungsmodul e liefern zwar anonymisierte, aber unbestechliche Statistiken.

Die aktuelle Auswertung zeigt, dass das Interesse der jüngsten Computer- und Internetnutzer an Kommunikationsmedien und Computerspielen im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen ist. Die Suchanfragen nach Alkohol, Tabak und Drogen sowie nach Software, Audio und Video dagegen nehmen zu. Und das nicht nur, aber ganz besonders auch bei deutschen Kindern.

Zwar zielen fast zwei Drittel aller Suchanfragen von Minderjährigen weltweit auf Webseiten von sozialen Netzwerken, E-Mail-Diensten, Chats und Messenger-Plattformen. Doch insgesamt verloren diese harmlosen Bereiche in einem Jahr bemerkenswerte zehn Prozent an Interesse. Während Alkohol, Tabak und Betäubungsmittel um fünf Prozent auf nun 14,13 Prozent zulegten und damit jetzt sogar deutlich vor Computerspielen liegen, die mit 9,12 Prozent mehr als zwei Prozent verloren haben.

Zuwächse verzeichnet auch der Bereich Software, Audio und Video, der sich auf über sechs Prozent Anteil an allen Suchanfragen beinahe verdoppelt hat. Hier dürfte es sich oft um die Suche nach illegalen Downloadmöglichkeiten handeln. Der Kauf im Netz hat es dagegen schwer: E-Commerce-Seiten und auch Erwachseneninhalte, bei Kaspersky wohl die Beschreibung von Sexseiten, spielen im Kinderzimmer keine große Rolle.

„Kinder nutzen den klassischen Desktop-Rechner nur noch für Webseiten, zu denen es keine mobile App gibt“, erklärt Kaspersky-Analystin Anna Larkina. Der fallende Anteil bei Computerspielen müsse nicht bedeuten, dass die Kids weniger oft spielen. „Vielmehr konzentrieren sie sich hier auf wenige Webseiten, die dauerhaft genutzt werden.“

Die Analyse zeigt auch die teilweise große Unterschiede bei der Internetnutzung von Kindern in verschiedenen Ländern. So sind Kommunikationsmedien im arabischen Raum, in Lateinamerika und der ehemaligen Sowjetunion gefragt.

In Deutschland ist dafür das Interesse an Alkohol und Drogen größer - mehr als ein Viertel aller Google-Anfragen aus deutschen Kinderzimmern (Vorjahr 22,8 Prozent) galten Alkohol, Tabak oder anderen Drogen. Das sind zehn Prozent mehr als im globalen Durchschnitt. Online-Kommunikation liegt hierzulande mit 28,49 Prozent nur noch knapp vorn. Dahinter folgen Computerspiele (16,62 Prozent), Software, Audio, Video (11,57 Prozent) und E-Commerce (7,59 Prozent).

Samstag, 22. Juli 2017

Linkin Park: Mit dem Brett im Bett


Auf ihrem sechsten Album "The Hunting Party" dreht die ehemalige Nu-Metal-Band die Verstärker auf wie nie zuvor.

Erst in der Rückschau sieht die Karriere dieser Band aus wie am Reißbrett entworfen. Die musikalische Vision, der Linkin-Park-Chef Mike Shinoda Mitte der 90er zu folgen beschloss, wirkt angesichts der weltweiten Erfolge des Sextetts aus Los Angeles einfach zu schlüssig und zu konsequent umgesetzt. Als hätten Shinoda, sein Sänger Chester Bennington und der Rest der Truppe stets schon lange vorher gewusst, welcher Stilwechsel ihrem Image als Überraschungsband der Metal-Szene gut tun würde.

Vielleicht aber ist es andersherum. Vielleicht sind Mike Shinoda und sein Schulfreund Brad Delson, die die Idee zu der Band, die später Linkin Park heißen würde, schon im Jahr 1991 hatten, wirklich nur ihrem Instinkt gefolgt. Haben erst Metal gemacht, der sich hörbar vom üblichen Schwermetall mit akrobatischem Anspruch an die Musiker abhob. Dann Metal und Rap versöhnt. Sind weitergeeilt zur Fusion von Metal mit Elektronik. 

