Mittwoch, 23. Mai 2018

DSGVO: Europa kontra Internet

Mit neuen Regeln zum Datenschutz schickt sich die EU an, kleine Firmen und privater Blogger aus dem Netz zu vertreiben. Kurz vor dem Inkrafttreten der neuen, umfassenden Regelungen herrscht Unklarheit über Begriffe und Definitionen und die einzigen, die sich freuen, sind Fachexperten und Berater,  die eigentlich aber auch nicht besser wissen, wie ein rechtssicheres Angebot künftig aussehen muss.

Der wichtigste und sichtbarste Beitrag Europas zum Internet war über Jahre hinweg das fürchterlich nervende Banner, das vor jedem Besucher aufploppte, der sich zum ersten Mal auf eine Internetseite verirrt hatte, auf der er vorher noch nie war. Die Cookie-Richtlinie der EU zwang Seitenbetreiber, ihm mitzuteilen, dass auch ihre Seite tut, was alle Seiten im Internet tun: Cookies auf dem Rechner des Besuchers hinterlegen. Dabei handelt es sich um kleine Codestückchen, die dem Seitenbetreiber beim nächsten Besuch etwas über den Besucher verraten - etwa, dass er schon mal da war. Beim Besucher wiederum dafür sorgen, dass er sich nicht neu einloggen oder die Cookie-Warnung erneut mit einem Mausklick wegdrücken muss.

Autofahrer, die Verkehrsschilder bestätigen


Die war etwa so sinnvoll wie der Versuch, Autofahrer vor jedem Verkehrsschild zu zwingen, mit einem Klick zu bestätigen, dass sie das Schild gesehen haben. Aber seit die EU im Jahr 2009 eine neue Richtlinie über "die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation" beschlossen hatte, blieb niemand verschont. Zwar kritisierten Digitalverbände die nutzerfeindliche Regelung harsch. Aber nun legen EU-Parlament und EU-Rat mit der sogenannten "General Data Protection Regulation" - zu deutsch "Datenschutz-Grundverordnung" oder kurz DSGVO - noch einmal nach. Und das so, dass vor dem Inkrafttreten der Regelung bei Bloggern und kleinen Seitenbetreibern im Netz Panik herrscht: Die elf Kapitel der neuen Richtlinie, aufgeteilt in stolze 99 Artikel, machen aus dem Betreiben einer Internetseite für Katzenfotos, Kochrezepte oder selbstgeschriebene Kurzgeschichten ein Unternehmen, das von einem privaten Hobby-Webmaster kaum zu managen ist.

Denn die DSGVO, bereits 2016 beschlossen, legt ihr ganzes Augenmerk auf den Schutz von Daten - und weil im Netz alles irgendwie aus Daten besteht, muss nach der Logik der EU-Kommission eben alles geschützt werden. Als "personenbezogene Daten" bezeichnet die Regelung "alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person" beziehen. Und als identifizierbar wird eine natürliche Person schon angesehen, wenn sie "die direkt oder indirekt mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, einer Kennnummer, Standortdaten oder einer Online-Kennung identifiziert" werden kann. Eine IP-Adresse hat so denselben Stellenwert wie ein Passfoto, ein Cookie, eigentlich ein anonymes Stückchen Code, das keinen Nutzer, sondern einen bestimmten Browser identifiziert, wird plötzlich zu einem personenbezogenen und damit schutzbedürftigen Gut.


IP-Adressen als geschütztes Gut


Für kleine Firmen und Vereine aber auch für Blogger und Betreiber von privaten Internetseiten ändert das alles. Es reicht nun nicht mehr, Besucher über das Hinterlegen von Cookies auf ihrem Rechner und die Absicht, diese später auszulesen, zu informieren. Nein, sie müssen aktiv zustimmen, zuvor aber erst einmal umfassend belehrt werden. Dazu muss der Inhalt von zwölf Artikeln der DSGVO ihnen "in präziser, transparenter, verständlicher und leicht zugänglicher Form in einer klaren und einfachen Sprache" übermittelt werden. Immerhin darf diese Übermittlung "gegebenenfalls auch elektronisch" erfolgen. Doch "falls verlangt", muss die Information auch mündlich erteilt werden, heißt es in der Verordnung.

