Donnerstag, 11. April 2019

Nach dem letzten Schuss: In der Nie­man­ds­zeit

Zu Ostern 1945 flogen die Alliierten letzte große Bombenangriffe auf Halle, die Stadt  wird in jener Osternacht schwerer getroffen als je zuvor.


Der Berliner Autor Harald Jähner erkundet in senem Buch "Wolfszeit" ein unbekanntes Land: Deutschland zwischen Kriegsende und Staatengründung.

Noch im September, fast sechs Monate nach dem letzten und größten Bombenangriff auf Halle, ist nicht nur die Welt, sondern auch die Saalestadt ein Trümmerfeld. Die Journalistin Ursula von Kardorff beschreibt das Elend, das auf dem Bahnhof von Halle herrscht, mehr als hundert Tage nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht und dem Untergang des Dritten Reiches. "Schaurige Bilder", schildert von Kardorff, die im Krieg zwar für Nazi-Zeitungen geschrieben, zugleich aber Kontakte zum Widerstand unterhalten hatte, "Trümmer, zwischen denen Wesen herumwandern, die nicht mehr von dieser Welt zu sein scheinen".

Die Apokalypse, zum Alltag verlängert. "Heimkehrer in zerfetzten, wattierten Uniformen, mit Schwären bedeckt, an selbstgemachten Krücken schleichend", schreibt die Mittdreißigerin, die das Ende halbwegs glimpflich in Bayern überlebt hat. Überall nur "lebende Leichname", schreibt sie, stolpernd durch eine Zeit, die nicht mehr die alte ist und noch nicht wieder eine neue. Deutschland zwischen Kriegsende und Staatengründung.


Harald Jähner, studierter Historiker und Literaturwissenschaftler und ehemals Feuilletonchef der Berliner Zeitung, besucht dieses Land in der Niemandszeit zwischen 1945 und 1955, die keineswegs die "Stunde Null" war, von der so oft die Rede ist. "Wolfszeit" erzählt den Zusammenbruch nicht als kurzen Moment, sondern als quälenden Prozess. Die Städte liegen in Ruinen, von 75 Millionen Menschen, die in den vier Besatzungszonen leben, befindet sich mehr als die Hälfte nicht dort, wo sie hingehören oder hin wollen.

Doch es gibt keine Transportmittel, diese 40 Millionen Flüchtlinge, ehemalige KZ-Häftlinge, entlassene Kriegsgefangene, Fremdarbeiter und rückkehrwillige Stadtbewohner, die vor den alliierten Bomben aufs Land ausgewichen waren, zurückzubringen. Nicht einmal genug Koffer für alle sind da, obschon die meisten kaum noch eine Habe ihr eigen nennen. Und wer es trotzdem dorthin schafft, wo er sein Zuhause wähnt, findet oft nur Ruinen, Häuser ohne Dach, Räume ohne Wände.

Fast die Hälfte aller Wohnungen in Deutschland sind zerstört, man haust in Gruppen in verbliebenen Zimmern, auf den Bahnhöfen, in Kaufhauskellern. "Doch die verbreitete Vorstellung, Deutschland nach Kriegsende sei ein leeres, unendlich stilles Land gewesen, ist falsch", korrigiert Jähner. Denn überall auf den Straßen zogen Kolonnen entwurzelter Menschen entlang: Sieger und Besiegte begegneten sich aus unterschiedlichen Richtungen kommend, in einer Welt aus Rädern. "Verschleppte fuhren in Lastwagen zurück Richtung Warschau, französische Kriegsgefangene schwenkten die Trikolore, wie ein schmaler Bach rieselte dazwischen die andere Welt, die deutsche Welt, die Welt zu Fuß."

Nichts ist festgelegt in diesen Tagen der Neuordnung, der auch die Alliierten nur mit Mühe und ganz grob eine Richtung geben können. Die Integration der nach Westen strömenden Bewohner der verlorengegangenen Ostgebiete, die später als "Eingliederungswunder" Furore machen wird, ist vor Ort ein Kampf um die raren Ressourcen, der mit allen Mitteln ausgefochten wird.

Es gibt einerseits sehr schnell wieder Theatervorstellungen, Zeitungen, Musik und trotz des grausamen Missbrauchs von hunderttausenden Frauen eine wilde Sehnsucht nach menschlicher Wärme und körperlicher Nähe. Gleichzeitig aber ist der Hunger allgegenwärtig. Plündern und Rauben wird hoffähig und Schwarzmarkthandel gibt denen, die nur schnell, skrupellos und gewitzt genug sind, einen Vorgeschmack darauf, was für Möglichkeiten im Kapitalismus schlummern.

