Freitag, 8. Mai 2015

Ein Tag mit den Nachtwölfen


Es ist ihre "Siegestour", eine Europarundfahrt, bei der Mitglieder des russischen Motorrad-Clubs Nachtwölfe die Toleranz des Westens austesten. Mit riesigem Erfolg, wie ein ausufernder Streit um Visagültigkeiten, Einreiseverbote und schließlich auch die vorletzte Etappe von Prag über Torgau nach Berlin bewiesen. Wie es Wladimir Putin wohl am allerbesten gefallen würde, zeigte sich Deutschland nicht als weltoffenes, gastfreundliches Land. Sondern als eine Art wiedergekehrte DDR, die mit Schikane und offener Feindlichkeit dort agiert, wo es ihr die eigenen Gesetze unmöglich machen, eine Rundfahrt von zweieinhalb Dutzend Motorradfahrern quer durchs Land zu verhindern.

Es sind rund achtzig Leute, die pünktlich zur Mittagsstunde am Torgauer „Denkmal der Begegnung“ stehen. Viele Torgauer sind darunter, einige Biker aus dem Erzgebirge und aus Leipzig, Berliner, die von hier aus mitfahren wollen, aber auch Russen, Ukrainer, Tschechen. Rechts hängt die russische Staatsflagge, links schwenkt ein Pärchen die ukrainische. Die Sonne scheint, die Elbe plätschert, gleich müssen die selbsternannten russischen Patrioten kommen.

Wenn da nicht die Grenze wäre. „Vielleicht lässt man sie gar nicht rein“, sagt Heiner, der in der DDR mal im Gefängnis saß. Wegen Republikflucht. Heiner bekommt heute Verfolgtenrente, dennoch ist der 62-jährige frühere Kraftfahrer gar nicht gut zu Sprechen auf das Land, in dem er lebt. Kriegstreiber bestimmten viel zu sehr, sagt er. Die ganze Ukrainepolitik, das in Arabien… „Vor 25 Jahren“, schwärmt Heiner, „haben wir da unten in der Elbaue noch alle zusammen beim Elbe Day gefeiert!“

Heute hängen gegenüber am Ufer zwar auch noch US-Flagge, russische Fahne und die deutschen Farben einträchtig nebeneinander. Aber auch zwei Stunden nach der geplanten Ankunft der Nachtwölfe ist keine Spur der Russen zu sehen. Mitfahrer schicken Whatsapps. Begleitung durch die Polizei, in Tschechien darf der Konvoi auf zwei Spuren fahren. An der Grenze keine Probleme. „Viele Sympathisanten hier und Kamerateams.“ Kein Wunder, sagt ein junger Mann mit St. Georgsband am T-Shirt: „Die Regierung hat ja mit ihren Einreiseverboten alles getan, damit das ein richtiger Propagandaerfolg für Putin wird.“

Bundesinnenministerium und Auswärtiges Amt hatten nach den ersten Ankündigungen der Fahrt erklärt, das Unternehmen fördere nicht die deutsch-russischen Beziehungen. Polen verweigerte den "Nachtwölfen" die Einreise. Am Flughafen Berlin-Schönefeld wurden Mitglieder abgewiesen und erteilte Visa erst anerkannt, nachdem zwei Gerichtsinstanzen die Behörden in die Schranken gewiesen hatten.

Aber es kostet keine große Mühe, Putin noch mehr zu geben. Obwohl zwei russische Diplomaten den Konvoi begleiten, wird der kurz hinter der deutschen Grenze auf einen Parkplatz dirigiert. Eine Routinekontrolle, natürlich, gleich an der ersten Haltemöglichkeit auf der Autobahn 17 Prag-Dresden auf deutschem Gebiet. Es beginnt ein Nervenkrieg, der fast sechs Stunden anhalten wird: Die Russen werden einzeln vernommen, Pässe kontrolliert, die Ausrüstung untersucht. Rein, raus, rein. "Die filzen alles", kommt es per Facebook-Messenger rein. Als alles erledigt ist, kommen die mitfahrenden mazedonischen „Wölfe“ dran: Einem wird die Einreise verweigert, ohne Begründung.