Und stehen nun mit ihrem sechsten Album vor einer neuen Definition des Begriffs Härte. Zumindest für den Bereich des harten Rock, der immer zugleich auch auf die Verkaufshitparaden schielt. "The Hunting Party" ist ein dröhnender, stampfender und schreiender Bastard aus zwölf Songs, die von Gitarren dominiert werden, trotzdem aber weder an Metallica noch an Limp Bizkit erinnern. Dabei sollte ursprünglich alles ganz anders werden. "Ich habe einige Alternative-Pop-Demos gemacht, die klangen, als könnten sie in das reinpassen, was das Radio derzeit spielt", beschreibt Mike Shinoda.

Erst die Erkenntnis, dass er selbst eigentlich überhaupt keine Lust auf die so erfolgreiche Art Balladen-Indie-Songs und Rock-Pop-Hymnen hatte, brachte den 37-Jährigen zum Umdenken: Hart sollte das neue Album werden, bretthart. Und die nach über 50 Millionen verkauften Alben im Rockolymp angekommene Band zurückführen zum musikalischen Ethos der Anfangstage, als sie aufbrach, einfach ihr eigenes Ding zu machen und auf dem Weg dahin alle Konventionen zu zerschmettern.

"Keys to the Kingdom" fängt dann auch an, als sollte jeder zufällige Hörer sofort zum Verlassen des Saales veranlasst werden. Chester Benningtons Stimme wird durch die Mixhölle gejagt, ein Gitarrengewitter wie einst von Helmet bricht los. "No control" schreit Bennington, es rappt, es brummt, die musikalische Struktur fällt zwischen einer zarten Melodie und jenseitigem Brüllen auseinander. Das ist hier das Konzept. "Wir sind nicht zufrieden / wir sind hungrig" heißt es in einem kurzen Begleitpoem, "jetzt ist nicht die Zeit, nachzuschauen, ob irgendjemand folgt, jetzt ist Zeit, aufzubrechen ins Unbekannte."

Das allerdings so unbekannt natürlich auch nicht ist. Das fiese Zischen in "War" erinnert an die punkigen Zeiten von Guns'N'Roses, die Melodie von "Rebellion" an Nik Kershaws "The Riddle" und das mit Klavier verzierte Instrumental "Drawbar" mit Tom Morello von Rage Against the Machine an der Gitarre gemahnt schon fast an eine der unvergänglichen Pink-Floyd-Hymnen Marke "Atom Heart Mother". Das darauf folgende "Final Masquerade" ist dann sogar eine lupenreine Ballade.

Keyboards nebeln über ein stur stampfendes Schlagzeug, die Gitarren singen im Chor und das Heavy-Herz blutet wie ehemals bei Jon Bon Jovis "Blaze Of Glory". Erst zum großen Finale kommt die Wucht zurück, versteckt in einem Pelz aus soundtrackartigen Soundschleifen, die von Marschgitarren abgelöst werden. Das Giftige, Strenge und Laute weicht hier einem Wechselspiel von elegischen und energischen Momenten. 

Ein bisschen klingt das, ja, wie am Reißbrett entworfen.

Samstag, 15. Juli 2017

Der Wutbürger



Ich schnaufe beim Joggen, obwohl es bergab geht. Das Holperpflaster, die Straße am Kindergarten. Alles frei, der vordere Fuß setzt auf, der hintere kommt. Und von links schießt ein silberfarbener Golf heran, ungebremst. Hinterm Lenkrad die Karikatur eines Autofahrers aus dem Witzheftchen: Jägerhütchen in beige, beige Outdoorjacke, weiße Socken in Sandalen, braune Hose.

Zentimeter vor meinem linken Knie stoppt die Stoßstange. Und schon kommt Jägerhütchen aus seiner Kabine geschossen. Er ist etwa Mitte 60, nicht dick, aber im Zustand fortschreitenden körperlichen Verfalls. "Ehhh, spinnst du", brüllt er noch im Öffnen der Fahrertür. "Du wohl eher", entgegne ich etwas kurzatmig. Ich bin stehengeblieben, zwei Meter von Jägerhut entfernt, etwa Fahrbahnmitte. Ich laufe hier seit 15 Jahren. Und wenn mein Fuß auf der Fahrbahn ist, dann dürfen alle Linksabbieger warten.

Das sage ich Jägerhütchen, der es anders sieht. "Reingesprungen" sei ich ihm, was nicht sein kann, weil er mit dem Heck noch immer auf der Straße steht, von der er kommt. Dort stauen sich inzwischen drei Autos, was den Jägerhut nicht stört. "Mal klarmachen" werde er mir die Verkehrsregeln, keucht er, nachdem ich ihm höflich bedeutet habe, was er mich kann. Der Golf des Mannes trägt ein Kennzeichen aus einer Gegend, wo sie Fleisch noch mit den Zähnen essen und auf den Straßen die PS-Zahl entscheiden lassen, wer Vorfahrt hat. Das hier ist Stadt, sage ich dem Jägerhut, da funktioniert das anders.

