Donnerstag, 1. Februar 2018

Donots: Im Gegenwind surfen


Kurz vor dem ersten Vierteljahrhundert der Bandgeschichte setzen die Donots aus dem Münsterland mit dem zweiten deutschsprachigen Album Maßstäbe.


Als der weltenbummelnde Punk Frank Turner ihnen damals vor fünf Jahren beim Album "Wake the Dog" bei einem Song half, war das ein Ritterschlag. Als Rise Against-Gitarrist Tim McIlrath wenig später bei "Das Neue bleibt beim Alten" in die Saiten griff, war klar, dass Anerkennung für schnelle, scharfe Punkmusik nicht von der Sprache abhängt, in der gesungen wird. Mit "Karacho" wechselten die Donots vor drei Jahren dann wirklich und vollständig vom Englischen ins Deutsche.

Aus der Band, die zwei Jahrzehnte lang Punk im Stil von The Clash, Sham 69 und The Jam gemacht hatte, wurde ein Quintett, das auf Augenhöhe mit den Toten Hosen, Sportfreunden Stiller und Tocotronic spielte. Nur dass Sänger Ingo Knollmann, sein Bruder Guido an der Gitarre, der zweite Gitarrist Alex Siedenbiedel, Bassist Jan-Dirk Poggemann und Trommler Eike Herwig ein ganz klein wenig energischer zur Sache gehen. "Lauter als Bomben", das neue Werk der Punkband aus Ibbenbüren, ist ein lautes, rebellisches Album aus donnernden Drums, rotzigen Gitarren und leidenschaftlichem Gesang, das an Vorbilder wie The Offspring, Green Day oder die Dropkick Murphys erinnert.

Auch im politischen Anspruch, der die Münsterländer nicht nur mit Green Day, sondern auch mit den Mecklenburger Kollegen von Feine Sahne Fischfilet und Jennifer Rostock verbindet. Hemdsärmlig rocken die fünf Musiker hier "Geschichten vom Boden" und sie drohen "Keiner kommt hier lebend raus", ehe "Alle Zeit der Welt" und "Das Dorf war LA" ein wenig Tempo herausnehmen. Das Fundament der Musik ist immer klassischer Punk, etwa Marke Social Distortion oder The Alarm. Doch wie viele Bands haben auch die Münsterländer zugleich Heavy Metal und Folk als Einfluss entdeckt. Guido Knollmann spielt hier schon auch mal den Ansatz eines Gitarrensolos und die Rhythmusgruppe wechselt das Tempo vom T.Rex-Shuffle zum schwermetallischen Rumba in "Rauschen".

Bruder Ingo erzählt seine Kleinstadtgeschichten mit großer Inbrunst. "Von genug nie genug, von zu wenig viel zu viel, werden wir jemals reichen?" antwortet er in "Aschesammeln" auf Konstantin Weckers Klassiker "Genug ist nicht genug". "Eine letzte Runde" nimmt dann einen Reggae-Rhythmus, um vom Ende einer langen Kneipennacht zu berichten: "Wenn wir jetzt gehen, dann gemeinsam, und wenn es sein muss vor die Hunde, noch eine letzte letzte Runde."

Ein Stimmungslied mit Hoho-Chor, das den schweren Ton der meisten übrigen Songs ein wenig aufbricht. Davon abgesehen aber geht es hier hauptsächlich darum, im "Gegenwind surfen" zu lernen. Widerstand leisten gegen die Verwertungslogik der Wirtschaft, gegen die Verführbarkeit für populistische Losungen, gegen die Versuchung, alles immer und sofort zu brauchen.

"Man hat die Verantwortung, bei rechter Hetze dagegenzuhalten", hat Ingo Knollmann erklärt, als ihn das Jugendmagazin "Neon" zur Motivation seiner Band befragt hat, sich immer wieder und unumwunden in den Kampf gegen neue Nazis und altes faschistisches Gedankengut zu stürzen. Es gehe darum, Jugendliche nicht mit den falschen Gedanken allein zu lassen, sondern ihnen Orientierung zu geben, so gut man könne. "Wenn man als Band die Kids da draußen wirklich unmittelbar mit Herz und Kopf erreichen kann, dann sollte man das auf jeden Fall tun", glaubt Knollmann.

"Lauter als Bomben" ist denn auch ein politisches Album geworden, ohne in plumpe Propaganda abzustürzen. Die Botschaft der Donots ist dennoch jederzeit klar, aber sie wird nicht mit ermüdender Penetranz gesungen wie bei manchen gutwilligen Kollegen. Im Visier haben Lieder wie "Der Trick mit dem Fliegen" oder "Apollo Creed" zuallererst den Bewegungsapparat, die Refrains schreien nach Hallen, die jedes Wort mitsingen. Aber die werden die fünf Musiker auf der anstehenden Tour zur Genüge zu hören bekommen.

