Montag, 14. Mai 2018

Andy Weir: Die Frau im Mond


Mit seinem Debütroman "Der Marsianer" wurde der Amerikaner Andy Weir schlagartig zum Weltstar. Der Nachfolger "Artemis" spielt in einer Stadt auf dem Mond.

Es war eine verzweifelte Idee, die den kalifornischen Softwareprogrammierer Andy Weir mit Anfang 40 beinahe über Nacht zu einem literarischen Weltstar werden ließ. Weir hatte für ein Buch, an dem er lange Jahren herumtüftelte, einfach keinen Verleger gefunden. Und das Werk, das der Frage nachging, was wohl passieren würde, bliebe ein einzelner Astronaut auf einer Marsexpedition allein auf dem roten Planeten zurück, schließlich notgedrungen einfach im Internet veröffentlicht.

Ein Hit. Das Gedankenexperiment faszinierte zehntausende Leser, Weir schraubte hier und verbesserte dort. Und als die großen Verlage schließlich Schlange standen, war aus dem Hobbyschriftsteller schon ein Vorlagengeber für Hollywood geworden: Altstar Ridley Scott verfilmte die Geschichte um den auf dem Mars gestrandeten Astronauten Mark Watney mit Matt Damon in der Hauptrolle. Der Film war weniger als das Buch ein von Mathematik, Physik, Chemie und amerikanischen Pioniergeist gespeistes Wissenschaftsdrama. Aber genauso erfolgreich. Andy Weir kann seitdem Bücher schreiben, so viele er mag. Er ist schließlich eines dieser so selten gewordenen literarischen Wunderkinder, die eine eigene, unverwechselbare Sprache in einer eigenen Nische sprechen - und dennoch ein Millionenpublikum erreichen.

Mit "Artemis", seinem zweiten Buch, wird Weir das zweifellos wieder gelingen. Denn der inzwischen 45-Jährige variiert seinen Stoff nur vorsichtig. Diesmal spielt die Handlung auf dem Erdmond, der zum Zeitpunkt der Ereignisse am Ende des Jahrhunderts besiedelt ist. Artemis heißt die Mondstadt, in der das Mädchen Jazz Bashara aufgewachsen ist und in der sie nun als eine Art Tagelöhnerin lebt. Mit großen Träumen allerdings, denn richtig glücklich ist die Tochter eines auf den Mond ausgewanderten Handwerkers nicht mit ihrer Rolle als Gelegenheitskurierin, die ihren Job hauptsächlich als Tarnung für ein florierendes Schmuggelgewerbe für alles nutzt, was es auf dem Mond offiziell nicht geben soll.

Wie seine Space Opera vom Mars lebt auch Weirs neuer Weltraumthriller von der Faszination der gnadenlosen Begrenzung aller Dinge mitten im unendlichen Kosmos. Es gibt nicht genug Luft, nicht genug Wasser, nicht genug von irgendetwas, weil alles von der Erde heraufgebracht werden muss. Artemis, gegründet unter der Hoheit des Kongo, der Mitte des 21. Jahrhundert durch eine kluge Steuerpolitik zur führenden Weltraumnation wurde, ist weniger Stadt als Dorf. Eine multikulturelle Minigesellschaft am Rande des Niedergangs, weil der Weltraumboom längst vorüber ist, der Erhalt der Anlagen teuer und das einzige Exportgut Aluminium nicht mehr teuer genug.

Eine Welt auf der Kippe, Leben, das mit spitzem Bleistift rechnen muss. Jeder kennt hier jeden, die Staatsmacht wird geduzt. Die halbe Bevölkerung ist zudem in der Reparaturbranche tätig, weil Artemis unübersehbar Abnutzungserscheinungen zeigt. Die fünf durch Gänge verbundenen Kuppeln funktionieren nur durch konsequente Einhaltung von Regeln. Jede Verletzung hat tödliche Konsequenzen, jeder Verstoß muss deshalb geahndet werden.

