Donnerstag, 21. Juni 2018

Gundermann: Vernunft verlangt Verzicht


Rocksänger, Baggerfahrer, Samurai: Der Cottbusser Sänger und Dichter Gerhard Gundermann war in seinen besten Jahren nichts weniger als die Stimme Ostdeutschlands in der westdeutsch dominierten Rockmusik. Gundermann starb heute vor 20 Jahren, seine Lieder aber bleiben gültig. Ebenso dieses Interview, das fünf Jahre vor seinem Tod entstand.


Frage: Du hast ganze vier Jahre geschwiegen, ehe Deiner Debütplatte "Männer, Frauen und Maschinen" das Album "Einsame Spitze" folgte, den "Siebten Samurai" zu produzieren hat dagegen nur ein Jahr gedauert.

Gundermann: Auch vor "Einsame Spitze" hatte ich immer genug Material, eine Platte zu machen. Und gewollt habe ich auch, klar. Aber ich bin ja auch doof. Gleich nach der Wende bin ich zur Ariola gegangen und habe denen mein Zeug gegeben. Da denkste dann: Wenn ich jetzt bei denen war, darf ich erstmal mit keinem anderen reden, bis die ja oder nee gesagt haben. Die haben aber nicht mal nee gesagt bis heute. So nach einem Jahr habe ich das endlich mitbekommen und mich dann doch mal anderswo umgehört. Und so sind wir dann bei Buschfunk untergekommen.

Frage: Als einer der letzten deutschen Sänger läßt Du Dir die Bezeichnung "Liedermacher" gefallen...

Gundermann: Ja, ich weiß, vor einem Jahr oder so da stand immer in der Zeitung: Ha, Liedermacher sind jetzt out, weil man kann ja jetzt alles in die Zeitung schreiben. Aber ich habe mich ja nie als Zeitungsersatz verstanden, auch in der DDR nicht. Erstens habe ich immer Lieder gesungen, das hat die Zeitung auch damals nicht gemacht (lacht). Und zweitens, auch wenn damals Erich Honecker auf dem Thron saß und heute sitzt da Helmut Kohl - die meisten Dinge auf der Welt funktionieren doch unabhängig davon. Und über die denke ich eigentlich nach, über die mache ich auch Lieder. Nicht darüber, ob der Honecker nun vor Gericht gekommen ist oder was. Mich interessieren ganz andere Themen.

Frage: Und welche?

Gundermann: Menschen, Arbeit, Umwelt. Nimm mal die Arbeit. Da habe ich vor Jahren schonmal ein Programm drüber gemacht, jetzt mach' ich wieder eins, weil ich denke, daß ich einen neuen Erkenntnisstand dazu habe, daß ich zu Antworten gelangt bin, die auch andere interessieren könnten.

Frage: Die Antworten, die Du auf Umweltfragen gibst, haben aber viele Leute schwer verstört. Für Deine Forderung, eine "grüne Armee" zu gründen, hat sich Gundermann, der Pazifist, gar den Vorwurf eingehandelt, ein "Ökofaschist" zu sein. Meinst Du denn solche Vorschläge ernst?

Gundermann: Mit dem Vorwurf kann ich leben, weil ich sie ernst meine. Grüne Armee ist keine Poesie. Das Schlüsselerlebnis ist für mich ein Fernsehbericht so vor zehn Jahren gewesen. Damals hat der Bundesgrenzschutz in Italien bei der Beseitigung von Erdbebenschäden geholfen - und genau für solche harten Sachen brauchst Du harte Leute, die richtig kämpfen können. Bloß, daß der Feind nicht die Armee von nebenan, sondern was anderes, viel Schlimmeres ist. Guck Dich doch um: Die Welt geht kaputt. Meiner Meinung nach hilft da keine Kosmetik mehr. Wenn wir es noch schaffen wollen, die Kurve zu kriegen, brauchen wir Armeen gegen die Wüste, müssen wir schleunigst sämtliche Kapazitäten, die im Militär stecken, an diese entscheidende Front werfen. Dazu braucht es natürlich den entsprechenden politischen Willen.