Glaubt er nicht. Der Jägerhut verschwindet für einen Moment wieder im Führerstand. Und dann taucht das ganze Männchen als Karikatur eines Wutbürgers wieder auf: In der Hand trägt der Safarimann jetzt einen fünfzig Zentimeter langen Knüppel, beste Buche, etwa vier Zentimeter stark. "Dir zeig´ ich´s gleich", ruft er, während er sich zu seiner vollen Körpergröße von 1,65 aufrichtet.

Ein Fehler. "Du machst einen großen Fehler", warne ich in Erinnerung an Abwehrreflexe aus der Schulzeit. Abschrecken durch Gelassenheit. Die Sonnenbrille hilft. Jägerhut wird langsamer, der Knüppel sinkt ein wenig. "Ruf lieber vorher noch jemanden an, damit dein Auto nicht die Kreuzung blockiert, wenn sie dich ins Krankenhaus fahren", höre ich mich sagen. Er ist jetzt nicht mehr sehr entschlossen, wirklich ernst zu machen. "Wenn du den Knüppel nicht in zwei Minuten im Hintern stecken haben willst, machst du dich besser vom Acker", schiebe ich hinterher, um einen Ton drohender Sachlichkeit bemüht.

Aber die Kränkung, Unrecht zu haben, vor einem Publikum, das inzwischen nicht mehr nur die Leute in der drei Autos hinter ihm, sondern auch ein halbes Dutzend Spaziergänger auf der anderen Straßenseite zählt, wiegt wohl schwerer. Er ist noch immer nach vorn unterwegs.

Volles Risiko. "Na, komm schon", rufe ich. An dem Punkt, so war das wenigstens früher, drehen die meisten ab.

Aber Jägerhütchen ist anders. In ihm pocht die Wut des Landbewohners auf die fremden Sitten der Stadt. Er mag sich benachteiligt führen, von der Regierung betrogen, von den Parteien, von der Rentenversicherung. Er ist nicht mehr bereit, das hinzunehmen, deshalb hat er ja den Knüppel griffbereit dabei. Und jetzt ist der Augenblick, wo er sich entschließt, zurückzuschlagen. Gegen mich. Obwohl ich ja weder die Regierung bin noch eine Partei noch die Rentenversicherung. Der Knüppel geht wieder nach oben und der Sandalenfuß kommt auf mich zu. Ende aller Gespräche.

Ich reiße mir die Regenjacke von der Hüfte, wo sie vorsichtshalber hängt. Gerade noch rechtzeitig. Als der erste Schlag kommt, fange ich ihn fast schon beiläufig mit der Jacke ab. Beide Handgelenke drehen sich ein wie hundertmal im Training geübt. Eine Schlaufe, die sich zuzieht und ihm den Buchenknüppel aus der Hand reißt. Jägerhut verzieht das Gesicht, als ihm meine freie Rechte eine Sekunde später kurz angesetzt auf die fleischige Nase kracht. Er taumelt jetzt und ehe er sich erholen kann, setze ich mit dem rechten Fuß nach. Sicher ist sicher. Von unten auf die Zwölf, Treffer. Jägerhut knickt ein wenig ein und bückt sich dabei direkt in meine Linke, die als Haken von unten kommt.

Wieder auf die Nase. Der Jägerhut purzelt vom Kopf, auf dem Outdoorwestenimitat von Karstadt glänzen Blutstropfen. "Ich habe dich gewarnt", knurre ich, ehe ich ihm die Rechte noch mal prophylaktisch aufs Ohr dresche. Meine Augen suchen nach dem Knüppel. Ahh, da ist er. Jägerhütchen ohne Jägerhut stöhnt leise, ich greife mir das Holz und knalle es ihm im Hochkommen von links gegen das Knie. Irgendetwas knackt und bricht, der Linksabbieger fällt nach rechts um und rührt sich nicht mehr.