Die mit dieser Vorgabe, die künftig hohe Hürden vor den ersten Besuch jeder Internetseite türmt, allerdings noch lange nicht am Ende ist. Die EU sieht auch weitgehende Informationspflichten für Seitenbetreiber vor: Jeder Besucher hat künftig ein Auskunftsrecht darüber, was über ihn gespeichert wurde, wie lange es gespeichert werden soll und wohin die Information noch gelangt sein könnte - hier sind vor allem Werbeanbieter wie Google Adsense gemeint, die auf Partnerseiten ebenfalls Cookies hinterlegen. Und natürlich auch Links zu sozialen Netzwerken wie Twitter oder Facebook, auf denen Besucher Beiträge liken oder teilen können.

Viele Nutzer von Internetseiten wissen das derzeit gar nicht und glauben, dass ihre Seite zu klein ist, um von der Neuregelung betroffen zu sein. Doch das ist ein Irrtum: Schon ein einziges Werbebanner auf einer Seite verwandelt die für den Gesetzgeber in ein Unternehmen mit kommerzieller Absicht, für das die verzwickten Maßgaben der DSGVO umfassend gelten. Ganz nebenbei sorgt die neue, undurchsichtige Richtlinie dafür, dass Großkonzerne wie Facebook, Twitter und Google noch mächtiger werden: Künftig wird es sicherer sein, auf einer Seite bei den Giganten zu posten als eine eigene Internetseite zu unterhalten, denn die mächtigen Netzriesen haben hunderte Anwälte über Monate durchleuchten lassen, wie sie ihre geschäftsmodelle an der DSGVO vorbeifädeln können.


Ein Bärendienst für das freie Netz


Ein Bärendienst, den die EU der Internetnutzung damit geleistet hat. Schon jetzt - also noch ehe die ersten Abmahnanwälte losgezogen sind, um aus Unkenntnis oder Missachtung der DSVGO-Regeln Kapital zu schlagen - sind kleine Anbieter verunsichert, Blogger schließen ihre Weblogs und Hobbyfotografen diskutieren im Netz, ob mal wohl in Zukunft noch einfach so fotografieren könne. Nach den Buchstaben der EU-Verordnung wohl nicht, denn digitale Aufnahmen sind zweifellos ein Fall von Datenverarbeitung, so dass jede irgendwo auf einem Foto abgebildete Person ihre Einwilligung zur Verarbeitung der sie betreffenden Daten geben müsste.

Österreich gräbt der Abmahnindustrie, die aufgrund der komplizierten Anforderungen der EU-Richtlinie schon in den Startlöchern stand, damit einer weiteren nationalen Vorgabe das Wasser ab. Abmahnanwälte und darauf spezialisierte Organisationen, die Datenschutzverletzungen im Auftrag von Nutzern zur Anzeige bringen, können das weiter tun, sie haben allerdings kein Recht, von den Tätern Schadenersatz zu verlangen. Das macht das Geschäftsmodell deutlich weniger attraktiv, denn um Schadenersatz zu erhalten, müssen einzelne Betroffene ihre Ansprüche nun individuell geltend machen. Da auf diese Weise weniger Geld für einen viel höheren Aufwand fließt, dürften Firmen, die Prozesse vorfinanzieren, kaum ein Interesse haben, in diesem Bereich zu investieren.


Österreich entschärft die Regeln


Ergänzt wird die europäische Datenschutzvorgabe im Nachbarland auch um ein sogenanntes Journalisten-Privileg: Medien dürfen personenbezogene Daten für journalistische Zwecke verarbeiten, ohne wie in der DSGVO eigentlich vorgeschrieben, umfassende Belehrungspflichten und Transparenzregeln zu befolgen. Ein ähnliches, wenn auch nicht so weit gehendes Privileg soll für Daten gelten, die zu wissenschaftlichen, künstlerischen und literarischen Zwecken gespeichert werden. Ausgewählte Teile der DSGVO finden dabei keine Anwendung, "soweit dies erforderlich ist, um das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten mit der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit in Einklang zu bringen".

Ausnahmen von der DSGVO sieht die Regierung in Wien zudem ausdrücklich auch für Geheimdienste vor. Die Mehrzahl ist richtig: Gemeint ist nicht nur der österreichische Dienst.

Montag, 14. Mai 2018

Andy Weir: Die Frau im Mond


Mit seinem Debütroman "Der Marsianer" wurde der Amerikaner Andy Weir schlagartig zum Weltstar. Der Nachfolger "Artemis" spielt in einer Stadt auf dem Mond.