Frage: Da der illusorisch ist, sagt das ja zugleich, daß wir es nicht schaffen werden.

Gundermann: Das weiß ich nicht genau. Früher, da habe ich die beiden großen Weltlager immer als zwei Kämpfende am Fuße eines Berges gesehen. Und vom Berg kommt so ein Riesenbrocken runtergerollt, genau auf die zu. Nun können sie sich entscheiden: Entweder, sie hauen sich weiter und werden überrollt, oder sie tun sich zusammen und versuchen das aufzuhalten. Es ist ganz anders gekommen.

Frage: Einer der beiden Kämpfer ist abgetreten.

Gundermann: Und das ist der Punkt. Niemand hätte doch vor fünf Jahren dran geglaubt, daß der Konflikt sich so auflöst. Deshalb ist es doch nicht so, daß ich an nichts mehr glaube. Nur: Ich halte jetzt alles für möglich - da hab` ich ja eine gewisse Schule durch, wie wir alle hier im Osten. Und deshalb denke ich auch, daß da noch gewisse Möglichkeiten sind. Die westliche Welt ist doch auch im Wandel, das ist doch alles tieferschüttert, das muß man doch sehen.

Frage: Du siehst einen Wandel zum Positiven?

Gundermann: Ich bin Anhänger der Theorie von der neunten Welle. Die sagt: jede Generation hat 30 Jahre Zeit, ihre Ideale und Vorstellungen zu verwirklichen, ehe alles anders kommt. Das kannst Du in den USA ziemlich genau nachvollziehen - alle 30 Jahre steigt da ein Demokrat auf den Präsidentensessel, alle 30 Jahre kommt ein Versuch der Erneuerung. Und wir hängen da irgendwie dran.

Frage: Eine Mechanik, ein Automatismus, Zufall oder Gottvertrauen?

Gundermann: Es gibt Zusammenhänge, die ich nicht durchschauen kann, die aber doch irgendwie funktionieren. Es ist ja objektiv so: Du kannst Gesetze machen wie Du willst, wenn die Leute zu Zehntausenden über die Oder schwimmen, dann kannst Du nur damit leben oder schießen. Und dann führen wir in hundert Jahren wieder Prozesse.

Frage: Wie sieht Deine Lösung aus?

Gundermann: Wenn das Wohlstandsgefälle auf 300 Kilometer Entfernung fünf menschliche Generationen ausmacht - von der Industriegesellschaft bis in den Feudalismus - dann werden die hier herkommen, wenn wir es nicht schaffen, unseren Wohlstand da rüber zu exportieren. In der Physik gibt es die einfache Regel vom Wasser, das in verbundenen Gefäßen immer gleich hoch ist. Da kannst Du Wasser sagen oder Wohlstand. Wir, also die DDR, waren der erste Schritt, dieses Gefälle auszugleichen.

Frage: Triffst Du beim Versuch, die ganze Welt so leben zu lassen, wie wir leben, aber nicht an andere Grenzen?

Gundermann: Natürlich. Deshalb ist das auch nicht möglich. Und weil nicht alle auf unser Wohlstandsniveau hochkommen können, werden wir wohl runtergehen müssen. So, daß es für alle reicht. Wir müssen abgeben, bis sich das alles auf eine Art Nullpunkt eingependelt hat. Lebensstandard wie in Polen meinetwegen, aber den für alle. Und das reicht auch zu - denn ein Pole ist ja ein Fürst gegen andere, noch Ärmere.

Frage: Wie soll sich soviel Vernunft und Verzicht durchsetzen?