Hinter seinem Golf hupt jetzt einer. Mehrere Passanten telefonieren, vermutlich mit der Polizei. Sollen sie doch, denke ich, er hatte ja den Knüppel. Er hat angefangen. Und was hat er davon geahbt.Ich bin jetzt in Euphorie, Adrenalin überall. Die vier Schritte zum Auto gehe ich ohne einen Gedanken daran, was ich dort will. Aber siehe: Auf dem Beifahrersitz Zigaretten, ein Feuerzeug, in der Fahrertürablage ein hübsch gefaltetes Putztuch.

Zack, habe ich den Tank geöffnet. Wupps, den Lappen in den Stutzen gewürgt. Und zisch angezündet. Ich lasse das Feuerzeug fallen, drehe ab und trabe ruhig davon. Der fährt nie wieder quer, denke ich zufrieden, während schwarze Wolken hinter mir aufsteigen

Aber natürlich nicht wirklich, denn in der Realität endete die Geschichte an der Stelle, wo ich "Na, komm schon" rufe.

Jägerhütchen wollte dann doch lieber nicht.

Kluge Wahl, so im Nachhinein betrachtet.

Donnerstag, 13. Juli 2017

Seltsame DDR-Sitten: Eingaben an den roten König


Ob Schimmelpilze an der Wand oder mangelnde "Brillenversorgung" - DDR-Bürger zeigten beachtliches Geschick, ihren Staatsrat mit Bitt- und Beschwerdebriefen, den "Eingaben", zu nerven. In den Behörden türmten sich die Wutschreiben der Bürger zu Bergen, aber helfen konnte auch Erich Honecker nur selten wirklich. 


15 lange Jahre hatte Siegfried Ebert eine Schafsgeduld. Dann, im Sommer 1986, platzte ihm der Kragen. Ebert war ein ganz normaler DDR-Bürger - wenn man mal davon absieht, daß ihm ein Mehrfamilienhaus in der Halleschen Straße in Merseburg gehörte, durch dessen Dach schon während der 74er Fußball-WM der Regen tropfte. Nach 15 Jahren griff Ebert zum allerletzten Mittel: "Seit zwölf Jahren", schrieb er an den "Sehr geehrten Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker", "versuche ich mit den örtlichen Organen, das Dach meines Hauses neu eindecken zu lassen, aber es führt kein Weg dahin."

Immer wieder werde er vertröstet, immer wieder fehle es an Handwerkern, Material und Fonds. "Das ständige Streichen der Bilanzen", jammert Ebert, "sorgt für einen fortschreitenden Verfall des Daches." Bereits jetzt hätten verschiedene Wände einen "hohen Durchnässungsgrad", es regne den Mietern teilweise schon in die Wohnung. Was soll denn nun werden? "Herr Honecker", gestand Ebert dem großen Vorsitzenden im fernen Berlin, "ich weiß nicht mehr weiter. Ich bin verzweifelt."

Fehlte eine Gehwegplatte, schrieb man eine Eingabe


Erich Honecker selbst, von dem Ebert wohl irgendwie gehofft hatte, er werde es nicht tatenlos hinnehmen, daß einer seiner Bürger "verzweifelt" bleibt, hat den Brief vermutlich nie gelesen. Wie Tausende und aber Tausende ähnliche Schreiben, landete er in der Abteilung "Eingaben" des Staatsrates der DDR. Hier wurden Ratlosigkeit und Verzweiflung akribisch verwaltet, wurden
Hilferufe analysiert und in Ordnern voller Bürgerjammer sorgfältig archiviert, hier leitete man "Maßnahmen" ein und Anliegen weiter.

Seit den fünfziger Jahren etablierte sich das Eingabenschreiben nach und nach als ein Stück unverwechselbarer DDR-Kultur. Fehlte vor dem Haus eine Gehwegplatte - schrieb man eine Eingabe. Wurde die Bushaltestelle am Sportplatz gestrichen - schrieb man eine Eingabe. Bekam man keinen Werkstattermin oder keine Ersatzteile oder kein Zeitungsabonnement oder keinen Platz in der Kneipe oder keine Wohnung - man schrieb eine Eingabe. Egal, ob es um Fragen der "Brillenversorgung" oder um die Bettensituation" in den DDR-Krankenhäusern ging, um Wohnungsprobleme, Versorgungsengpässe bei Südfrüchten, Ausreisewünsche oder Verwaltungsfilz.

Jedem Bürger stand es frei, staatliche Organe, Parteisekretäre oder beliebige andere Instanzen per Eingabe damit zu belästigen. Mit dem Absenden des entsprechenden Briefes wurde jedes Anliegen zum verwaltungstechnisch erfassten Vorgang: Die "zuständigen Organe" mussten innerhalb einer festgesetzten Frist darauf antworten.