Es war eine verzweifelte Idee, die den kalifornischen Softwareprogrammierer Andy Weir mit Anfang 40 beinahe über Nacht zu einem literarischen Weltstar werden ließ. Weir hatte für ein Buch, an dem er lange Jahren herumtüftelte, einfach keinen Verleger gefunden. Und das Werk, das der Frage nachging, was wohl passieren würde, bliebe ein einzelner Astronaut auf einer Marsexpedition allein auf dem roten Planeten zurück, schließlich notgedrungen einfach im Internet veröffentlicht.

Ein Hit. Das Gedankenexperiment faszinierte zehntausende Leser, Weir schraubte hier und verbesserte dort. Und als die großen Verlage schließlich Schlange standen, war aus dem Hobbyschriftsteller schon ein Vorlagengeber für Hollywood geworden: Altstar Ridley Scott verfilmte die Geschichte um den auf dem Mars gestrandeten Astronauten Mark Watney mit Matt Damon in der Hauptrolle. Der Film war weniger als das Buch ein von Mathematik, Physik, Chemie und amerikanischen Pioniergeist gespeistes Wissenschaftsdrama. Aber genauso erfolgreich. Andy Weir kann seitdem Bücher schreiben, so viele er mag. Er ist schließlich eines dieser so selten gewordenen literarischen Wunderkinder, die eine eigene, unverwechselbare Sprache in einer eigenen Nische sprechen - und dennoch ein Millionenpublikum erreichen.

Mit "Artemis", seinem zweiten Buch, wird Weir das zweifellos wieder gelingen. Denn der inzwischen 45-Jährige variiert seinen Stoff nur vorsichtig. Diesmal spielt die Handlung auf dem Erdmond, der zum Zeitpunkt der Ereignisse am Ende des Jahrhunderts besiedelt ist. Artemis heißt die Mondstadt, in der das Mädchen Jazz Bashara aufgewachsen ist und in der sie nun als eine Art Tagelöhnerin lebt. Mit großen Träumen allerdings, denn richtig glücklich ist die Tochter eines auf den Mond ausgewanderten Handwerkers nicht mit ihrer Rolle als Gelegenheitskurierin, die ihren Job hauptsächlich als Tarnung für ein florierendes Schmuggelgewerbe für alles nutzt, was es auf dem Mond offiziell nicht geben soll.

Wie seine Space Opera vom Mars lebt auch Weirs neuer Weltraumthriller von der Faszination der gnadenlosen Begrenzung aller Dinge mitten im unendlichen Kosmos. Es gibt nicht genug Luft, nicht genug Wasser, nicht genug von irgendetwas, weil alles von der Erde heraufgebracht werden muss. Artemis, gegründet unter der Hoheit des Kongo, der Mitte des 21. Jahrhundert durch eine kluge Steuerpolitik zur führenden Weltraumnation wurde, ist weniger Stadt als Dorf. Eine multikulturelle Minigesellschaft am Rande des Niedergangs, weil der Weltraumboom längst vorüber ist, der Erhalt der Anlagen teuer und das einzige Exportgut Aluminium nicht mehr teuer genug.

Eine Welt auf der Kippe, Leben, das mit spitzem Bleistift rechnen muss. Jeder kennt hier jeden, die Staatsmacht wird geduzt. Die halbe Bevölkerung ist zudem in der Reparaturbranche tätig, weil Artemis unübersehbar Abnutzungserscheinungen zeigt. Die fünf durch Gänge verbundenen Kuppeln funktionieren nur durch konsequente Einhaltung von Regeln. Jede Verletzung hat tödliche Konsequenzen, jeder Verstoß muss deshalb geahndet werden.

Was nicht bedeutet, dass Jazz Bashara nicht bereit wäre, auch über die zulässigen Grenzen zu gehen, um sich ihren Traum von Unabhängigkeit und Wohlstand zu erfüllen. Als ein auf den Mond geflüchteter Milliardär sie bittet, ihm mit einem großangelegten Sabotagemanöver gegen die größte Bergbaugesellschaft auf dem Mond zu helfen, um in den Besitz der Firma zu gelangen, zögert sie nicht lange, die Chance zu ergreifen. Nur ein paar kleine Manipulationen, ein paar Sprengungen weit draußen, wo niemand Schaden nehmen kann. Und das Leben ist geritzt.