Gundermann: Durch Katastrophen. Das geht nur durch Katastrophen. Wenn sich die Klimaveränderungen, die wir ja längst haben, erst auf die Nahrungsmittelversorgung auswirken, dann werden die Leute wach. Der Druck der Ereignisse wird uns keine andere Wahl als die Vernunft lassen. Ich hoffe nur, daß der Druck der Ereignisse groß genug ist, damit wir reagieren, aber nicht so groß, daß wir nicht mehr reagieren können. In diese geschichtliche Sekunde müssen wir springen, unsere Konzepte vorholen und Lösungen anbieten. Wichtig ist, daß wir dann auch welche haben!

Frage: Dein Wendetrauma?

Gundermann: Wenn Du so willst. Wir haben damals immer dran gesägt, gesägt, gesägt - aber nie gedacht, daß das Ding, also der Staat, wirklich mal umkippt. Ich hab' zum Beispiel nie für die Schublade gearbeitet. Ich habe immer nur gemacht, was machbar war. Das war falsch. Als dann die Wende kam und die alten Herren gingen, als plötzlich alles möglich war, stand ich mit leeren Händen da. Weil ich blöde war. Passiert mir beim nächsten Mal in dreißig Jahren nicht wieder. Ich arbeite jetzt vor, damit ich was zu sagen habe, wenn ich dann gefragt werde.

Frage: Was macht eigentlich Dein anderes Ich, der Baggerfahrer Gundermann?

Gundermann: Der macht ABM. Unseren ganzen Betrieb haben sie dichtgemacht und zu so `ner Sanierungsfirma umgeschmiedet. Wir reparieren jetzt das, was wir früher kaputtgemacht haben.

Samstag, 16. Juni 2018

Alter Schlachthof Halle: Aufgerissene Eingeweide



Ganz zuletzt floß nur noch Kunstblut, einen Abend lang. Die Kapelle Gwar war zu Gast im Alten Schlachthof von Halle, einem aus Backsteinen gemauerten Stück Geschichte der einstigen Industriemetropole an der Saale. Seitdem verrottet und zerfällt das mäandernde Gelände direkt an den Gleisanlagen der Bundesbahn in aller Ruhe.

Nur gelegentlich kommen Grafittimaler und Verfassungsfeinde, um sich im Hinterhof zu sonnen und verbotene Parolen an die Fliesenwände zu krakeln. Autodiebe haben hier, wo früher Tiere zu Tausenden den Weg allen Fleisches gingen, um die unersättliche Stadt zu füttern, ihre überzählige Beute abgestellt. Zuhälter parken nicht mehr benötigte Wonnewagen. Aus dem Mauerwerk aber dringt kein Blut aus, nirgends, es ist totenstill, keine verlorene Kuhseele und kein Geist eines gemeuchelten Schweins spukt durch den Hallen.

"Vendetta" hat jemand mit augenfälliger Rechtschreibschwäche auf einen Wohnanhänger geschmiert, nebenan lagern arbeitsscheue Zeitungszusteller seit Jahren günstig die Blätter, die sie eigentlich austragen sollen. Vor drei Jahren brannte der Schlachthof zum ersten Mal, seitdem haben die feuer nie wieder richtig aufgehört, obwohl der Besitzer einmal wechselte und dann gleich noch einmal und frühere Pläne vom Aufbau einer neuen Art von Nachbarschaft angesichts dessen, was die neuen Investoren hier schaffen wollen, sehr bescheiden wirken.

Allein, es tut sich nichts. Das Areal am Güterbahnhof mit weitläufigen Markthallen, Wasserturm und Verwaltungsgebäude steht leer und verfällt, Handel, Künstleratelier, Wohnungen, bisher ist alles Schall und Rauch und bröcklige Wände. Das Projekt, wenn es wird, soll groß werden, riesig, die Krönung eines neuen Boomviertels, als das das Rathaus die nebenstehende Siedlung schon vor langer Zeit ausgerufen hat.

Mittwoch, 30. Mai 2018

Spukhafte Fernwirkung: Als Einstein Gott Vorschriften machte


Albert Einstein veröffentlichte 1905 die spezielle Relativitätstheorie und revolutionierte die gesamte Physik - für viele eine harte Nuss. Ein weiterer Versuch populärer Erklärung.