Dienstag, 30. Januar 2018

Meister aus Halle: Der leise Tod einer Fussball-Legende

Werner Stricksner (Mitte) bei einem Spiel gegen Lok Leipzig im Jahr 1955, das am Ende 2:2 ausging.

Turbine Halle ist der letzte DDR-Fußballmeister, den Halle hatte. Und auch wenn Werner Stricksner damals im historischen Jahr 1952 nur ein einziges Spiel an der Seite von Legenden wie Herbert Rappsilver, Heinz Schleif, Horst Ebert I, Walter Schmidt, Otto Knefler und Erich Haase machte, war der 1926 geborene Hallenser doch Teil der legendären Meistermannschaft. Stricksner erlebte den histroischen 2:1-Auswärtssieg bei Turbine Erfurt, der die Meisterschaft perfekt machte, nicht auf dem Platz. Doch tausende mitgereiste Anhänger feierten auch den 25-Jährigen als Teil der bis heute letzten Fußballelf aus Halle, die eine Spielzeit einer höchsten Liga als Tabellenführer abschloss.




Deren Ende kam allerdings schneller als gedacht. Turbine rutschte erst ins Mittelmaß, dann kam aus der Parteibürokratie die Anweisung, dass die Oberligamannschaft zum neugegründeten Sportclub Chemie Halle-Leuna wechseln müsse. Es brauchte angeblich 34 Sitzungen, bis die widerstrebenden Spieler mit Druck und guten Worten und der Drohung, sonst nie wieder Oberligafußball spielen zu dürfen, bereit waren, Turbine zu verlassen und künftig für Chemie Halle-Leuna aufzulaufen. Auch Stricksner, der nach seinem Debüt noch weitere sieben Spiele für Turbine machte, spielte nun für Chemie. Er kam auf weitere 18 Oberligapartien - weniger als seine Namensvettern Diethart und Lothar, denn es lag von Anfang an kein Segen auf der von oben herbeigepressten Neugründung, die schon ein Jahrzehnt später erneut umgebaut und zum bis heute existierenden Halleschen FC wurde.

Schon am 24. April 1955 machte Chemie nach einer verheerenden Debütsaison sein letztes Oberliga-Spiel. Die Hallenser gewannen zwar mit 2:1 gegen den Armeeverein ZSK Vorwärts Berlin. Aber der Abstieg war amtlich. Auch in der Liga, in der Werner Stricksner zum Stamm gehörte, der den sofortigen Wiederaufstieg schaffen sollte, rangierte die junge Sockoll-Elf lange nur auf Platz 2 hinter dem Favoriten aus Jena.

Erst als der vor 25000 Zuschauern mit 4:2 aus dem halleschen Kurt-Wabbel-Stadion geschossen wurde, durften die Heuer, Klaus Hoffmann, Oelze; Bierbäum, Imhof; Lehrmann, Lehmann, Schmidt und Stricksner vom Aufstieg träumen. Im Dezember 1956 holten sich die Chemie-Fußballer dann durch einen 2:1-Sieg über Vorwärts Berlin vor 25 000 Zuschauern in Magdeburg dann auch noch sensationell den FDGB-Pokal. Unter Trainer Horst Sockoll lief neben Spielerlegenden wie Klaus Hoffmann, Robert Heyer, Wolfgang Knust, Werner Lehrmann, Walter Schmidt, Dieter Rauschenbach und Günter Imhoff auch Stricksner auf.

Der Abwehrrecke, der damit Meister und Pokalsieger war, beendete wenig später seine seine Spielerkarriere und wechselte auf die Trainerbank der Bezirks-Juniorenauswahl, der Nachwuchsabteilung des SC Chemie und der DDR-Juniorenauswahlmannschaft. Hauptberuflich als Sportlehrer tätig, trainierte Stricksner nebenher die Bezirksligaelf der BSG Motor Ammendorf. Mit der schnupperte der blonde Hallenser noch einmal Oberligaluft: Vor 1500 Zuschauern unterlag seine Elf 1962 im FDGB-Pokalspiel gegen den hochfavorisierten Meisterschaftsanwärter SC Empor Rostock.


Jetzt ist Werner Stricksner im Alter von 91 Jahren gestorben.


Samstag, 27. Januar 2018

Ursache-Prozess: Es gab keinen Plan B

Adrian Ursache steht seit Oktober wegen versuchten Mordes vor Gericht.