Für Gabriele Schulz begann es mit einem kleinen, handgeschriebenen Brief an den Rat der Stadt Pasewalk. "Seit Jahren", schrieb Frau Schulz, "wohnen mein Lebensgefährte und ich mit unserer kleinen Tochter nun schon in einem Haus, das baupolizeilich gesperrt ist. Wir holen jeden Tropfen Wasser aus dem Keller, waschen uns in einer Schüssel. An den Wänden blüht der Pilz!" Die
Verwaltung vertröstete. Einmal. Gabi Schulz schrieb an den Rat des Kreises. Zweimal. Gabi Schulz versuchte es mit einem Durchschlag an die SED-Kreisleitung. Dreimal. Das war dann einmal zu viel. Jetzt tat Gabriele Schulz, was nur die Mutigsten wagten: Sie griff zum letzten Mittel und schrieb auf blauliniertem Schulschreibpapier, was im DDR-Volksmund ehrfurchtsvoll flüsternd eine "Staatsratseingabe" genannt wurde.

Denn wenn gar nichts mehr ging, wenn das zuständige "staatliche Organ" den lästigen, weil störrisch beschwerdeführenden Bürger aus dem Büro warf, ging im DDR-Zentralismus immer noch etwas. Für jede unlösbare Frage, jedes trotzig von der Bürokratie ausgesessene Problem gab es eine höhere, eine allmächtige Instanz, eine letzte Möglichkeit, Gerechtigkeit zu erlangen: "Von den territorialen Organen erwarte ich mir keine Hilfe mehr", schrieb Holger Müller aus Riesa an den "lieben Genossen Honecker", "aber Sie haben ja die Möglichkeit, sich von oben für die Lösung meines Problems einzusetzen".

Honecker hatte. Er konnte alles. Und infolgedessen erwartete man alles von ihm. Um die Revidierung von "Gerichtsurteilen in Scheidungssachen" wurde der Allmächtige mit derselben Selbstverständlichkeit gebeten wie um Besorgung von Pkw-Ersatzteilen Marke Skoda oder "devisenpflichtigen West-Medikamenten".

Die Eingaben an den Staatsrat der DDR erzählen die Geschichte der DDR als Alltagsgeschichte ihrer Bürger. Dokumente zwischen Aufbegehren und Unterwürfigkeit, die heute zu Zehntausenden ordentlich gebündelt in der Coswiger Außenstelle des Bundesarchivs lagern. Die einen bettelten um "Unterstützung beim Kauf einer Badewanne", andere hingegen eröffneten dem Staatsratsvorsitzenden freimütig: "Ich bin überhaupt nicht damit zufrieden, daß Sie meine Eingabe ,weitergeleitet` haben. Ich darf doch wohl von Ihnen erwarten, daß Sie sich auch persönlich mit den Problemen eines Bürgers ihres Staates befassen."

DDR-Bürger entwickelten ein beachtliches diplomatisches Geschick und ein gerüttelt Maß an Zynismus im Briefverkehr mit ihrem höchsten Staatsorgan. Mario Freiberg aus Waltershausen am Harz rieb den verhassten Bonzen die eigenen Parolen unter die Nase: Dass Funktionäre bevorzugt Neubauwohnungen bekommen, sei für ihn Ausdruck eines "gestörten Verhältnisses zwischen den Klassen und Schichten", ließ er den "Genossen Honecker" wissen. Franz Metzger aus Neubrandenburg hingegen eröffnete provokativ, daß ihm "langsam Zweifel an der Wohnungspolitik der SED" kämen, um später versöhnlich "Mit sozialistischem Gruß" zu schließen.

Der langsame Niedergang des ersten Arbeiter- und Bauernstaates hat in den Eingaben unverkennbar Spuren hinterlassen. Was in den Fünfzigern als seltene Einzeltat begann, schwoll später zur wahren Briefflut. Während sich Partei- und Staatsfunktionäre die "ständige Festigung des Sozialismus" im Land vorheuchelten, konstatierte der "Sektor III" beim Staatsrat Monat für Monat eine "weiter steigende quantitative Tendenz". Sektor III war für die Eingabenerfassung und -bearbeitung zuständig. "Bis zu 170 Eingaben täglich" zählte Sektorenleiter Fritz Glaser im Jahr 1973. Und dabei blieb es nicht. Allein für den Bezirk Halle wurden aus anfangs einigen hundert Eingaben jährlich bis Mitte der Achtziger nahezu 7.000. Auch die Rostocker und die Dresdner, vor allem aber Leipziger und Berliner griffen immer öfter wutentbrannt zur Feder.