Albert Einstein ahnte nur, dass es jenseits der Physik noch etwas geben muss. Heute gilt die Quantenphysik als letzter Stand der Wissenschaft - verstehen aber kann sie nur, wer sie sich von kundigen Männern wie Anton Zeilinger erklären lässt. Ein ganz klein wenig Hexerei ist dabei. Stellen wir uns Folgendes vor: Zwei Photonen, also Lichtteilchen, die mit Hilfe eines Lasers und eines Prismas im Labor miteinander "verschränkt" wurden - in einfachen Worten. Diese Photonen sind winzig klein, man kann sie nicht sehen, man weiß nur, dass sie da sein müssen. Und weil sie da sind, weiß man, dass eines von ihnen die bestimmte Eigenschaft A hat, während das andere die bestimmte Eigenschaft B in sich trägt. Welche Eigenschaft das eine hat, hängt ganz davon ab, welche im anderen enthalten ist.

Zu kompliziert? Schwer verständlich? Das fand Einstein auch. Also machen wir es doch gleich noch ein bisschen schwieriger: Keines der beiden verschränkten Teilchen kennt seine eigene Eigenschaft. Denn die wird erst festgelegt, wenn ein Beobachter von außen sie zu ergründen versucht - wie zwei Würfel mit nur zwei Buchstaben, die erst eine Zahl zeigen, wenn sie geworfen worden sind. Dann aber, und das ist wirklich wahr, entscheidet sich nicht nur das eine Quant für Eigenschaft A oder B. Sondern ganz automatisch auch das andere - hat ein Würfel das "A", zeigt der andere das "B" und umgekehrt. Und nun halten wir uns mal fest, denn was jetzt kommt, ist mehr als nur ein bisschen Hexerei: Dabei ist völlig egal, welcher Abstand zwischen beiden Teilchen liegt. Und gleichgültig, dass es keinerlei Verbindung zwischen ihnen gibt.

Albert Einstein nannte das einst "spukhafte Fernwirkung" und er hatte ernsthafte Zweifel daran, ob er eine Welt akzeptieren könne, in der Wirkungen ohne Ursachen möglich sein sollen. Was heute als einer der Grundlehrsätze der Quantenmechanik gilt, war Einstein ein rotes Tuch. Schließlich hatte er doch die Lichtgeschwindigkeit als theoretisch höchstes Tempo überhaupt mathematisch nachgewiesen. Und die verschränkten Photonen kümmerte das überhaupt nicht! Sie "beamten" sich offenbar Informationen in Null-Zeit, also ohne jede Verzögerung zu, und das ohne Verbindung miteinander. Irgendwo, vermutete der Vater der Relativitätstheorie, müsse da noch etwas sein, das alles erkläre. Bis Niels Bohr, auch er ein großer Physiker, ihm eines Tages entgegenschleuderte: "Hören Sie endlich auf, dem Herrgott Vorschriften zu machen, wie er die Welt gestaltet."

Und im Bauplan des Kosmos ist Einsteins "spukhafte Fernwirkung" nun mal ein Fakt, wie der Wiener Physik-Professor Anton Zeilinger auf einer eben erschienenen Doppel-CD gleichen Namens ausführt. Die, als Teil einer populärwissenschaftlichen Hörbuch-Reihe im Kölner Supposé-Verlag erschienen, versucht, Leuten die Quantenphysik zu erklären, die bei dem Wort allein schon an langweilige Gleichungsketten und endloses Formelgewimmel denken. Ein Vorhaben, das Zeilinger, im vergangenen Jahr Leiter eines Aufsehen erregenden Experiments, bei dem es erstmals gelang, Lichtteilchen durch ein Glasfaserkabel unter der Donau hindurch zu beamen, mit Wiener Charme und nahezu ohne Fachausdrücke erledigt. Locker plaudernd beschreibt der 60-jährige Experimentalphysiker eine Welt, in der ganz andere Gesetze gelten als in unserem Alltag. Eine Welt ist dies, in der Dinge zugleich da und dort sein können und in der der Zufall kein Ergebnis von beeinflussbaren Faktoren, sondern reine, pure Willkür ist.