Hans Magnus Enzensberger, damals ein Teenager, ist einer der frühen Profiteure einer auf den Kopf gestellten Welt. Er spricht Englisch und er muss den Alten, den moralisch diskreditierten, zur Hand gehen, damit die verstehen, was Briten und Amerikaner von ihnen wollen. Enzensberger, gerade 16, spielt seine Macht aus: Er tauscht NS-Devotionalien gegen Ami-Zigaretten und erwirbt für diese immer noch mehr Dolche, Orden und Waffen. Im Keller hortet er irgendwann 40 000 Kippen, jede zehn Reichsmark wert. Ein Vermögen, das den Jungen in der kurzen Hose das Lammsein hinter sich lassen wird. Es macht ihn zu einem Wolf, einem der Wesen, die er Jahre später in seinem Dichter-Debüt "Verteidigung der Wölfe" nur halb ironisch vor den Lämmern in Schutz nimmt.

Da ist die Niemandszeit vorbei und die Deutschen haben sich rechts und links der ideologischen Blöcke eingeordnet.

Auf beiden Seiten wird es ihnen bald gelingen, zu den besten Gefolgsleuten ihrer Schutzmacht zu werden.





Dienstag, 2. April 2019

Verwaltungsgespräch: Ein Dialog für die Tonne


Das sieht auf dieser Wiese immer aus wie Sau! Wir brauchen zusätzliche Müllkübel.

Gute Idee! Die müssen wir aber auf ein festes Fundament stellen, sonst schmeißen die uns die Dinger ständig um.

Ja, feste Fundamente sind gut. Die gießen wir richtig sicher in den Rasen, zwanzig Zentimeter tief, dürfte reichen. Okay, nein, lass und 25 machen.

25 klingt super. Und dann so einen Mast dahinter, wo wir die Kübel festketten können.

Richtig fest, genau. Und was nehmen wir für Kübel?

Habe ich schon bestellt, so große, schwarze. Die bekleben wir dann mit lustig gemalten Bildern von städtischen Künstlern, die städtische Motive malen.

Großartiger Einfall. Hast du schon bestellt? Die Kübel?

Ja, zwei Dutzend Sulo-120 Liter, klasse Dinger, ganz stabil. Fahrbar, aus speziell entwickeltem hochmolekularem Niederdruckpolyäthylen, verrottungsfest, frost-, hitze-, chemikalienbeständig.

Die sind aber aus Plastik, oder?

Ähm, ja. Schon irgendwie. Wieso?

Weil die da grillen, die grillen da, dauernd.

Naja, Grillen. Ich meine, die sind hitzebeständig.

Und wenn da einer Glut reinschmeißt? Meinste, das gilt dann noch mit dem hitzebeständig?

Könnte, naja, ich hoffe doch. Außerdem…

Was außerdem?

Außerdem werfen die da keine Glut rein, ganz sicher nicht. Das sieht doch jeder, dass die Tonnen aus Plastezeug sind. Das will doch keiner, dass es da brennt. Denkste nicht? Das verklebt doch dann die ganzen schönen Fundamente. Und die klasse Festschnallmasten gehen kaputt.

Und die künstlerischen Bilder mit Stadtmotive.

Ja, die auch.

Das wäre traurig.

Ganz traurig wäre das.

Ganz traurig.


Sonntag, 17. März 2019

Kahlschlag auf der Peißnitz: Baum-Mord auf Raten


Es ist der Traum vom reinen Wald wie ganz früher, einer Natur ohne "Fremdgehölze", auch wenn die wie der amerikanische Eschen-Ahorn (Acer negundo) schon seit 300 Jahren in Deutschland wächst. Als Neophyt geranntmarkt, steht er auf der "Schwarzen Liste" der Gewächse wie die Silber-Weide und die Schwarz-Pappel verdrängt, deren deutsche Standgeschichte noch länger währt.

Gegen diese "Invasion" (hallelife) hilft nach Meinung von Experten die sogenannte "Ringelung" am besten. Dabei wird dem Baum ein mehrere Zentimeter breiter Streifen der Rinde am unteren Teil des Stammes ringförmig abgeschnitzt. So soll, das zumindest ist der feste Glaube der Ringler, dem geringelten Baum der Saftstrom abgeschnittenn, so dass der Transport von Nährstoffen von den Wurzeln in Äste und Zweige und Blättter gestoppt wird.

Vor vier Jahren begann eine große Ringelaktion auf der unter Naturschutz stehenden Nordspitze der Peißnitzinsel, auf der seit einigen Jahren auch wieder mehrere Biber heimisch sind. Wie die Pläne zur Schotterung der Waldwege gehört auch das gezielte Absterbenlassen von Bäumen zur Umsetzung städtischer Pläne, sogenannte "invasive Neothyten" mit Hilfe hochrangiger Helfer aus der Politik zu bekämpfen, weil sie heimischen Pflanzen und damit auch Tieren die Lebensgrundlage entzögen.