In Torgau wird das Denkmal der Begegnung, in dessen Nähe sich Russen und Amerikaner einander vor 70 Jahren über die Frontlinien hinweg die Hände schüttelten, derweil seinem Namen gerecht. Es gibt Diskussionen, laute und leise. Pegida-Anhänger diskutieren mit Linken, Russen mit Ukrainern, Rocker mit Familienvätern. Niemand weiß nichts Genaues, doch das Gefühl, dass etwas ganz entschieden nicht stimmt, wenn ein Land wie Deutschland Angst vor einer Handvoll Motorradfahrern in schwarzen Kutten hat, das ist überall. „Die haben uns befreit“, sagt Jens, der mit seinem Motorrad aus dem Erzgebirge gekommen ist, „und wir lassen sie nicht rein.“

Deutsche Dankbarkeit, höhnt einer der Russen, ein älterer Mann, der später noch erzählen wird, wie er beim Abzug der Sowjetarmee aus Deutschland beschloss, hierzubleiben. Er ist dankbar. Aber. Ein Mann aus Freital, der eben noch Pegida als „meine neue zweite Heimat“ bezeichnet hatte, nickt ernsthaft. „Weißt Du, so lange wir euch in der DDR lieben mussten, konnte ich euch nicht leiden“, sagt er, „aber jetzt mag ich euch wirklich.“

Noch mehr solche seltsamen Allianzen lässt die Wartezeit entstehen, die sich mit jeder bei irgendeinem der inzwischen weit über hundert Menschen am Denkmal eingehenden Kurznachricht weiter ausdehnt. Immer noch werden die Nachtwölfe in Grenznähe durchsucht, immer noch sind die Sieger von vor 70 Jahren keinen Meter weiter. Doch da gleicht der Sachse dem Russen wie der Russe dem Ukrainer: „Und wenn ihr die bis heute Abend aufhaltet, wir warten“, raunzt ein sportlich gekleideter Fernradfahrer in Richtung des Polizeiwagens, der pünktlich jede halbe Stunde vorbeikullert und die Anwesenden zählt.

„Jetzt funkten die bestimmt durch, dass die Zusammenrottung sich immer noch nicht aufgelöst hat“, sagt Heiner, der Ex-DDR-Flüchtling, der lange überlegt hat, ob er sich hier wirklich sehen lassen kann. „Ich meine, kann es nicht sein, dass die einen fotografieren und dann ist meine Opferrente weg?“ Kopfschütteln ringsum. Eher nicht, meinen die meisten. Putinversteher sein ist nicht verboten, sagt einer. "Noch nicht", höhnt ein anderer. Wobei sich niemand so sicher ist. „Die filmen uns ja alle und dann rufen die bei den Betrieben an und sagen, der und der, der war bei der und der Demo.“ Der Mann meint das ernst. Sei doch gewesen, in Dresden. Ehrlich!

Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur, allerdings ist es mit fortschreitender Zeit auch schwierig, Wahrheit und Dichtung auseinanderzuhalten. Ist man für den Frieden, wenn man dafür ist, dass die Nato sich zurückhält? Ist man für Putin, wenn man dagegen ist, dass die EU sich immer weiter ausdehnt? Und wenn es ein „üblicher Vorgang“ ist, dass Reisende fünf Stunden kontrolliert werden, wie ein Sprecher der Bundespolizei sagt, „warum schreiben sie dann nicht einfach ,Willkommen in der DDR´ über den Grenzeingang“, fragt einer.