Zeilinger, ein wuschliger Charakterkopf von Reinhold-Messner'schem Format, bemüht einprägsame Beispiele, um klarzumachen, was die Welt im Innersten zusammenhält. "Wenn ein Spiegel genau halb durchsichtig ist", beschreibt er, "geht die Hälfte des Lichtes hindurch und die andere Hälfte wird reflektiert." Soweit, so gut. Was aber geschieht mit einem einzelnen Photon, das auf den Spiegel trifft? Wird es zurückgeworfen? Oder durchgelassen? "Niemand weiß das", sagt Anton Zeilinger, "nicht einmal das Photon selbst."

Und all unsere Wissenschaft kann daran nichts ändern. Einstein meinte einst, die Welt könne gar nicht so verrückt sein, wie uns die Quantenmechanik glauben machen will. "Heute aber wissen wir, die Welt ist so verrückt", zitiert Anton Zeilinger seinen amerikanischen Forscherkollegen Daniel Greenberger. Im Reich der Quanten können Teilchen an verschiedenen Orten zugleich sein, und auch die Regel, dass Dinge selbst dann existieren, wenn sie niemand sieht - wie die Sonne, die auch scheint, wenn keiner hinschaut -gilt nicht mehr. 


Das ist im ersten Moment verstörend. Männer wie Anton Zeilinger aber sehen vor allem "Die Schönheit der Quantenphysik" (CD-Untertitel) und die Fülle der neuen Möglichkeiten, die in Einsteins "spukhafter Fernwirkung" stecken. Schon hat Zeilingers Team so genannte Quantenzustände kilometerweit über die Dächer von Wien hinweg transportiert. Und schon basteln andere Forscher an Computern, die auf Quantenbasis funktionieren - dann stünde eine Revolution ins Haus, die alle bisherigen technischem Umwälzungen in der Menschheitsgeschichte in den Schatten stellen wird.

Nur das Beamen größerer Objekte oder gar ganzer Menschen bleibt wahrscheinlich für immer Science-Fiction: "Allein die Information über die Quantenzustände eines Menschen, die zum Beamen übertragen werden müssten, würden einen CD-Stapel von 1 000 Lichtjahren Länge füllen", weiß Zeilinger. Ein Lichtjahr sind knapp 10 Billionen Kilometer - selbst mit bester Technik würde die Übertragung dieser Daten Ewigkeiten dauern. Der britische Quantencomputerexperte Samuel Braunstein hat das einmal gallig kommentiert: "Natürlich wäre es einfacher zu laufen."

Samstag, 26. Mai 2018

Michel Birbæk: Heiße Romance mit Prinz


Das Leben ist hart und der Weltstar tot: Der Däne Michel Birbæk beschreibt in "Das schönste Mädchen der Welt", warum es trotzdem schön ist, da zu sein.

Viel ist nicht übrig vom Ruhm der großen Tage. Ein paar Telefonnummern hat Leo Palmer noch, einen guten Ruf in der Branche und einige Erinnerungen. Aber mit Ende 40 ist der Lack ab. Aus der Zeit, als der begnadete Background-Sänger mit seiner Band "Funkbanditen" kurz davor stand, die Welt zu erobern, ist nur noch die Sammlung von CDs des amerikanischen Superstars Prince geblieben. Der ist für Leo Palmer soetwas wie Jesus, Mohammed und Buddha zugleich. Ein Erretter, Erlöser und Idol, Ratgeber, Tröster und Rhythmusgeber, ein Mann, der in ein Leben voller Alltag glitzernde Diamanten streut und mit seiner Person beweist, was ein Mensch alles sein kann, wenn er will.