Es ist dann genau der Andy Weir, den Leserinnen und Leser vom "Marsianer" kennen, der die Ausführung der Aktion schildert, die im luftleeren Raum auf ganz andere Schwierigkeiten trifft als sie das auf der guten alten Erde täte. Jazz Bashara plant vorzüglich, aber der Kosmos hat eigene Vorstellungen: Es gibt einen Mord, ein Mafiakiller taucht auf, die Luft wird dünn und Weirs Heldin muss wie damals Mark Watney auf dem Mars alle Register ziehen, um am Leben zu bleiben. Unter Bedingungen, die es schon zur Herausforderung machen, von einer Kuppel in die andere zu gelangen, wenn man den normalen Verbindungsgang nicht benutzen kann, entwickelt Weir einen packenden Thriller voll überraschender Wendungen, der nichts gemein hat mit Ballerorgien a lá "Star Wars".

Denn hier geht es streng wissenschaftlich zu. Andy Weir hält die Anzahl der Mitwirkenden in seinem Kammerspiel auf Luna überschaubar, die Schauplätze sind es sowieso, auch die Hintergründe der Verschwörung, die Jazz Bashara nach und nach aufdeckt, sind nicht allzu komplex, sondern auch im vollen Lesesog, den Weir automatisch provoziert, leicht zu bewältigen.

Demnächst dann auch wieder im Kino.

Sonntag, 6. Mai 2018

Jütland: Auf der falschen Ost­see-Seite


Hinter Flensburg fängt das Unbekannte an: Südjütland hat Meer und Seen und Strand und ist von den großen Urlauberströmen noch völlig unentdeckt.

Michael Rasmussen staunt. "Von Deutschland seid ihr", fragt er, "und ihr macht hier Urlaub?" Rasmussen, der als Feuerwehrmann in Kopenhagen arbeitet, glaubt es nicht. Er winkt zum Strand: Still ist der, nur ein paar Möwen keifen unterm Regenwolkenhimmel und ein Fahrradwanderer strampelt vorbei.

Hier im kleinen Örtchen Juelsminde machen Dänen Urlaub. Deutsche Feriengäste hingegen versammeln sich eher auf Sealand, wo die Fähre aus Rostock anlegt. Denn Jütland, das ist für Urlauber aus dem Süden der Landstrich oben an der Nordsee, an dem die Olsenbande alte Bunker nach Nazi-Gold durchsuchte.

Jütland aber fängt viel früher an, genau genommen sogar schon ein paar Kilometer hinter Flensburg. Und auch der Süden Jütlands hat alles zu bieten, was das Urlauberherz begehrt: lange Strände, einsame Buchten, versteckte Angelseen und malerische Holz-Häuser, Sportangebote und sehenswerte Ausflugsziele, pittoreske Städtchen, Bootsverleihe und Museen. "Das weiß nur keiner bei Euch", ist sich Michael Rasmussen sicher.

Denn obwohl Deutschlands nördlichem Nachbarn der Ruf vorauseilt, besonders teuer zu sein, kann es an den Preisen nicht liegen. Zwar schlägt der Familienbesuch im Restaurant im Kleinstadtlokal von Juelsminde kräftig ins Kontor, dafür unterscheidet sich die Supermarkt-Rechnung kaum von einer deutschen. Jütland, benannt nach den Jüten, die vor 1 500 Jahren eigentlich nach England wollten, dann aber schon hier hängenblieben, ist ein aufgeräumtes Fleckchenen Land. Gemähter Rasen, gekehrte Straßen. Ein Himmel wie blankgeputzt.

Und über allem weht der "Danebrok", die rot-weiße Fahne, für die jeder Hausbesitzer einen Mast im Garten errichten lässt. Ihre Nachbarn auf Zeit behandeln die Jütländer mit übersprudelnder Freundlichkeit. Es wird kaum deutsch gesprochen, doch bei der Suche nach dem Fahrradverleih ersetzen Nachbarn wie Michael und seine Frau Mona jedes Touristenbüro.

Das ist nicht allzu schwer, weil das landwirtschaftlich geprägte Jütland sich eingerichtet hat auf ein Leben als Feriengebiet. Von Vejle und Horsens gibt es Rundfahrten auf den Fjord, Geschichtsinteressierte lockt das Kattegat-Center, Tierfreunde das "Akvarium-Oceanarium". Eine halbe Autostunde entfernt wartet das "Legoland" in Billund, eine Stunde ist es bis zum Freizeitpark Tivoli Friheden.

Zwischen Radtour und Hafenfest, Angelausflug am Waldsee und Schwimmen im eisigen Meer herrscht ein ganz anderes Ostsee-Gefühl als drüben auf der deutschen Seite. Die langen Strände sind immer leer, weil es keine Hotels gibt. Kein Gedränge um einen Strandkorb, kein Marsch der Massen auf der abendlichen Promenade, keine Schlange vor der Eisbude.