 Alle rundherum lachen. Mehrere gehen noch mal Bier holen. Andere essen Eis. Die Russlandfahne ist von ihren Besitzern inzwischen an einen Baum geknibbert worden. Die Besitzerin der ukrainischen Flagge hält ihr Tuch tapfer in der Hand. Inzwischen kennen sich die meisten aus der Wartegemeinschaft. Inzwischen fragt man sich gegenseitig beim Rundendrehen um den Platz: „Was Neues gehört?“

Nöö, nichts. Die Kioskfrau am Elbeufer freut sich. Was für ein Tag! Kinder spielen am Denkmal, hüpfen und springen. Die Rocker aus Sachsen. Thüringen und Brandenburg, die gegenüber geparkt haben, fahren immer mal eine Runde, wenn ihnen zu langweilig wird. Ein Schiff kommt vorbei, dann noch eins. Dann rufen die Nachtwölfe nach Hilfe: Dass sie noch bis Berlin kommen an diesem Abend, der sich langsam zur Ruhe legt, glauben sie nun auch nicht mehr. Es ist nun ja schon um sieben und die Polizei schickt sich nach einer Entscheidung aus dem Bundesinnenministerium zwar an, die 25 Motorradfahrer nun doch weiterfahren zu lassen. Aber erstmal bis zur nächsten Tankstelle. „Wir brauchen Übernachtung für mindestens 20 Leute“, heißt es bei Twitter. „Ein paar könnten mit zu uns kommen“, sagt eine Frau sofort. „Ich gehe los und frage einen Kumpel, der hat eine Pension“, verabschiedet sich ein Mann.

Am Begegnungsdenkmal diskutieren sie mittlerweile die ganze Weltpolitik. Eurokrise, Griechenschulden und immer wieder die Ukraine und die NSA. Wer sagt "Schoßhündchen, wir sind Schoßhündchen", darf auf großes Nicken in der Runde hoffen.

Aber immer noch keine "Nachtwölfe", immer noch keine Harleys und Goldwings. Und immer noch geht keiner, sondern es kommen immer mehr Leute dazu. „Wäre eine schöne Geste, wenn der Bürgermeister sich herbemüht hätte“, sagt Heiner. „Da wären die auch nicht schneller hiergewesen“, entgegnet ihm der Pegida-Mann. Für ein paar Minuten ist der Pudel eines Russen ein Star, denn er trägt ein St. Georgsband am Hals, wie es die Separatisten in der Ostukraine tragen. Die Leute reden, als sei ihnen bewusst, dass das hier eine Machtprobe ist, wie Jens glaubt, der sich an den Herbst 1989 erinnert fühlt: „Es geht nur darum, ob wir eher aufgeben oder die.“ Er guckt dabei zum Streifenwagen rüber, der gerade wieder vorbeischleicht.

Ein Fernduell zwischen der Bundespolizei auf dem Parkplatz "Am Heidenholz", drei Kilometer hinter der Grenze. Und den Frauen und Männern mit den Fahnen, Fähnchen und Bändern 150 Kilometer weiter nördlich am Elbufer von Torgau. Es dauert. Die Sonne sinkt. Im Vorübergehen hört man hört Leute jetzt auf Angela Merkel schimpfen.

Kurz vor zehn treffen die Nachtwölfe schließlich in Torgau ein. Nur ein Blitzlichtgewitter und ein paar Taschenlampen erhellen noch die Kranzniederlegung. Für Friedensgesten ist Platz in der Nacht. „Drushba – Freundschaft“, rufen die Leute dann, der Rhythmus sitzt noch von damals in der DDR.

Mittwoch, 29. April 2015

Geheimdienstkrieg: Als die Stasi die NSA ins Visier nahm

Dass die NSA bundesdeutsche Politiker, Firmen und Institutionen belauschte, wusste das DDR-Ministerium für Staatssicherheit bereits in den 80er Jahren. Umso erstaunlicher scheint es, dass 30 Jahre später deutsche Spitzenpolitiker mit der Behauptung durchkommen, sie hätten nie geahnt, welches Ausmaß die Überwachung im Westen durch die Dienste des Nato-Partners erreicht habe. Nicht nur, dass mehere bundesdeutsche Geheimdienste eigentlich die Aufgabe haben, Spionage auswärtiger Dienste zu verhindern oder aber wenigstens sie zu bemerken. Nein, bereits vor längerer Zeit hat der frühere Stasi-Mann Klaus Eichner ein Buch über die Kenntnisse des MfS geschrieben, das deutlich macht: Wissen ist Macht, doch in der Welt der Politik ist manchmal Nichtwissen Voraussetzung für das Überleben im Amt.