Ruhig, gelassen und bestimmt im Auftreten, dabei in manchen Momenten erstaunlich kenntnisfrei - so präsentierte sich die Leiterin des Polizeieinsatzes vom 25. August 2016 in Reuden an einem der letzten Verhandlungstage vor einer ausgedehnten Gerichtspause bis zum Februar als Zeugin vor Gericht.  Annett W. hatte den Einsatz mitgeplant, in dessen Folge der frühere "Mister Germany" Adrian Ursache seit Oktober wegen versuchten Mordes vor Gericht steht. Als  Chefin des Polizeireviers Burgenland war sie um Amtshilfe gebeten worden, damit ein Gerichtsvollzieher die Zwangsräumung des Hauses der Familie Ursache durchführen konnte. Angesichts des ihr bereits bekannten Adrian Ursache, sagte Annett W., habe dabei die höchste Konzentration darauf gelegen, „dass niemand dabei zu Schaden kommt“.

Aus Sicht der Polizei habe es sich bei dem Einsatz um eine außerordentliche Lage gehandelt. „Herr Ursache war früher schon verbal aggressiv gegen Beamte geworden“, sagte die 42-Jährige. Deshalb sei das Objekt durch zivile Beamte vorab überwacht worden, auch deren Einsatz habe dann aber auf die besondere Gefährlichkeit der Situation hingewiesen. „Die Zivilkräfte sind erkannt worden, Unterstützer von Herrn Ursache versuchten, die Fahrertür ihres Fahrzeuges zu öffnen und schließlich wurde der Heckscheibenwischer des Autos abgerissen.“ Sie habe die Kräfte daraufhin aus Reuden abgezogen.

Annett W. kannte zu dieser Zeit bereits Videos, die der jetzt Angeklagte ins Internet gestellt hatte. „Herr Ursache war früher schon verbal aggressiv gegen Beamte geworden“, beschrieb sie. In den Filmen habe er Behördenmitarbeiter als „Nasenbären“, „Nazis“ und „Clowns“ beschimpft, bis diese gezwungen waren, frühere Einsätze etwa zur Zustellung von Bußgeldbescheiden abzubrechen. Das habe sie als „Demütigung“ empfunden.

Diese Vorgeschichte ebnete dann wohl auch den Weg zur Eskalation am 25. August. Da die Einsatzleitung zum Schluss gekommen war, dass eine vernünftige Kommunikation mit Ursache vor Ort ohnehin nicht möglich sein werde, „weil er Behördenmitarbeiter generell nicht anerkennt“, verzichtete man darauf, speziell psychologisch geschulte Beamte als Verhandler einzusetzen. Es sei kurz zuvor bekannt geworden, dass Ursache angekündigt habe, dass er sich eine scharfe Waffe besorgen wolle. „Jeder Unterhändler hätte sich genauso in Gefahr gebracht wie die SEK-Beamten“, sagte Annett W., die früher selbst Angehörige in der Unterhändlergruppe war und vor Gericht ruhig, sachlich und überaus detailkundig auftrat.

Dass die Zielperson, gegen die ein ziviler Haftbefehl zur Abgabe der Eidesstattlichen Versicherung über die Vermögenslosigkeit vollstreckt werden sollte, am Morgen des Ereignistages im Auto weggefahren sei, was der Polizei nach Ansicht der Verteidigung die Chance verschafft hätte, Adrian Ursache ohne die Gefährdung anderer Personen festzunehmen, sei der Einsatzleitung nicht bekannt gewesen. Zudem, so Annett W., habe es keinen Plan B zum geplanten Zugriff der bereitstehenden 149 Beamten auf dem Grundstück gegeben. Den Vorhalt von Rechtsanwalt Manuel Lüdke, ob sie einen SEK-Einsatz gewollt habe, wies W. ebenso zurück wie die Vermutung, es habe politische Vorgaben für ihre Einsatzplanung gegeben. „Das war zu keiner Zeit der Fall.“

Keine Erklärung hatte sie dafür, dass allen beteiligten Behörden unbekannt war, in wie viele Grundstücke in unterschiedlichem Besitz sich das ins Visier genommene Zielgebiet wirklich aufteilte. Sie sei von zweien ausgegangen, sagte Annett W., von einem dritten sei ihr nichts bekannt gewesen. Dadurch waren im Verlauf des Einsatzes auch Unterstützer von Adrian Ursache festgenommen worden, die sich auf einem Gelände und in einem Gebäude befanden, das die Beamten nach Ansicht der Verteidigung gar nicht hätten betreten dürfen.

Adrian Ursache zog daraus einmal mehr den Schluss, dass er einem „totalitär-faschistischem System“ gegenüberstehe, das ihn zur Zeit „in Geiselhaft im KZ JVA Halle“ halte. Bemerkungen, die die Staatsanwaltschaft wörtlich ins Verhandlungsprotokoll aufnehmen ließ. Der 43-Jährige versicherte anschließend mehrfach, dass er fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehe. Auch das solle ins Protokoll. Er sei kein „Reichsbürger“, sondern "jüdischen Glaubens" (Ursache) und fest entschlossen, zu kämpfen, „damit sich unsere Geschichte nicht wiederholt“.