Jütland ist so mehr Urlaub, mehr Erholung. "Deshalb fahren wir ja hierher", sagt Michael Rasmussen.

Samstag, 28. April 2018

Tod eines Hoffnungsträgers: Werner Lamberz und die Jagd auf Schwarzer Adler

Eigentlich war an jenem 6. März 1978 im Städtchen Beni Walid für den dreimotorigen Großraum-Hubschrauber "Super Frelon SA 321" ein striktes Nachtflug-Verbot verhängt worden. Doch dann steigt die Luftwaffen-Maschine, die erst am Morgen aus dem rund 160 Kilometer entfernten Tripolis gekommen war, abends gegen 21.30 Uhr doch noch zum Rückflug in die libysche Hauptstadt auf. Wenig später schon muss der Helikopter notlanden. Die beiden Piloten melden per Funk, dass sich eine Verkleidung am Motor geöffnet habe. Nach 20 Minuten ist eine Ersatzmaschine eingetroffen, der Flug kann fortgesetzt werden.

Unmittelbar nach dem erneuten Start aber kommt es zur Katastrophe: Der "Super Frelon" gerät ins Trudeln und fällt wie ein Stein vom Himmel. 13 Menschen sterben in der Wüstennacht, unter ihnen auch das DDR-Politbüromitglied Werner Lamberz, SED-ZK-Mitglied Paul Markowski, der Fotograf Hans-Joachim Spremberg und der Dolmetscher Armin Ernst.


Genosse mit exotischer Biografie


Werner Lamberz, 48 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier Kinder, galt in der DDR als Hoffnungsträger. Der Sohn des Bauarbeiters Peter Lamberz, der wegen seiner Mitgliedschaft in der KPD im KZ Buchenwald landete, verkörperte einen neuen Funktionärstyp. Werner Lamberz' Biografie mutet exotisch an: Um nach der Verhaftung des Vaters weitere Repressionen von der Familie fern zu halten, schickt seine Mutter ihn zuerst zur Hitler-Jugend, mit zwölf Jahren dann sogar ins Ordensburg-Internat der Adolf-Hitler-Schule. Nach dem Krieg absolviert Lamberz eine Installateurslehre im Rheinland. Als seine Mutter stirbt, wechselt er in die Ost-Zone, wo sein Vater als Landrat arbeitet. Hier beginnt der rasante Aufstieg des Werner Lamberz zum Kronprinzen von Erich Honecker. 1947 SED-Eintritt, 1950 Parteisekretär, dann Hochschule in Moskau, 1963 Kandidat des Zentralkomitees und Chef der Abteilung Agitation, die die DDR-Massenmedien kontrolliert.

Schnell rückt er in die Volkskammer und das Politbüro auf - Hinweise darauf, dass Lamberz, ein eloquenter Plauderer, der zehn Fremdsprachen beherrscht, der kommende Mann an der Staatsspitze sein könnte. 1978 ist Lamberz bereits Honeckers Eingreiftruppe für besonders heikle Missionen: Die Affäre um die Ausreise von Manfred Krug hat er ebenso abgewickelt wie die Biermann-Krise. In Libyen nun ist er als Sonderbotschafter von Honecker unterwegs, um Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi Militärhilfe anzubieten und Dollarkredite für die DDR zu besorgen.

Werner und der frische Wind


"Werner Lamberz war jemand, der frischen Wind mitbrachte", erinnert sich auch Ex-DDR-Planungschef Gerhard Schürer, "und er hat seine Meinung auch gegenüber Honecker vertreten." Als die DDR-Führung per Blitz-Telegramm aus Libyen vom "bv" genannten "besonderen Vorkommnis" in der Wüste erfährt, kursieren denn auch sofort Verschwörungstheorien selbst unter den Funktionären. "Angeblich habe es einen Anschlag gegeben", sagt Schürer. So munkelte man, das Attentat habe eigentlich Gaddafi gegolten, der sich nur durch Zufall nicht in der Maschine befunden hätte. Andere sahen Stasi-Chef Mielke als Drahtzieher. Im Auftrag von Honecker, der sich vor einem erstarkenden Lamberz gefürchtet habe, sei der Auftrag für den Absturz ergangen. "Es kursierten sogar Witze darüber, dass die härteste Parteistrafe jetzt ein Rundflug über Libyen ist."

