Mittwoch, 5. April 2017

Wir Sklaven des Belohnungszentrums

Schön und schlau soll der digitale Zwilling sein - vor allem Männer riskieren dafür viel. Von wegen sozial! Beeindrucken, begeistern und von sich selbst überzeugen, das ist es, was Internetnutzer in sozialen Netzwerken wirklich wollen. 

Schön und schlau soll er sein, der digitale Zwilling, weitgereist, empfindsam und sympathisch rüberkommen. Denn wichtigstes Ziel, das zeigt jetzt eine Studie im Auftrag des russischen Antiviren-Spezialisten Kaspersky Lab, ist es, viele Like-Klicks zu sammeln.

Dabei stellen viele Nutzer ihr Leben häufig aufregender dar als es ist. Vor allem Männer agieren offener und geben mehr von sich preis als Frauen. So würden in Deutschland 5,6 Prozent der Männer, aber nur 3,2 Prozent der Frauen vertrauliche Informationen über Kollegen im Netz öffentlich machen, um zu punkten. Peinliche Details über Freunde würden 6,6 Prozent der Männer verraten, aber nur 2,4 Prozent der Frauen.

Dass Männer eher bereit sind, Grenzen zu überschreiten, erklärt die Medienpsychologin Astrid Carolus damit, dass „Männer weniger auf soziale Harmonie fokussiert sind und höhere Risiken eingehen“. Dabei schonen sie auch ihre eigene Privatsphäre nicht. So gaben 14,2 Prozent der befragten Männer in Deutschland an, sie würden auch Fotos posten, auf denen sie nur leicht oder sogar gar nicht bekleidet sind. Bei den Frauen sind dazu laut Umfrage nur sechs Prozent bereit.

Enthemmung, die um Aufmerksamkeit buhlt. „Auf der Suche nach sozialer Akzeptanz werden die Grenzen des Privaten weit gedehnt“, glaubt Holger Suhl von Kaspersky Lab. Nutzer setzten sich und andere damit Risiken aus, die im Ernstfall zu gestörten Beziehungen im richtigen Leben führen können. In Deutschland wollen 42,6 Prozent aller Befragten nicht, dass Freunde Fotos von ihnen veröffentlichen.

„Wir sollten daher mehr darauf achten, welche Informationen über soziale Netzwerke geteilt werden“, empfiehlt Sicherheitsexperte Suhl. Verglichen mit dem weltweiten Durchschnitt sind deutsche Nutzer hier aber schon ein Stück sicherheitsbewusster. Nur 7,1 Prozent (weltweit zwölf Prozent) würden für mehr Likes beim Posten die Wahrheit verdrehen. Auch hier sind mehr Männer (8,4 Prozent) als Frauen (5,8 Prozent) dazu bereit.

Der Unterschied liegt nach der Studie namens „Have we created unsocial media?“ darin, dass Männer in sozialen Netzwerken stärker nach Anerkennung suchen. So sind in Deutschland 16 Prozent der männlichen, aber nur 11,8 Prozent der weiblichen Nutzer der Meinung, dass mit fehlenden Likes auch ihr Ansehen bei Freunden abnimmt. Beide Geschlechter sind etwa gleich stark beunruhigt (etwa 17 Prozent), wenn nahestehende Menschen keine Reaktionen auf ihre Posts zeigen.

Montag, 27. März 2017

Stefan Diestelmann: Blues-Gott mit Gitarre



Immer noch beeindruckend, welche Präsenz dieser Mann selbst auf dieser seiner letzten Bühne gehabt hat, die nur ein kleines Boot auf dem Ammersee in Bayern war. Stefan Diestelmann spielte noch einmal sein ganzes Leben - und nicht nur den Blues. Den aber konnte er besonders gut - heute vor zehn Jahren ist der erfolgreichste und wichtigste Bluesmusiker der DDR.

Die genauen Umstände sind immer noch unbekannt, vermutlich werden sie auch nie offenbar werden, weil die einzigen Freunde, die der Gottkönig des DDR-Blues am Ende seines bewegten Lebens noch hatte, auf seine Bitten hin schweigen.