Leo Palmer will nur noch mal eine Frau kennenlernen, mit der es länger funktioniert. Ruhelos treibt er sich bei der Rendezvous-App Tinder herum, jeden Tag ein Date, immer mal auch eine anschließende Nacht. Aber Michel Birbæk, in Kopenhagen geboren und selbst anderthalb Jahrzehnte als Musiker weltweit unterwegs, gönnt seinem gefallenen Rockhelden in seinem Pop-Roman "Das schönste Mädchen der Welt" kein Happy End. Als Leo Mona trifft und sich unsterblich verliebt, passiert die Katastrophe: Prince stirbt. Für dessen größten Fan wie für die zersprengten Reste der alten Band ist das ein Schicksalsschlag, gegen den die Apokalypse wirkt wie ein lauer Sommerregen.

Auf einmal ist die neue Liebe nur noch nebensächlich. Auf einmal wird dem altgewordenen Jugendlichen von damals klar, dass Dinge im Leben wirklich zu Ende gehen. Niemals mehr Prince auf Tour. Niemals mehr jung. Niemals mehr Zeit, geradezurücken, was vor vielen, vielen Jahren von einem früheren Selbst verpatzt und verdorben wurde.

Ein Pop-Roman, der in der Sprache lässig ist wie Tommy Jauds Idiotenbücher, damit aber eine tiefere Ebene verbirgt, die weniger zum Lächeln und Lachen ist. Leo Palmer, der eine feste Bindung sucht, seit seine Ehe mit Schlagzeugerin Stella gescheitert ist, geht festen Bindungen aus dem Weg. Nicht noch einmal verletzt werden, nicht noch einmal verletzen können, was man eigentlich liebt - das ist der Plan, nach dem er lebt, ohne ihn selbst zu kennen. Auch die anderen von früher, die sich alle nach Jahren wiedertreffen, um Prince zu betrauern, haben ihre Macken: Der eine kokst und ist selbstmordgefährdet, die andere pleite, der dritte so beziehungsunfähig, dass er mit elf Hunden zusammenlebt. Die Vergangenheit steht zwischen allen und zugleich bindet sie alle aneinander - gemeinsame Erlebnisse sind auf einmal wieder so nah, dass sich auch die Menschen, die aus den Freunden von früher geworden sind, wieder nahekommen.

Keine Romanze, keinen lustigen Bericht von einer bizarren Reise, sondern ein ebenso unterhaltsamer wie nachdenklicher Roman über das, was immer bleibt, hat der seit Jahrzehnten in Deutschland lebende Birbaek geschrieben. Zugleich ist das Buch eine Liebeserklärung an einen der größten Stars, den die Popwelt jemals hatte. Den vor zwei Jahren nach einer versehentlich eingenommenen Medikamentenüberdosis verstorbenen Prince Rogers Nelson hat Buchautor Birbaek selbst zu seinem absoluten Säulenheiligen erklärt, hier steht sein Name für eine Zeit, in der Musik noch handgemacht war, Bands noch auf der Bühne beweisen mussten, was sie können. Und alle, die das taten, jung, schön und voller Energie waren.

Ein Abgesang an eine verschollene Zeit ohne DJs, Computerprogramme und Streamingdienste, verpackt in eine Hymne an die gute alte Liebe. Michel Birbaek gelingt es in seinem fünften Großstadtroman, den Gefühlen und oft komischen Gebrechen einer Generation nachzuspüren, die als erste ganz selbstverständlich mit Rock und Pop und Teenagerliebe aufwuchs, bis heute aber ganz eigene Geister aus dieser so unbeschwert und offen wirkenden wunderbaren Vergangenheit mit sich schleppt. Zwischen Prince-Gottesdienst und zynischem Humor muss das Heimkind Leo Palmer, längst erfolgreicher Tonstudiobetreiber, zurück an den ersten Anfang, um die Chance auf einen zweiten mit dem "schönsten Mädchen der Welt" zu bekommen.