Indizien gab es dafür: So hatte Lamberz' Leibwächter Rolf Heidemann den Flug nach Beni Walid aus unerfindlichen Gründen nicht mit angetreten. Nach dem Absturz verbaten sich die Libyer jede Mitarbeit der DDR bei der Untersuchung des Unglücks.


Die DDR-Führung behandelte den Absturz als "tragischen Unglücksfall". Noch in der Nacht wird der 2. Sekretär Wolfgang Pohl nach Libyen geschickt, um die Toten zu identifizieren. Nicht einmal zwölf Stunden später landet eine Maschine mit vier versiegelten Zinksärgen auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld. Noch am selben Abend liegen die sterblichen Überreste auf den Obduktionstischen im Institut für Gerichtliche Medizin der Humboldt-Uni. Bereits bei der Öffnung der Särge stellt Professor Otto Prokop fest, "dass es sich um hochgradig verkohlte" Torsi handelt. So steht es im Obduktionsbericht, der jetzt in den Archiven der Gauck-Behörde gefunden wurde. Trotz der "äußerst erschwerten Befundserhebungen" habe bei allen als Todesursache eine "Verbrennung durch massive Hitzeeinwirkung" festgestellt werden können. "Fernerhin", schreibt Stasi-Oberst Pyka an seinen Chef Erich Mielke, "fanden sich sichere Zeichen für eine Verbrennung zu Lebzeiten."

Die Stasi sucht einen Mörder


Die Untersuchungen stützen die These vom Unglücksfall. Auch Röntgenuntersuchungen, schreibt Prokop, hätten keine Anhaltspunkte für "Einsprengungen von Fremdkörpern" ergeben, was "eine gewaltsame Todesart in Form von Sprengkörpern oder Geschossen ausschließt". Da die Skelette keinerlei Brüche aufwiesen, könne eine Explosion in großer Höhe ausgeschlossen werden. "Daraus ergibt sich als Unfallursache ein plötzlicher Absturz aus niedriger Höhe mit Brandfolge."

Während in der misstrauischen DDR-Bevölkerung immer neue Gerüchte über ein Attentat auf den beliebten Politiker die Runde machen, stellt die Stasi-Hauptabteilung IX die Ermittlungen in der "Leichensache L." (MfS) überraschend schnell ein. Die Theorie vom Unglücksfall, die Lamberz' Witwe Ingrid schon in der Todesnacht präsentiert bekam, gilt nun als amtlich. Die Libyer sind in ihrem Untersuchungsbericht zu dem Schluss gekommen, dass sich ein Rotorblatt gelöst hat und die Piloten dadurch die Kontrolle über die Maschine verloren.

Doch schon zwei Wochen später gerät diese Version ins Wanken, wie neu aufgetauchte Stasi-Dokumente jetzt belegen. Anlass ist eine Postkarte an das SED-Politbüro, die am 17. März in Halle in den Briefkasten geworfen worden war. Der Absender Mohammed Ben Yussuf, angeblich wohnhaft in der Leipziger Liebknecht-Straße 46, teilt darin mit, dass "die Verantwortung für den Abschuss des Hubschraubers die Organisation Black Eagle übernommen hat". Dabei handele es sich um eine Gruppe der Palästinensischen Befreiungsorganisation, die gegen Gaddafi kämpfe.


Organisation Schwarzer Adler


Sofort ordnet Erich Mielke republikweite Fahndungsmaßnahmen nach dem Absender an. Schnell stellte sich allerdings heraus, dass ein Ben Yussuf "unter der Adresse in Leipzig nicht wohnhaft ist". Auch die Jagd auf die ominöse "Organisation Schwarzer Adler" bringt keinen Erfolg. Bleibt nur die Postkarte, die nun durch Schriftsachverständige begutachtet wird. Von in der DDR lebenden Ausländern werden Schriftproben besorgt, und in den Bezirken Halle, Leipzig und Berlin beginnt eine flächendeckende Post-Überwachung. Ohne Ergebnis.

Schon drei Monate nach dem Absturz über der Wüste wird das komplette Material der "Leichensache L." ins Archiv gebracht. Die Gerüchte um den Tod des Honecker-Kronprinzen aber verstummten bis zum Ende der DDR nicht.

Im Februar 1990, als Lamberz' ehemaliger Leibwächter Rolf Heidemann das Material sichten will, sind Großteile der Akte verschwunden.