Fast wäre sogar der Tod des Ost-West-Wanderers unbekannt geblieben, weil der gebürtige Bayer Diestelmann es vorzog, nach seiner Rückkehr in die alte Heimat und dem künstlerischen Scheitern dort langsam und dann immer schneller aus der Öffentlichkeit und den Konzertsälen zu verschwinden.

Diestelmann, ein Leben lang ein begnadeter Geschichtenerzähler, der jede seiner verrückten Storys auch selbst zu glauben schien, pflegte den Nimbus des Total-Aussteigers. Kein Blues mehr, kein Applaus und keinerlei Kontakte. „Er hat sich der Familie entzogen", erinnert sich sein Onkel Jürgen Diestelmann. Wenn Touristen aus dem Osten ihn erkennen und fragen, warum er denn nicht mehr spiele, lässt er sie wissen, dass die Musik ihm zu wichtig sei, "dass ich sie als Broterwerb betreiben will". Aus dem wichtigsten Blues-Mann der DDR wird ein Freizeitkapitän, der sein Boot über den Ammersee steuert und behauptet, die Musik gar nicht zu vermissen.

Dabei war er für die wie geschaffen. Zu Hause geschlagen von einem Vater, der ein Leben lang wütend auf seine eigene Entscheidung war, zugunsten der Karriere von West nach Ost zu ziehen und in der Schule als Wessi gemobbt, flüchtete Stefan Diestelmann früh in den Blues. "Es war der Rhythmus im Blues, der mich angemacht hat", sagt er später, "das Primitive, in dem alles steckt."

Mit der Gitarre ist er wer, wenn er singt, empfängt er Bewunderung. Es ist dies das Hochgefühl, dem Stefan Diestelmann nun stets nachjagen wird: im Mittelpunkt stehen, der sein, zu dem alle aufschauen. Er wird tatsächlich zum Star, er verdient viel Geld, er wird gefeiert und mit Preisen bedacht. Er bekommt einen Berufsausweis, obwohl er nie eine musikalische Ausbildung genossen hat, sondern stattdessen - zumindest nach eigenen Angaben - nach einem Fluchtversuch in der Besserungsanstalt landet.

Der Blues allein reicht ihm bald nicht mehr, sich in andere Welten zu versetzen. Stefan Diestelmann will es größer. Alexander Blume, sein Pianist, sieht ihn damals "immer bereit, zu übertreiben". So wird der Autodidakt zum Superstar in seiner eigenen Realität. Er spielt wirklich Konzerte mit Weltstars wie Phil Everly und mit Harmonica Phil Wiggins, aber es reicht nicht. Er  will in den USA mit BB King auftreten. Den Blues zurückbringen,. dorthin, wo er herkommt.

1984 nutzt Diestelmann einen Auftritt im Westen, um der DDR den Rücken zu kehren. Drüben taucht der König des Blues ab. Er dreht jetzt Werbefilme für Hotels und behauptet, sehr glücklich zu sein. Er ist immer noch ein großer Geschichtenerzähler, ein Mann, der abendliche Runden ganz allein unterhalten kann. Er spricht viel von früher. Er macht Witze. Er macht keine Musik mehr.

Er starb dann, wie er am Ende lebte: Umgeben von zwei, drei Menschen, zu denen er noch Kontakt hatte. Und vergessen von den Hunderttausenden, die einst seine Platte "Hofmusik" gekauft hatten.



Freitag, 24. März 2017

Hochwasser: Jemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen

So ähnlich wird die neue Mauer aussehen, die ab 2018 den Gimritzer Damm flankiert. 
Nach dem Hochwasser vom Sommer 2013 kam der Streit darum, wie es weitergehen soll. Dammbau hier oder dort, eine neue Eissporthalle oder die alte, alle Wege im Naturschutzgebiet asphaltieren oder doch nur ein paar? So schnell das Rathaus am Anfang vorgeprescht war, um gemeinsam mit bewährten Partnern vollendete Tatsachen zu schaffen, so zäh wurde die Geschichte schließlich vor Gericht.