Der Prozess wird am 12. Februar fortgesetzt.

Mittwoch, 24. Januar 2018

Vor 25 Jahren: Dynamo Dresdner Drunter und Drüber

Vor 25 Jahren stand Dynamo Dresden vor Aus. Die Bilanz des Dresdner Fußballs nach anderthalb Jahren Bundesliga war ernüchternd: Die Klasse zwar gehalten, aber die Kassen waren leer. Die besten Spieler sind verkauft, doch die Millionen verschwunden. 16,4 Millionen Mark Schulden hatten die damals letzten Ost-Vertreter im Reigen der besten deutschen Kicker aufgehäuft. Gründe dafür gab es so viele, wie es Interessen im Gerangel um die Macht im maroden Klub gab. Dynamo war ein Verein der Widersprüche und Widersinnigkeiten, ein Objekt für Liebe und Geschäfte. Und auch die Rettung durch den hessischen Bauunternehmer Rolf-Jürgen Otto würde nicht die letzte bleiben.


Ein Krimi aus dem Jahr 1992.



Pascale, der Wirt der Dynamo-Schenke, hat schon gewaltige Schlachten erlebt. "Aber was uns heute Abend bevorsteht", poltert er, "hat ein anderes Kaliber." Heute Abend geht es nicht um Fußball. Heute Abend geht es um Glauben. "Wenn wir nämlich nicht mehr an uns selber glauben", wird Rolf Hekker, der in den Fünfzigern "ein knochenharter halblinker Läufer der Dynamo-Oberligaelf" gewesen sein will, später prophezeien, "dann wählen wir heute Abend den Otto und beten zu. Gott, dass er uns nicht belogen hat."


Um das Selbstbewußtsein der Dynamos ist es schlecht bestellt. Trotz achtbarem Platz 10 in der laufenden Saison steht es böse um den letzten ostdeutschen Fußballverein in der ersten Bundesliga, der von sich selbst sagt, er spiele nicht nur für Sachsen, sondern für die Fußballfans in allen fünf neuen Ländern.


Schalke auf sächsisch



Dynamo Dresden war in der alten DDR ein "Polizeisportverein", was Vereinsmitglieder vorsorglich immer erwähnen, um den Verdacht auszuräumen, Dynamo Dresden sei - wie die verabscheute Konkurrenz vom Berliner FC Dynamo - eine "Stasimannschaft" gewesen. "Dynamo - das ist unsere Show" hieß es damals in der Dresdner Vereinshymne - doch nie war der Spruch wahrer als heute. Gruppen und Grüppchen streiten beharrlich um die Macht, Rücktritte, Abtritte und verbale Tritte gegen gegnerische Schienbeine haben Dynamo den Ruf eines Skandalvereins eingebracht. 


Dynamo Dresden, das ist Schalke auf sächsisch. Hier gibt es Männer, die sich "Freunde" nennen, einander aber spinnefeind sind. "Retter" konkurrieren mit "Helfern"; "Geldgeber" und "Vertragspartner" entpuppen sich in schöner Regelmäßigkeit als Beutelschneider, Journalisten gruben im Vorleben von Präsidenten, Präsidenten wiederum setzten, so erzählen Eingeweihte, Detektive auf Journalisten an. Der einst gefürchtete "Dynamo-Kreisel" dreht sich denn auch nicht mehr auf unten auf dem Platz, wo die Mannschaft um Kapitän Müller gegen den Abstieg kickt, sondern in der Geschäftsstelle, die in einem angegrauten Betonflachbau neben dem Rudolf-Harbig-Stadion residiert.


Bei Dynamo, sagen die Dynamo-Fans, gibt es so viele Meinungen wie Mitglieder. Die sich daraus ergebenden Konflikte werden mit Verbissenheit ausgetragen: Staatsanwälte beschäftigen sich mit dem Geschäftsgebahren des Klubs, Stasivorwürfe wurden erhoben und widerlegt, Anzeigen erstattet und zurückgezogen. Paragraphen, Verträge und diverse "Formfehler" in ihnen sind längst so wichtig wie Spiele, Tore und Punkte. Gleich eine Handvoll Anwälte verdient nicht schlecht an dem Verein, dessen letzter Präsident nicht zu sagen wusste, "wie ich den Bus zum nächsten Auswärtsspiel bezahlen soll."