Als Edward Snowden der Welt enthüllte, welches Ausmaß die Überwachung der elektronischen Kommunikation durch den US-Geheimdienst NSA erreicht hat, erschütterte die Nachricht das Grundvertrauen von Millionen Menschen, die bis dahin nicht ahnten, dass jede Mail, jedes Telefonat und jede SMS nicht nur mitgelesen und ausgewertet werden kann. Sondern auch mitgelesen und abgehört wird. Das ist deutschen Geheimddiensten zwar verboten, soweit es im deutsche Staatsbürger betrifft. Aber seit Jahrzehnten wird diese Vorgabe aus dem Grundgesetz ganz einfach ausgehöhlt: Der Bundesnachrichtendienst kümmert sich um Verdächtige im Ausland. Der Verfassungsschutz kümmert sich nicht um die Aktivitäten befreundeter Dienste im Inland. Und dafür liefern diese Daten über Deutsche, die deutsche Dienste selbst nicht erfassen dürfen.

Keine Neuigkeit war das für Klaus Eichner, der bis 1990 als Analyst des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit für die Überwachung der Tätigkeit der US-Geheimdienste in Deutschland zuständig war. Eichner, zuletzt im Range eines Obersten, berichtet in seinem Buch „Imperium ohne Rätsel“ (Edition Ost, 9,99 Euro) vom US-Unteroffizier Jeffrey M. Carney, der 1985 in die DDR übergelaufen war, nachdem er zuvor zwei Jahre lang Einzelheiten über US-Spionageziele in Deutschland an die Stasi verraten hatte. Schon damals führten CIA und NSA Listen mit heute sogenannten „Selektoren“, also Telefonnummern, Adressen und Namen, zu denen die US-Behörden gern mehr und am liebsten alles gewusst hätten.

Durch Carney, der nach dem Mauerfall zwar Bundesbürger, dennoch aber in die USA abtransportiert und als Deserteur verurteilt wurde, war das MfS im Bilde über den geheimen Krieg der elektronischen Aufklärung, der sich nicht nur gegen Ziele im Osten, sondern auch gegen welche in der Bundesrepublik richtete. „Obwohl wir vorrangig ostwärts gerichtete Aktivitäten beobachteten, stellten wir fest, dass nicht wenige Ressourcen westwärts gerichtet waren“, beschreibt Eichner die Stasi-Informationen über Abhöranlagen in Berlin und Marienborn. Verwunderlich findet der Stasi-mann das nicht, schließlich hätten „große Staaten keine Freunde, sondern nur Interessen“.

Nachdem ein weiterer Überläufer der Stasi damals die Wunschlisten der NSA zur Informationsgewinnung in sämtlichen Ländern der Erde zuspielt, weiß das Mielke-Ministerium, „wie stark bereits Anfang der 80er das Interesse an der Aufklärung der westlichen Verbündeten war“. Seitenweise seien damals Informationswünsche zu verbündeten Ländern wie Frankreich, Kanada oder der BRD aufgelistet worden - ein Umstand, an dem sich bis heute offenbar nichts geändert hat.

Überwachungsstaat Deutschland: Ein Buch listet 600 Abhörstationen, Peilstellen, Ausbildungsstätten und Produktionsfirmen in der BRD und der Ex-DDR seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf.

Donnerstag, 9. April 2015

Stephen Kings "Revival": Alles fängt mit E an

Gitarre spielt Stephen King eigentlich nur für den Hausgebrauch. Aber mit den Rock Bottom Remainders ist der Altmeister des Horror tatsächlich schon öffentlich aufgetreten. Die Klampfe hatte er hoch unter die Achsel geschnallt, das T-Shirt verschwand im Hosenbund und die Stimme krähte auf halb acht.

So ähnlich muss Jamie Morton aussehen, der Erzähler und Held von Kings neuem Roman "Revival". Ein abgewrackter Rock-Gitarrist ohne Illusionen, dafür aber mit einem Riesenrucksack aus Traumata auf dem Buckel, so beschreibt der 67-jährige Auflagenmillionär die Figur, die den Nachfolger des hochgelobten letzten Buches "Mr. Mercedes" beinahe allein wegträgt.