Erst nach dreieinhalb Jahren wird nun langsam deutlich, wohin die Reise geht: Es wird kein neuer Damm gebaut, nicht an neuer Stelle wie ursprünglich vom Oberbürgermeister angestrebt, und nicht an alter, wie immer schon von der Verwaltung abgelehnt. Stattdessen entsteht ab 2018 neben dem alten Deich eine sogenannte Spundwand, wie sie heute schon in der Nähe von Barby an der Elbe zu bewundern ist (Bild oben).

Der Landesbetrieb für Hochwasserschutz hat die Absicht, eine 1.240 Meter lange Mauer zu bauen, immer entlang des alten Dammes - und höher als dessen Krone heute.

Benutzt werden für eine solche „tragende und dichtende Wand auf einer aufgelösten Bohrpfahlgründung“, wie es offiziell heißt, in der Regel Spundwandsegmente aus Stahl, die mehrere Meter tief in die Erde reichen. Nach oben überragt die künftige Stahlmauer zwischen Neustadt und der Peißnitz nach Fertigstellung jeden Menschen, sie zerschneidet die Verbindung zwischen Neustadt und Altstadt, sie verleiht der Naturidylle am Rande der Peißnitzinsel die Atmosphäre einer Industriebrache.

Sprayer werden sich freuen, Spaziergänger erschüttert sein. Für das Bauwerk weichen muss der komplette Bewuchs auf der Saaleseite des Dammes vom Sandanger bis zur Heideallee, geschätzte 500 Bäume, teilweise 30 bis 50 Jahre alt.

An ihrer Stelle wächst ein Stahlriegel im Vorfeld des Dammes, der in Zukunft  als "unüberwindliche Barriere für Tiere und Baumwurzeln" (Eigenwerbung) wirkt.

Sonntag, 5. März 2017

Zwei Jahre lang im Dschun­gel­camp

Der amerikanische Bestsellerautor T.C. Boyle lässt seine "Terranauten" scheitern.

Ein Käfig voller Narren, die sich im Namen der Wissenschaft für zwei Jahre einsperren lassen. Vier Frauen, vier Männer. So war es damals wirklich, Anfang der 90er Jahre, als das "Biosphere"-Projekt ausloten wollte, ob und wie eine kleine Gemeinschaft von Menschen in einem geschlossenen Wirtschaftskreislauf existieren kann.

T.C. Boyle hat aus Motiven der wahren Geschichte um den Garten Eden in der Wüste von Nevada den Roman "Terranauten" gestrickt - einen über 600 Seiten wuchernden Hybriden aus Kammerspiel, Wissenschaftsthriller und Psychokrimi. Es hängt was in der immer wieder aufbereiteten Luft, die die beiden Erzähler Dawn und Ramsay drinnen atmen, während die ausgebootete Linda von draußen eifersüchtig durch die Glasfenster zuschaut.

Wie die echte Biosphäre, die nach einem Jahr nur noch überleben konnte, weil Sauerstoff von außen zugeführt wurde, kämpft auch die literarische Neuauflage mit technischen wie menschlichen Problemen. So sehr sich zumindest einige Akteure auch schwören, in der Kuppel zu handeln als flögen sie zum Mars, so nah bleibt doch die Überwachungsmaschine draußen. Und mit ihr die Gewissheit, wenn etwas Ernstes passieren würde, ginge die Schleuse auf.

Dieses Wissen verändert das Zusammenleben und es verändert die Gruppendynamik. Abwechselnd aus der Perspektive von Dawn, Ramsay und Linda erzählt, kommt die Höllenfahrt ohne Ortswechsel fast ohne dramatische Momente aus: Kakerlaken und Spatzen bedrohen das Öko-Gleichgewicht, wie im Dschungelcamp geht es irgendwann darum, wer mit wem ins Bett geht. Und als Dawn schwanger wird, ist die Versorgungslage ohnehin schon angespannt und das große Experiment steht vor dem Scheitern.

T.C. Boyle, eigentlich ein Meister der packenden Schilderung überschaubarer Konflikte, hat an dieser Stelle leider schon das Interesse an seiner Story verloren. Er lässt sie irgendwie zu Ende gehen.

Für die einen so. Für andere so.