Dynamos Schicksal sind die Umstände. Und Dynamos Schicksal sind die Menschen, die sich vom ersten Spieltag in der 1. Liga mühten, mit den Umständen klarzukommen. Warum das nicht gelang? Reinhard Hafner, einst begnadeter Mittelfeldspieler, erklärt es mit allgegenwärtigen "Fallstricken, über die jeder Neuling in diesem Geschäft gestolpert wäre."

Dieter Burmester dagegen, von Haus aus Autohändler, ist Anhänger der "Anschluss-Theorie." "Dynamo hat dieselben Probleme gehabt wie all die Ost-Betriebe, die sich auf einmal mit der westlichen Konkurrenz auseinandersetzen mussten", referiert er. Es habe "keine Schonzeit" für die Sachsen gegeben, "wir sind ins Wasser geworfen worden und mussten sofort losrudern." Burmester, gebürtiger Bremer und letzter Dynamo-Interimspräsident, muss es wissen. Hat er doch seine Zelte gleich nach der Einheit an die Elbe verlegt und sich den eben aus der Oberliga in die 1. Bundesliga beförderten Dynamos als Sponsor angedient. 

"Damals", erzählt der "Wahlsachse" mit dem nasal gesnackten "R" der Norddeutschen, "hatten wir hier 84 hauptamtliche Klubmitarbeiter, 84!" Ahnung von Buchhaltung, Vertragsgestaltung und Management hatte keiner - folglich schlug die Stunde der "Berater." Im Ergebnis wurde*da mal eine Vertragsklausel "vergessen" wie beim Matthias-Sammer-Verkauf an Stuttgart. Dort mal Geld zum Fenster herausgeworfen, wie beim Stadionumbau, für den Dynamo Millionen blechte, obwohl das Stadion der Stadt gehört. 

Schlechte Spieler

Schlechte Spieler wie der Leverkusener Page wurden für gutes Geld teuer gekauft, worüber sich die Insider bei den Westklubs vor Lachen immer noch die Bäuche halten. Das Sagen im Verein hatte die Gruppe um den schütterhaarigen Wolf-Rüdiger Ziegenbalg, einen in Radeberg beheimateten Rundfunkhändler, der "immer den besten Willen" hatte, aber schon mal mit der Einsicht kokettiert, dass "ich wohl ein bisschen zur Selbstdarstellung neige." Unter Selbstdarsteller Ziegenbalg, einem eifrigen Amateur im Profi-Geschäft, war der große Wurf gelungen: Spielen in der Bundesliga. Aber Bundesliga, die Ernüchterung folgte auf dem Fuße, ist kein Spiel.


Schon kurz nach Saisonbeginn '91 steht "Boards & Sports", die Hamburger Werbeagentur, die alle Vermarktungsrechte an Dynamo hält, vor dem Konkurs. Fieberhaft macht sich das Präsidium auf die Suche nach neuen Geldgebern. Fündig allerdings wird ein anderer. Dynamo-Geschäftsführer Manfred Kluge, ein fülliger, gamsbärtiger Mensch mit Geschäftssinn und dem Blick für Gelegenheiten, nimmt Kontakt zum Saarbrücker Werbemann Georg Rebmann auf und überredet diesen, mit seiner Firma "Sorad" neuer Partner von Dynamo zu werden. Wolf-Rüdiger Ziegenbalg, seitdem nach eigener Ansicht "um etliche Illusionen ärmer geworden", unterschreibt die Verträge 14 Tage später, "weil die Frage stand: Sorad oder Pleite." Sorad hilft Dynamo mit einem 2,5 Millionen-Darlehen aus dem Gröbsten, der Klub scheint gerettet. Der Preis dafür ist die knebelvertraglich besiegelte Umarmung Rebmanns, der nur "das Beste für beide Seiten" will. Und fortan 40 Prozent aller Dynamo-Einnahmen einstreicht.


"Belege in Kartons gestapelt"



Das Loch in der Kasse des letzten ostdeutschen Erstligisten wird nun täglich um rund 30 000 Mark größer, "ganz einfach weil", erklärt Ziegenbalg, "mehr Geld 'rausging, als 'reinkam." "Aber die Zustände in der Buchführung", schimpft Dieter Burmester, "waren so katastrophal, daß das gar keiner gemerkt hat." Solange Geld da war, wurde auch welches ausgegeben. 


Burmester schildert die Zustände in der Geschäftsstelle: "Keine Nachweisführung, dafür Belege in Kartons gestapelt; marode Finanzen, über die aber keine konkrete Übersicht." Der Sessel von Wolf-Rüdiger Ziegenbalg wackelt nun bereits beträchtlich. Aber noch einmal setzt sich der "Ursachse" durch: "Wir Sachsen brauchen keine Wessi-Hilfe", kreiert er einen neuen Dynamo-Leitspruch, der den selbstverliebten sächsischen Fans, die sich ohnehin beständig von West-Schiedsrichtern und West-Funktionären benachteiligt fühlen, runtergeht wie Öl. 