Das kommt, weil Stephen King sich auf seine Stärken besinnt. Statt Monster und Gespenster zu bemühen, verlegt er sich wie zuletzt häufiger darauf, einen untergründigen, unausgesprochenen Schrecken heraufzubeschwören. Furcht kommt nicht von außen, Furcht kommt von innen, das Grauen wartet nicht in der Kanalisation wie noch bei "Es", sondern hinter der Straßenbiegung, wo der Traktor steht, den deine Frau und dein kleines Kind gleich mit voller Geschwindigkeit rammen werden.

Jamie Morton ist sechs, als das Buch beginnt und der Kleinstadtjunge dem Priester Charles Jacobs zum ersten Mal begegnet. Jamie weiß nicht, dass der begeisterte Hobby-Elektroniker sein großer Gegenspieler werden wird. Er ahnt nicht, dass er eines Tages seinetwegen vom Glauben abfallen muss. Er liebt den Mann, und er liebt ihn noch viel mehr, nachdem er seinem Bruder mit einem kleinen Trick die verlorene Sprache zurückgegeben hat.

Die großen Momente von Kings Schreiben kommen hier zusammen. "Stand by me" ist das, die mit River Phoenix und Kiefer Sutherland verfilmte Novelle, die der Mann aus Maine heute für eine seiner besten Arbeiten hält. Der "Friedhof der Kuscheltiere", der für eine Idylle mit Schatten steht. Und "Shining" natürlich, die klaustrophobische Studie eines in den Wahnsinn abgleitenden Autors. Geschütteltes Grauen, gewürzt mit Prisen aus Werken von Mary Shelley, Ray Bradbury und H.P. Lovecraft, so wird aus "Revival" ein Comeback für den Erzähler King.

Der lässt hier Zeit, er fesselt seine Leser ohne vordergründige Effekte. "Revival" ist anfangs das Porträt einer Kleinstadt in den amerikanischen Baby-Boomer-Jahren, das zum Porträt einer Kleinstadtjugend in den 70ern wird. Die Welt ist gut hier, die Zukunft offen, die Menschen mögen einander.

Das Böse schwebt wie ein Nebel durch die Straßen, während Jamie Morton erwachsen wird und die Bluesmusik für sich entdeckt. Reverend Charles Jacobs aber, nach dem Unfalltod von Frau und Kind kein Mann Gottes mehr, zieht umher und tut Gutes, auch seinem früheren Schützling Jamie, den er, inzwischen Chefscharlatan einer eigenen bizarren Kirche der Elektrizität, von seiner Heroinsucht heilt.

Es wimmelt hier von Anspielungen und Querverweisen, von Zeitsprüngen und liebenswerten Nebenfiguren. Stephen King, ein großer Zitierer schon immer, baut auf Bruce Springsteen und Edgar Allen Poe auf, doch im Grunde sucht er nach dem Sinn des Lebens, das seinem Protagonisten mit zunehmendem Alter scheint wie das Experiment mit dem Frosch im Kochtopf: Je langsamer die Temperatur steigt, desto weniger spürt der Lurch, dass er gekocht wird.

Die Geschichte atmet hier seitenlang für ihre Leser, King spielt mit der Erwartung seines auf Spuk konditionierten Publikums. Aber er erfüllt sie nicht: Trotzig dreht er ab, wechselt die Richtung, legt falsche Fährten und lässt die elektrisch aufgeladene Atmosphäre so je mehr knistern, je näher er dem unausweichlichen Finale kommt.

Das erlebt Jamie Morton als alter Mann, von einer Aufgabe nicht weniger erfüllt als sein Gegenüber. Die letzten großen Fragen stehen zur Debatte, die Rätsel des Jenseits, der Blick über den Horizont. "Revival" endet, wie Stephen King seine Bücher so gern enden lässt: Der Leser bleibt zurück mit roten Ohren und offenem Mund.

Stephen King: "Revival", Heyne Verlag, 512 Seiten, 22,99 Euro