Was nicht bedeutet, dass Jazz Bashara nicht bereit wäre, auch über die zulässigen Grenzen zu gehen, um sich ihren Traum von Unabhängigkeit und Wohlstand zu erfüllen. Als ein auf den Mond geflüchteter Milliardär sie bittet, ihm mit einem großangelegten Sabotagemanöver gegen die größte Bergbaugesellschaft auf dem Mond zu helfen, um in den Besitz der Firma zu gelangen, zögert sie nicht lange, die Chance zu ergreifen. Nur ein paar kleine Manipulationen, ein paar Sprengungen weit draußen, wo niemand Schaden nehmen kann. Und das Leben ist geritzt.

Es ist dann genau der Andy Weir, den Leserinnen und Leser vom "Marsianer" kennen, der die Ausführung der Aktion schildert, die im luftleeren Raum auf ganz andere Schwierigkeiten trifft als sie das auf der guten alten Erde täte. Jazz Bashara plant vorzüglich, aber der Kosmos hat eigene Vorstellungen: Es gibt einen Mord, ein Mafiakiller taucht auf, die Luft wird dünn und Weirs Heldin muss wie damals Mark Watney auf dem Mars alle Register ziehen, um am Leben zu bleiben. Unter Bedingungen, die es schon zur Herausforderung machen, von einer Kuppel in die andere zu gelangen, wenn man den normalen Verbindungsgang nicht benutzen kann, entwickelt Weir einen packenden Thriller voll überraschender Wendungen, der nichts gemein hat mit Ballerorgien a lá "Star Wars".

Denn hier geht es streng wissenschaftlich zu. Andy Weir hält die Anzahl der Mitwirkenden in seinem Kammerspiel auf Luna überschaubar, die Schauplätze sind es sowieso, auch die Hintergründe der Verschwörung, die Jazz Bashara nach und nach aufdeckt, sind nicht allzu komplex, sondern auch im vollen Lesesog, den Weir automatisch provoziert, leicht zu bewältigen.

Demnächst dann auch wieder im Kino.

Sonntag, 6. Mai 2018

Jütland: Auf der falschen Ost­see-Seite


Hinter Flensburg fängt das Unbekannte an: Südjütland hat Meer und Seen und Strand und ist von den großen Urlauberströmen noch völlig unentdeckt.

Michael Rasmussen staunt. "Von Deutschland seid ihr", fragt er, "und ihr macht hier Urlaub?" Rasmussen, der als Feuerwehrmann in Kopenhagen arbeitet, glaubt es nicht. Er winkt zum Strand: Still ist der, nur ein paar Möwen keifen unterm Regenwolkenhimmel und ein Fahrradwanderer strampelt vorbei.

Hier im kleinen Örtchen Juelsminde machen Dänen Urlaub. Deutsche Feriengäste hingegen versammeln sich eher auf Sealand, wo die Fähre aus Rostock anlegt. Denn Jütland, das ist für Urlauber aus dem Süden der Landstrich oben an der Nordsee, an dem die Olsenbande alte Bunker nach Nazi-Gold durchsuchte.

Jütland aber fängt viel früher an, genau genommen sogar schon ein paar Kilometer hinter Flensburg. Und auch der Süden Jütlands hat alles zu bieten, was das Urlauberherz begehrt: lange Strände, einsame Buchten, versteckte Angelseen und malerische Holz-Häuser, Sportangebote und sehenswerte Ausflugsziele, pittoreske Städtchen, Bootsverleihe und Museen. "Das weiß nur keiner bei Euch", ist sich Michael Rasmussen sicher.

Denn obwohl Deutschlands nördlichem Nachbarn der Ruf vorauseilt, besonders teuer zu sein, kann es an den Preisen nicht liegen. Zwar schlägt der Familienbesuch im Restaurant im Kleinstadtlokal von Juelsminde kräftig ins Kontor, dafür unterscheidet sich die Supermarkt-Rechnung kaum von einer deutschen. Jütland, benannt nach den Jüten, die vor 1 500 Jahren eigentlich nach England wollten, dann aber schon hier hängenblieben, ist ein aufgeräumtes Fleckchenen Land. Gemähter Rasen, gekehrte Straßen. Ein Himmel wie blankgeputzt.