Statt des importierten Helmut Schulte, dem das "Dresdner Umfeld nicht gefällt", entert Ex-Trainer und Ex-Manager Klaus Sammer die Bank. Reinhard Hafner, der die Dynamos in die Bundesliga trainiert hatte, dann aber für den Hamburger Schulte Platz machen musste, "weil wir jetzt einen erfahrenen Mann auf der Bank brauchen" (Ziegenbalg), besteigt den Managerstuhl. Die "sächsische Lösung", der Not gehorchend von Ziegenbalg in "schlaflosen Nächten" ausgebrütet, findet den Beifall der Fans. Und die Fußballwelt in Dresden ist wieder in Ordnung, auch wenn keines der wirklichen Probleme gelöst ist.


Otto heizt den Ofen



Rolf-Jürgen Otto, von humorig veranlagten Sachsen in Umkehrung seiner Initialien auch zynisch "J. R." genannt wie das Ekel aus der Fernsehserie "Dallas", hat Dynamo Dresden seitdem immer mal wieder gerettet. "Hätte der nicht dann und wann mal was in die Tüte gepackt", bestätigt Burmester, "wäre der Ofen lange aus." Rolf-Jürgen Otto ist in Dresden dennoch so unbeliebt wie kein zweiter. Ein kleiner, feister Mann mit Doppelkinn und beginnender Wirbelglatze ist der Frankfurter Bauunternehmer, der das "Hauptaugenmerk meiner Geschäftstätigkeit" vor zwei Jahren nach Sachsen verlegt hat und dort "Millionen investiert."


Otto, der in Dresden den Architekten Walter Hoff kennenlernt, hat ein "großes Fußballherz." Früher sponsorte er Tischtennisvereine und hielt Rennpferde, versuchte sich auch mal beim hessischen Oberligisten Neu-Isenburg, als aber der Aufstieg nicht gelang, gab Rolf Otto, damals noch ohne "Jürgen", sein Mäzenatentum auf. Erst in Dresden kam die Liebe zur schönsten Nebensache der Welt wieder über den 52-Jährigen. Mit ihm, dem millionenschweren Unternehmer, tritt Mitte vergangenen Jahres ein neuer, schwergewichtiger Mitspieler auf die umkämpfte Dynamo-Bühne.


Umkämpfte Bühne


Ziegenbalg ist als Schuldiger am Schlamassel um die Klubfinanzen ausgemacht. Der Radeberger soll gehen. An seine Stelle soll Walter Hoff, Ottos Busenund Geschäftsfreund, treten. Aber obgleich Hoff, ein langhaariger Playboytyp, als Morgengabe für den Fall seiner Wahl einen auf anderthalb Millionen dotierten Otto-Scheck vorweisen kann, fällt der Ludwigsburger Präsidentenimport bei den Sachsen durch. Der geschickte Taktierer Ziegenbalg, ganz auf seinen Ost-Bonus setzend, bleibt Chef im Verein, in dem die wahre Macht allerdings längst Sorad-Chef Rebmann in Händen hält.


Burmester und der aus Süddeutschland stammende Georg Schauz rücken nunmehr fest ins Präsidium. Unter diesem Trio wird der Verein, der nach dem Versuch, die Sorad-Verträge einseitig zu kündigen, "nahezu handlungsunfähig" ist, mehrmals vom ehemals für Sorad tätigen Wirtschaftsprüfer Walter Knief durchleuchtet. Dessen Fazit: "Der Stand des Vereines ist in höchstem Maße gefährdet, der Konkurs droht." Im Streit zwischen Ziegenbalg, dem "Totengräber des Vereins" (Freundeskreis), und Sorad-Chef Rebmann schlägt sich Otto im Dezember dennoch überraschend auf die Seite des Dynamo-Präsidenten. 

Das allerdings nur, um die Brocken acht Tage später mit dem Hinweis, Dynamo sei "ein Faß ohne Boden", wieder hinzuschmeißen. Erst solle Ziegenbalg gehen, dann wolle er, Otto, auch wieder Geld lockermachen. Ziegenbalg weigert sich. Nun überschlagen sich die Ereignisse. Rebmann droht mit Schadenersatzforderungen in Höhe von 15 Millionen und Pfändung der Vereinskasse. Otto winkt mit Millionen, rückt aber keinen Pfennig heraus. Erst ein neues Gutachten von Knief gibt den Ausschlag - Silvester tritt der gestresste Ziegenbalg, der sich "nach wie vor unschuldig" fühlt und verschlungenen Verschwörungstheorien nachhängt, ab. Burmester übernimmt kommissarisch, aber, wie er sagt "ohne weitere Ambitionen." Eine Provinzposse.