"Sektor III" zeigte sich der Welle gewachsen. Jeder eingehende Brief, mit einer numerierten Karteikarte versehen, löste hinter den Kulissen eine Welle hektischen Aktionismus aus. Der Einsender bekam einen Eingangsbescheid, die kritisierte Behörde hingegen den schriftlichen Auftrag, für Lösungen zu sorgen und anschließend Bericht zu erstatten. Sektor III seinerseits
durchleuchtete die eingehenden Briefe im "Infas"-Stil: Arbeiteranteil und Frauenquote, "Vielschreiber" und "Übersiedlungsantragsteller", getreulich wurde alles erfasst und ausgewertet.

Die Lösung der Probleme allerdings beförderte das wenig. Wie auch sollte man zum Beispiel "instabile Versorgungsverhältnisse", die immer wieder beklagt wurden, ohne zusätzliche Zuteilungen beheben? Wie hundert Dächer mit fünf Dachdeckern und einem Karton Ziegel flicken? Wer repariert 20 Pkw Wartburg mit einem einzigen Zahnkranz? Wie weist man 376 Pflegebedürftige in ein Heim ein, in dem kein einziger Platz mehr frei ist?

Der mit den Jahren zu einem Stück originärer DDR-Kultur gewachsene Moloch "Eingabenwesen" hatte genaugenommen keinerlei Nutzen. Er verteilte den Mangel einfach nur zu denen um, die keine Eingabe schrieben.

Die Mitarbeiter des Sektor III müssen sich dessen durchaus bewusst gewesen sein. Und sie behielten ihr Wissen nicht etwa für sich. "Die Mehrzahl der Anliegen der Bürger", schrieb Sektorenleiter Glaser über zwei Jahrzehnte regelmäßig in seine internen Berichte nach oben, "ist berechtigten Ursprungs." Viele seien aber dennoch "nicht wie gewünscht zu lösen".

Detailliert listeten die monatlichen Eingabenanalysen die Schwachpunkte des Systems auf. Fehlerhafte Arbeitsweisen, bürokratisches Verhalten, herzloser Umgang der staatlichen Organe mit Bürgeranliegen seien "unten" an der Tagesordnung, berichtete Glaser an Staatsratschef Willi Stoph.


Gab es keine Ersatzteile, schrieb man eine Eingabe

Die Unzufriedenheit stieg und damit auch die Zahl derjenigen, die versuchten, "die Lösung ihrer Probleme mit Druck zu erzwingen". So verlangten immer mehr Bürger aus unterschiedlichen Schichten die sofortige Lösung ihres Wohnungsproblems. "Wenn wir nicht bis zum 15. 8. eine neue Wohnung haben", wetterte Herbert J. aus Parchim, "könnt ihr uns gleich die Ausreise
fertigmachen oder wir schicken Bilder, wie wir als DDR- Bürger leben, in die ganze Welt. Wir leben ja nicht wie Menschen, sondern wie Tiere!"

Solche Briefe wurden natürlich einmal mehr kopiert. "Übersiedlungsersuchen wurde dem MfS zugeleitet", vermerkt eine Notiz, "Sicherheitsorgane wurden informiert" eine andere.

Aber sie wurden auch bevorzugt bearbeitet. Augenoptikermeister Ebert aus Merseburg hingegen, der still leidend 18 Jahre lang um die Reparatur seines Daches gekämpft hatte, überlebte das Ende der langersehnten Bauarbeiten nur um wenige Tage. "Im Herbst 1989", erzählt seine Witwe Ruth, "kamen ja endlich die Handwerker." Doch über deren "Pfuscharbeit" habe sich ihr Mann "so sehr
aufgeregt, dass das sein armes Herz nicht mehr mitmachte."

Spätere Beschwerden seiner Frau über die Pfuscharbeit gingen in den Wende-Wirren unter. Das Dach des Hauses in der Halleschen Straße ist noch immer nicht komplett saniert. Ruth Ebert hat sich irgendwann damit abgefunden. "Heute", seufzt die Rentnerin, "weiß man ja gar nicht mehr, wo man sich beschweren soll."