Und über allem weht der "Danebrok", die rot-weiße Fahne, für die jeder Hausbesitzer einen Mast im Garten errichten lässt. Ihre Nachbarn auf Zeit behandeln die Jütländer mit übersprudelnder Freundlichkeit. Es wird kaum deutsch gesprochen, doch bei der Suche nach dem Fahrradverleih ersetzen Nachbarn wie Michael und seine Frau Mona jedes Touristenbüro.

Das ist nicht allzu schwer, weil das landwirtschaftlich geprägte Jütland sich eingerichtet hat auf ein Leben als Feriengebiet. Von Vejle und Horsens gibt es Rundfahrten auf den Fjord, Geschichtsinteressierte lockt das Kattegat-Center, Tierfreunde das "Akvarium-Oceanarium". Eine halbe Autostunde entfernt wartet das "Legoland" in Billund, eine Stunde ist es bis zum Freizeitpark Tivoli Friheden.

Zwischen Radtour und Hafenfest, Angelausflug am Waldsee und Schwimmen im eisigen Meer herrscht ein ganz anderes Ostsee-Gefühl als drüben auf der deutschen Seite. Die langen Strände sind immer leer, weil es keine Hotels gibt. Kein Gedränge um einen Strandkorb, kein Marsch der Massen auf der abendlichen Promenade, keine Schlange vor der Eisbude.

Jütland ist so mehr Urlaub, mehr Erholung. "Deshalb fahren wir ja hierher", sagt Michael Rasmussen.

Samstag, 28. April 2018

Tod eines Hoffnungsträgers: Werner Lamberz und die Jagd auf Schwarzer Adler

Eigentlich war an jenem 6. März 1978 im Städtchen Beni Walid für den dreimotorigen Großraum-Hubschrauber "Super Frelon SA 321" ein striktes Nachtflug-Verbot verhängt worden. Doch dann steigt die Luftwaffen-Maschine, die erst am Morgen aus dem rund 160 Kilometer entfernten Tripolis gekommen war, abends gegen 21.30 Uhr doch noch zum Rückflug in die libysche Hauptstadt auf. Wenig später schon muss der Helikopter notlanden. Die beiden Piloten melden per Funk, dass sich eine Verkleidung am Motor geöffnet habe. Nach 20 Minuten ist eine Ersatzmaschine eingetroffen, der Flug kann fortgesetzt werden.

Unmittelbar nach dem erneuten Start aber kommt es zur Katastrophe: Der "Super Frelon" gerät ins Trudeln und fällt wie ein Stein vom Himmel. 13 Menschen sterben in der Wüstennacht, unter ihnen auch das DDR-Politbüromitglied Werner Lamberz, SED-ZK-Mitglied Paul Markowski, der Fotograf Hans-Joachim Spremberg und der Dolmetscher Armin Ernst.


Genosse mit exotischer Biografie


Werner Lamberz, 48 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier Kinder, galt in der DDR als Hoffnungsträger. Der Sohn des Bauarbeiters Peter Lamberz, der wegen seiner Mitgliedschaft in der KPD im KZ Buchenwald landete, verkörperte einen neuen Funktionärstyp. Werner Lamberz' Biografie mutet exotisch an: Um nach der Verhaftung des Vaters weitere Repressionen von der Familie fern zu halten, schickt seine Mutter ihn zuerst zur Hitler-Jugend, mit zwölf Jahren dann sogar ins Ordensburg-Internat der Adolf-Hitler-Schule. Nach dem Krieg absolviert Lamberz eine Installateurslehre im Rheinland. Als seine Mutter stirbt, wechselt er in die Ost-Zone, wo sein Vater als Landrat arbeitet. Hier beginnt der rasante Aufstieg des Werner Lamberz zum Kronprinzen von Erich Honecker. 1947 SED-Eintritt, 1950 Parteisekretär, dann Hochschule in Moskau, 1963 Kandidat des Zentralkomitees und Chef der Abteilung Agitation, die die DDR-Massenmedien kontrolliert.