Da Geschichte sich, wenn überhaupt, dann als Farce wiederholt, findet der vorerst letzte Akt im Dresdner Drunter und Drüber passenderweise im großen Saal des Hygienemuseum statt. Nach dem Rücktritt von Wolf-Rüdiger Ziegenbalg hat sich eine neue Koalition gebildet: Die Otto-Gruppe geht jetzt mit dem Rumpfpräsidium Burmester zusammen.


Der "Freundeskreis", die ehemalige "offizielle" Opposition im Verein, hat sich nach Herzattacken und Kreislaufschwächen ihrer Führungspersönlichkeiten aufgelöst. Neugegründet dagegen hat sich das "Rettungsgremium", dessen Mitglieder - darunter Opernsänger Gunter Emmerlich, Sachsens Innenminister Eggert und andere Prominente - eine "sächsische Lösung" für Dynamo suchen, aber lange nichts als kämpferische Parolen vorzubringen imstande sind.


Die Gegenseite


Dagegen ist die Aufgabenverteilung auf der Gegenseite klar: Autohändler Burmester und sein Copilot Georg Schauz, ein Elan versprühender Endzwanziger, der mit Vorliebe bayrische Trachtenjakketts trägt, bereiten die Wahlversammlung vor, auf der Rolf-Jürgen Otto zum neuen Dynamo-Präsidenten gekürt werden soll. Otto revanciert sich dafür mit zwei Plätzen in seiner "Regierungsmannschaft." Weitere Rollen sind mit Dynamo; Anwalt Christoph Schickhardt, wie Hoff aus Ludwigsburg stammend und dem Otto/Hoff-Imperium verbunden, und Peter Knief, dem Hamburger Wirtschaftsprüfer, besetzt. Schickhardt ist von der Regie als Veranstaltungsleiter vorgesehen, Knief hält den Bericht des unabhängigen Wirtschaftsprüfers, in dem gesagt wird, daß es schlechter als schlecht steht und „der Verein Montag morgen zum Konkursrichter gehen muß, wenn die Mitglieder nicht jemanden wählen, der für die dringendsten Verbindlichkeiten in Höhe von rund fünf Millionen Mark geradesteht."

Für's Geradestehen kommt nurmehr einer in Frage: Otto, von seinem Clan umlagert, hockt pausbäckig in der ersten Reihe und beobachtet zufrieden, wie Burmester, Schickhardt und Knief für ihn Wahlkampf machen. Für Burmester ist er der „einzige akzeptable Kandidat, der das mitbringt, was wir brauchen: Geld und Abmachungen mit Herrn Rebmann, um die Knebelverträge zu lösen oder nachzubessern." Burmester warnt die knapp 600 Dynamo-Mitglieder im Saal: „Jeder, der sich hier heute abend versündigt, macht sich zum Totengräber des Klubs."


Totengräber des Klubs


Knief bekräftigt die Worte des Interimspräsidenten: „Heute ist nicht der Tag, über die Vergangenheit zu diskutieren, heute ist der Tag, über die Zukunft zu entscheiden." Und Zukunft, soviel hat unterdessen auch der letzte im Saal begriffen, heißt bei Dynamo Otto.

Die alten Männer auf der Seitentribüne aber zürnen. „Sturmreif schießen nenne ich sowas", nörgelt der schmerbäuchige Ex-Halblinke Rolf Hecker verachtungsvoll. Man könne seinetwegen auch „Erpressung" dazu sagen. Falk Reinhardt, Dynamo-Nachwuchsschiedsrichter und „Mitglied seit Anfang der Siebziger", ärgert sich, „daß nur Hanseaten, Hessen und Bayern da unten 'rumsitzen, als Sachse verstehst Du ja kein Wort von derem Gequatsche!"


Die Sachsen sind eigen


Ausgerechnet da sind die Sachsen eigen: Einerseits tragen sie ihrem Premier Biedenkopf ausdauernd nach, daß er „sich noch nie auf dem Platz hat blicken lassen" (Reinhard), andererseits ist ihnen Otto, der auch nach zwei Jahren Ostengagement noch im Hotel lebende Hesse mit dem zum „Seh" umgeschliffenen „S" und der Liebe zu Dynamo, auch bloß suspekt. Daß der letzte Ostverein künftig von „zwielichtigen Zugereisten" (Fankneipier Wolfgang Bellmann) geführt werden könnte, berührt die sensibelsten Empfindlichkeiten der Alteingesessenen. Darauf angesprochen, fallen sie ins Philosophieren. Dynamo, das sei ein Stück sächsische Lebensart. 