In der Theorie reicht es, die in der DDR ihrer pflegeleichten Wuchsfreudigkeit achtlos angepflanzten Bäume ausgiebig zu ringeln, um sie binnen dreier Jahre in Totholz zu verwandeln. Mit dem aufwendigen Verfahren soll vermieden werden, dass gefällter Eschen-Ahorn bereits im zweiten Jahr Stockausschläge bildet, die dazu führen, dass mehr Eschen-Ahorn wächst statt weniger. Geringelte Bäume hingegen sind nach drei Jahren abgestorben, kahles Stämme, die nur noch abgesägt und abtransportiert werden müssen.

Wenn sie nicht in der Praxis selbst andere Absichten erkennen lassen, wie das die geringelten Bäume auf der Nordspitze tun. Statt zu sterben und damit Raum zu schaffen, in dem sich "die naturnahe Aue" (Koordinationsstelle invasive Neophyten in Schutzgebieten Sachsen-Anhalts) wiederherstellen lässt, weigern sich die Geringelten, beim Kahlschlag mitzumachen. Mit Erfolg: Auch in diesem Jahr schlagen die totgeweihten Ringelbäume auf der Nordspitze wieder zuverlässig aus, ebenso wie ihre bereits vor noch längerer Zeit geringelten Artgenossen am Ufer der Wilden Saale (Foto Mitte).

Samstag, 9. März 2019

Lost Places: Der Rätselpalast von Dreżewo


Dreżewo ist eine kleine Stadt, eigentlich ein Dorf, nur ein Dutzend Kilometer von der belebten polnischen Ostseeküste mit ihren frisch polierten Urlaubsstädten entfernt. Gerade hier, im Niemandsland, das kaum jemals ein Tourist erreicht, wartet eine Sensation für Freunde zerfallender Großarchitektur: Das Herrenhaus in Dreżew, einst auf Initiative des Wirtschaftsberaters von Schlutów aus Stettin errichtet, damals für bescheiden gehalten, heute aber wie ein riesiges Schloss aufragend aus einer Gegend, in der sonst nur schlichte Hütten stehen.


Die erste Erwähnung der traurigen kleinen Siedlung, in deren Mitte das gewaltige Bauwerk prangt, stammt aus dem Jahr 1287, als Fürst Bogusław das gesamte Dorf einem Frauenkloster in Trzebiatów übergab. Später gehörte das Dorf der Familie von Karnitz, im Jahr 1740, als der letzte erwachsene Eigentümer starb, übernahm dann eine Familie namens von Woedtke das Anwesen, das an einen Kapitän von Schmeling verkauft wurde, der es wiederum an die Witwe des Kaufmanns Becker aus Kolobrzeg weitergab. Niemand hatte Glück mit dem Gut, jeder gab es, so scheint es, möglichst schnell weiter. Dreżewo gehörte als nächstes der Frau des Kaufmanns Kaufmann und danach erbte es die Familie von Fleming. Ab 1828 befand sich das Gut dann in den Händen von Heinrich von Elbe, der es schließlich 1875 an Eduard von Bonin verkaufte. 

Damit begann die bunteste, aber auch rätselhafteste Zeit: Bonin unterhielt enge Geschäftsbeziehungen mit dem Vater der spanischen Adelsfamilie de Val Florida. Girona de Val Florida kam sogar nach Drezewo, wo sie eine Affäre mit dem jungen von Bonin gepflegt haben soll, der allerdings schon mit einer französischen Gräfin verlobt war - Angelica Vermandois.

Als die 1890 nach Drezew kam, brach im Schloss ein Feuer aus, und ihre Rivalin Girona de Val Florida starb in den Flammen. Der Palast wurde danach im neugotischen Stil umgebaut, doch Glück und Zufriedenheit wollten nicht einziehen.



Nach dem Krieg griff ihn sich der polnische Staat, der ein Gestüt im weitläufigen Gelände gründete. Das ging pleite und verschwand, dafür kam nach dem Zusammenbruch des Sozialismus ein Geschäftsmann namens Stanisław Paszyński, der die weitläufige Flur pachtete, um Windparks anzulegen. Gironas Fluch wirkte, die Pläne wurden nie umgesetzt, und das Herrenhaus zerfiel langsam.

Bis die Spanier kamen und neue Hoffnung mitbrachten. Im Juli 2006 wurde das sagenhafte 302 Hektar große Anwesen von Hiszpan Ricardo Crespo Fuster gekauft, einem spanischen Geschäftsmann, der hier ein Hotel und einen Golfplatz mit Freizeitzentrum errichten wollte. Er tat es jedoch nicht, und der Palast wurde zusammen mit einem wunderschönen, 7,5 Hektar großen Park zu einer mit Unkraut überwachsen Ruine. Die inzwischen den ganz besonderen Zustand sehenswerten Verfalls erreicht hat.