Schnell rückt er in die Volkskammer und das Politbüro auf - Hinweise darauf, dass Lamberz, ein eloquenter Plauderer, der zehn Fremdsprachen beherrscht, der kommende Mann an der Staatsspitze sein könnte. 1978 ist Lamberz bereits Honeckers Eingreiftruppe für besonders heikle Missionen: Die Affäre um die Ausreise von Manfred Krug hat er ebenso abgewickelt wie die Biermann-Krise. In Libyen nun ist er als Sonderbotschafter von Honecker unterwegs, um Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi Militärhilfe anzubieten und Dollarkredite für die DDR zu besorgen.

Werner und der frische Wind


"Werner Lamberz war jemand, der frischen Wind mitbrachte", erinnert sich auch Ex-DDR-Planungschef Gerhard Schürer, "und er hat seine Meinung auch gegenüber Honecker vertreten." Als die DDR-Führung per Blitz-Telegramm aus Libyen vom "bv" genannten "besonderen Vorkommnis" in der Wüste erfährt, kursieren denn auch sofort Verschwörungstheorien selbst unter den Funktionären. "Angeblich habe es einen Anschlag gegeben", sagt Schürer. So munkelte man, das Attentat habe eigentlich Gaddafi gegolten, der sich nur durch Zufall nicht in der Maschine befunden hätte. Andere sahen Stasi-Chef Mielke als Drahtzieher. Im Auftrag von Honecker, der sich vor einem erstarkenden Lamberz gefürchtet habe, sei der Auftrag für den Absturz ergangen. "Es kursierten sogar Witze darüber, dass die härteste Parteistrafe jetzt ein Rundflug über Libyen ist."

Indizien gab es dafür: So hatte Lamberz' Leibwächter Rolf Heidemann den Flug nach Beni Walid aus unerfindlichen Gründen nicht mit angetreten. Nach dem Absturz verbaten sich die Libyer jede Mitarbeit der DDR bei der Untersuchung des Unglücks.


Die DDR-Führung behandelte den Absturz als "tragischen Unglücksfall". Noch in der Nacht wird der 2. Sekretär Wolfgang Pohl nach Libyen geschickt, um die Toten zu identifizieren. Nicht einmal zwölf Stunden später landet eine Maschine mit vier versiegelten Zinksärgen auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld. Noch am selben Abend liegen die sterblichen Überreste auf den Obduktionstischen im Institut für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Uni. Bereits bei der Öffnung der Särge stellt Professor Otto Prokop fest, "dass es sich um hochgradig verkohlte" Torsi handelt. So steht es im Obduktionsbericht, der jetzt in den Archiven der Gauck-Behörde gefunden wurde. Trotz der "äußerst erschwerten Befundserhebungen" habe bei allen als Todesursache eine "Verbrennung durch massive Hitzeeinwirkung" festgestellt werden können. "Fernerhin", schreibt Stasi-Oberst Pyka an seinen Chef Erich Mielke, "fanden sich sichere Zeichen für eine Verbrennung zu Lebzeiten."

Die Stasi sucht einen Mörder


Die Untersuchungen stützen die These vom Unglücksfall. Auch Röntgenuntersuchungen, schreibt Prokop, hätten keine Anhaltspunkte für "Einsprengungen von Fremdkörpern" ergeben, was "eine gewaltsame Todesart in Form von Sprengkörpern oder Geschossen ausschließt". Da die Skelette keinerlei Brüche aufwiesen, könne eine Explosion in großer Höhe ausgeschlossen werden. "Daraus ergibt sich als Unfallursache ein plötzlicher Absturz aus niedriger Höhe mit Brandfolge."