Ein Glaube. Eine Lebenseinstellung. "Eine Religion. Hekker und seine Freunde sitzen seit 30 Jahren jedes Wochenende auf der Tribüne - Einmischung „von Leud'n, die uns goar ni' verstehn gönn, gönn mir hier goar ni' gebrauch'n", schimpfen sie. Otto hat zwar die Millionen und dazu die Stirn, sich in einer von Wutanfällen unterbrochenen Rede als „verliebt in den hiesigen Menschenschlag" und als „einer von euch Sachsen" zu bezeichnen."

Aber die wachsamen Dynamo-Fans hören doch nur heraus, „dass da eener unseren Verein koofen will, dem jedes Mittel recht ist." Das wird klar, als sich Ex-Präsident Ziegenbalg zu Wort meldet. Er, so der Ex-Präsident, wolle zu den Ursachen der jetzigen Situation sprechen, „um die künftige Vereinsführung zu warnen". Unruhe im Präsidium. Schickhardt, dem jede Abweichung von der Tagungsregie körperliche Schmerzen zu bereiten scheint, lehnt ab.

Ziegenbalgs Antrag wird nicht abgestimmt. Ziegenbalg, beantragt Otto-Intimus Hoff, solle nach erfolgter Wahl unter Punkt 10/Sonstiges, zu Wort kommen. Darüber läßt Schickhardt eilig abstimmen. Hoffs Antrag wird abgelehnt. Im Saal wird vielstimmig gebrüllt: ,;Antrag! Antrag! Ziegenbalg soll reden!" Die Szenerie erinnert an die letzten Tage im Parlament der verendenden DDR. Schickhardt schafft es irgendwie, diesmal nicht abstimmen zu lassen. „Fünf Minuten gebe ich Ihnen, Herr Ziegenbalg", sagt er stattdessen. Der Expräsidenten jedoch sieht sich außerstande „drei Jahre Präsidentenzeit in fünf Minuten abzuhandeln."

Das wiederum tut Schickhardt leid. Aufatmen im Präsidium. Ziegenbalg geht. Tumult im Saal. Eine Traube von Mitgliedern folgt dem Ex-Präsidenten. Nur links vorn wird die Rückkehr zur Tagesordnung beklatscht. „Da sitzt die KKH", klärt Theo Stahlschmid, ein nach der Wende aus Stuttgart zurückgekehrter gebürtiger Sachse, die zahlreichen Journalisten beim Bier in der nun restlos überfüllten Pausenbar bereitwillig auf, „weil ich es unmöglich finde, wie hier 500 Ostler von fünf Westlern über den Tisch gezogen werden."

350 neue Mitglieder hat das Präsidium Dynamo Dresdens seit dem Rücktritt von Ziegenbalg aufgenommen - darunter auch „fast die komplette KKH-Belegschaft", wie Ziegenbalg weiß.

Schwelende Liebe entdeckt


Nicht um Fußball geht es hier, sondern um Macht und um Pfründe. Georg Schauz, Ottos Kandidat für den Posten des Schatzmeisters, kommt von der KKH. Das ist nicht alles: Auch ein Gutteil von Ottos 600 sächsischen Bauarbeitern soll in den letzten Wochen vor der Entscheidungsschlacht ihre schwelende Liebe zu Dynamo entdeckt und einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt haben. Und: Peter Vogt, von Schickhardt in die Wahlkommission berufen, ist Verkäufer im Autohaus Burmester. Und: Hans-Jürgen Behr, der „Alibi-Sachse" (Freundeskreis-Anwalt von Kummer) in Ottos Regierungsmannschaft, ist Bürgermeister ausgerechnet in Weißig, dem Ort, in dem Bau-,
löwe Otto die Hälfte des Grund und Bodens gekauft hat, um Millionen zu investieren.

Nein, Rolf-Jürgen Otto hat nichts dem Zufall überlassen. „Was hier läuft, ist eine Farce", winkt Hansi Kreische, einer aus der Dynamo-Traummannschaft der siebziger Jahre, der heute die Dynamo-Amateure trainiert, beim Pausenbier im Foyer mutlos ab. Kreische, wie Ex-Stürmerkollege Ralf Minge stiller Unterstützer der vom Rettungskomitee mit Hilfe der Stadt bis zur letzten Sekunde betriebenen „sächsischen Lösung", sieht enttäuscht aus, weil er sich „unter Demokratie doch etwas anderes vorgestellt"' hatte als daß „die Leute mit Geld und Winkeladvokatenmethoden gezwungen werden, irgendwas zu tun, was ihnen eigentlich gegen den Strich geht." 


Aber „eins wirst Du noch sehen, Hansi", fällt ihm die 72jährige Dynamo-Trainerlegende Walter Fritzsch da vom Nachbartisch tröstend ins Wort, „solche wie der Otto kommen und gehen, Dynamo Dresden aber bleibt."