Während in der misstrauischen DDR-Bevölkerung immer neue Gerüchte über ein Attentat auf den beliebten Politiker die Runde machen, stellt die Stasi-Hauptabteilung IX die Ermittlungen in der "Leichensache L." (MfS) überraschend schnell ein. Die Theorie vom Unglücksfall, die Lamberz' Witwe Ingrid schon in der Todesnacht präsentiert bekam, gilt nun als amtlich. Die Libyer sind in ihrem Untersuchungsbericht zu dem Schluss gekommen, dass sich ein Rotorblatt gelöst hat und die Piloten dadurch die Kontrolle über die Maschine verloren.

Doch schon zwei Wochen später gerät diese Version ins Wanken, wie neu aufgetauchte Stasi-Dokumente jetzt belegen. Anlass ist eine Postkarte an das SED-Politbüro, die am 17. März in Halle in den Briefkasten geworfen worden war. Der Absender Mohammed Ben Yussuf, angeblich wohnhaft in der Leipziger Liebknecht-Straße 46, teilt darin mit, dass "die Verantwortung für den Abschuss des Hubschraubers die Organisation Black Eagle übernommen hat". Dabei handele es sich um eine Gruppe der Palästinensischen Befreiungsorganisation, die gegen Gaddafi kämpfe.


Organisation Schwarzer Adler


Sofort ordnet Erich Mielke republikweite Fahndungsmaßnahmen nach dem Absender an. Schnell stellte sich allerdings heraus, dass ein Ben Yussuf "unter der Adresse in Leipzig nicht wohnhaft ist". Auch die Jagd auf die ominöse "Organisation Schwarzer Adler" bringt keinen Erfolg. Bleibt nur die Postkarte, die nun durch Schriftsachverständige begutachtet wird. Von in der DDR lebenden Ausländern werden Schriftproben besorgt, und in den Bezirken Halle, Leipzig und Berlin beginnt eine flächendeckende Post-Überwachung. Ohne Ergebnis.

Schon drei Monate nach dem Absturz über der Wüste wird das komplette Material der "Leichensache L." ins Archiv gebracht. Die Gerüchte um den Tod des Honecker-Kronprinzen aber verstummten bis zum Ende der DDR nicht.

Im Februar 1990, als Lamberz' ehemaliger Leibwächter Rolf Heidemann das Material sichten will, sind Großteile der Akte verschwunden.

Donnerstag, 26. April 2018

Wandern auf der Rota Vicentina: Meer geht nicht


Im Südwesten führt ein 350 Kilometer langer Weg am Atlantik bis zum äußersten Ende Europas. Warum die malerische Rota Vicentina auch für unerfahrene Wanderer ein toller Tipp ist.

Es ging nicht mehr weiter, keinen Schritt. Die junge Frau hat sich in ihre Jacke gewickelt, den Rucksack unter den Kopf geschoben und sich am Wegesrand langgestreckt. Keine 50 Meter entfernt peitscht der Atlantik die Steilküste, weißer Schaum schwimmt auf den Wellen, über denen Störche kreisen. Kein Mensch ist zu sehen, nicht vorn und nicht hinten, kein Schiff, kein Boot und ein Auto sowieso nicht. Wer hier schläft, der findet seine Ruhe.

Und wer hier wandert, tut es auch. Die Rota Vicentina, die von Santiago do Cacém im Norden über 350 Kilometer bis zum Cabo de São Vicente am äußersten südlichen Zipfel Portugals führt, ist ein einsamer Pfad. Verglichen mit großen Pilger- und Wanderrouten wie dem Jakobsweg in Frankreich und Spanien oder der Annapurnarunde in Nepal ist die Strecke, die zumeist direkt am Atlantik entlangführt, nahezu unbekannt. Völlig zu Unrecht, denn abgesehen von hohen Bergen bietet die Rota alles, was ein Wanderer sich wünscht: Abwechslungsreiche Landschaft, wilde Natur, weite Aussichten, einsame Dörfer und idyllische Badebuchten.

Das „Schlandern“ entspannt


Die locken in der Vorsaison allerdings nicht wirklich zum Baden. Ein Nieselregen treibt vom offenen Meer herein, die Sonne versteckt sich kurz hinter einer Wattewolke. Gelb und orange leuchtet das Land hinter Almograve, wo die Rota als breite Wanderautobahn Richtung Zambujeira do Mar führt. Links Hügel, rechts steile Felsen, die zum Meer abfallen. Wer auf der Rota wandert und unterwegs nicht zelten will, der bucht Hotels auf der Strecke. Von dort aus lässt sich der Rota-Gänger dann von einem Taxi an den Start der jeweiligen Tagestour fahren oder aber am Ende der Etappe abholen und zum Hotel zurückbringen.

Genusswandern ist das, hier „Schlandern“ genannt, wie eine Mischung aus Schlendern und Wandern. Gepäck muss niemand tragen, ein kleiner Tagesrucksack für Wasserflasche, Müsliriegel und Regenjacke reicht. Dazu ein paar Karten über den Streckenverlauf, der von ein paar wenigen missverständlichen Stellen abgesehen, hervorragend markiert ist.


Die Erfinder der erst 2012 offiziell eröffneten Rota Vicentina haben die Tagesetappen auch für ungeübte Wanderer überschaubar gehalten. Die gesamte Strecke ist in Abschnitte eingeteilt, die nicht länger sind als 20 Kilometer. Da es abgesehen von Teilstrecken an der Steilküste, die sich kilometerlang über kleinere Anstiege und Abstiege erstrecken, nur Höhenunterschiede von höchstens 200 Metern zu überwinden gibt, ist das in jeweils fünf bis höchstens sieben Stunden Gehzeit gut zu schaffen.

Unterwegs geht es an zerklüfteten Klippen und Felsbögen vorbei. Winzige, menschenleere Küstenorte finden sich ab und zu am Wegesrand. Wegen der reichen Fauna und Flora ist die Costa Vicentina zum Naturschutzgebiet erklärt worden, sie heißt jetzt „Parque Natural do Sudoeste“.

Zu Recht: Über dem Steilufer von Cabo Sardao fliegen die Sturmstörche zu ihren Nestern, die wie von einer geheimen Kraft festgenagelt auf schmalen Felsspitzen selbst peitschenden Atlantikstürmen trotzen. Wie Fischadler segeln die Riesenvögel durch die Böen, um die Horste mit neuen Zweigen in Schuss zu bringen. Am Wegesrand des Trilho dos Pescadores - zu deutsch Fischerpfad - blühen Blumen in allen Farben. Der Weg mäandert durch Pinienwälder und weiße Dünen. Das einsame Haus dort oben soll einmal Amália Rodrigues gehört haben, der „Königin des Fado“, des klassischen Klagegesangs der Portugiesen, die es lieben, Liebe, Ungerechtigkeit und Alter in Liedern voller Herzblut und wilden Tonsprüngen zu besingen.

Die letzte Thüringer Bratwurst


Das Ende der Welt - an der Costa Vicentina ist es nie allzuweit weg. Dabei scheint alles hier zugleich unendlich: Der Weg, der Himmel, die bizarren Felsen, die drei Meter hohen Wellen, die Wände aus Schiefer, Sandstein und Granit, die spritzende Gischt und die Schaumflocken, die bis 30 Meter hoch fliegen. Weil sich an der Rota die afrikanische Platte unter die europäische schiebt, stehen ganze Küstenabschnitte schief. Sie wirken, als würden sie gleich umfallen - oder seien es schon. Es wäre genug Platz da. Die Rota Vicentina verläuft ja entlang des äußersten Westens Europas. Gegenüber, 5 700 Kilometer entfernt, hinter ein paar winzigen Azoren-Inseln, liegt Atlantic City im US-Bundesstaat New Jersey.

Nach Süden zu, immer den Weg lang, ist am Leuchtturm am Cabo de São Vicente Schluss. Ein Kiosk bietet Thüringer Bratwurst, die letzte vor Amerika, wie Wirt Wolfgang Bald wirbt. Ringsum ist Wasser. Meer geht nicht.