Sonntag, 15. November 2020

Entlang der Elbe: Wo Deutschland einst zwei Enden hatte

Die nächste Grenze, die wir zu überqueren haben, ist die Elbe, die einzige große Wasserscheide zwischen dem Westen und dem Osten auf unserer Wanderung. In der Nähe gibt es keine Brücke, sondern seit Anfang des 17. Jahrhunderts nur noch eine Fährverbindung zwischen Schnackenburg und Lütkenwisch. 1945 stoppten die sowjetischen Truppen den Fährverkehr gewaltsam - danach gab es keinen Weg mehr auf die andere Seite, weil die innerdeutsche Grenze mitten im Fluss verlief, heute ein blauer Wasserstrom unter einer grellen Sonne zwischen grünen Ufern.
Angespornt durch die erfolgreiche Wiederzulassung benachbarter Fährverbindungen nach der Wende griff der Schnackenburger Klaus Reineke 1991 tief in die Tasche und kaufte in Holland eine alte Fähre auf. Die Elbe sollte wieder verbinden, nicht mehr trenne. Seit dem 7. September 1991 verbindet die Fähre "Ilka" also, was zusammen gehört. 

Der Elbe-Pionier


Das verrückte Idee kostete Reinecke in den ersten Monaten seine ganze Kraft. Er fuhr alle Touren selbst und erlebte dabei unzählige emotionale Momente: Menschen fielen sich gegenseitig um den Hals und wollten nicht mehr loslassen. An der Anlegestelle der Schnackenburger Fähre erinnert bis heute ein nicht zu übersehendes Zeichen an die Aufhebung der unmenschlichen Trennung eines Kontinents.
Die Ilka läuft bis heute normal, und mit etwas Glück findet man Klaus Reineke, seit 2004 im Ruhestand, in den Sommermonaten Aushilfe am Steuer. Aber nicht in diesem Sommer, denn die Ilka ist außer Betrieb. Also müssen wir zu Fuß nach Gartow laufen, einer kleinen Stadt ein paar Kilometer entfernt. Gartow hat auch eine Fähre, die unter dem Namen "Westprignitz" von Lenzen nach Pevestorf fährt. Sie ist sehr klein und braucht nur wenige Minuten zum Umsteigen. 

Kolonnenweg auf der Ostseite


Auf der anderen Seite sind wir wieder auf der Strecke: Der Kolonnenweg verläuft jetzt entlang des Elbedamms. Das erste Zeichen der Geschichte ist ein Wachturm direkt an der Grenze, der die Landschaft, den breiten Fluss und die flache Erde ringsum überblickt. Zum ersten Mal begegneten wir den Radfahrern, die zu Hunderten den Elberadweg entlang fahren. Für sie ist er eine Art Autobahn mit schönen Aussichtspunkten, einigen Kaffeehäusern und schön renovierten Häusern, die nicht mehr an die schlechten Zeiten erinnern, als hier der Eiserne Vorhang verlief und niemand zu nahe an den Fluss herankommen durfte.
Zweimal im Laufe der Jahre wurden alle Menschen, die hier lebten, brutal evakuiert und weggebracht, um die Grenze sicher zu machen. Nur sehr zuverlässige Bürger durften bleiben. Peter, ein älterer Mann, erzählt uns, dass er hier als Landwirt gearbeitet hat. "Jedes Mal, wenn ich in das Sperrgebiet gehen musste, um auf die Kühe aufzupassen, saß ein Soldat mit seiner Waffe im Auto hinter mir, um sicherzustellen, dass ich nicht abhaue." 

40 Jahre unerreichbar


Das historische Stadtzentrum von Lenzen liegt nur 1,5 km nordöstlich entfernt. Es war fast 40 Jahre lang unerreichbar. Mit seiner ersten Erwähnung im Jahre 929 ist Lenzen der Ort mit der ältesten dokumentierten Geschichte in der gesamten Prignitz. Hinter Bäumen versteckt, lässt sich die Silhouette der Burg Lenzen erahnen. Vor tausend Jahren bauten die Slawen hier eine hölzerne Wehrburg. Auf der gegenüberliegenden Elbseite erhob sich damals wie heute der Höhenrücken des Höhbecks, auf dem König Karl der Große im späten 8. Jahrhundert ein Kastell errichten ließ, um die Grenze gegen die Slawen zu sichern.
Es ist unglaublich, sich vorzustellen, dass dieser Landstrich, der so eine lange gemeinsame Geschichte hat, für Jahrzehnte in zwei Hälften geteilt wurde. Man sieht heute nur noch die friedliche Landschaft, die Radfahrer und den breit dahinrollenden Fluss zwischen dem tiefen Grün der Ufer und den seichten Sandstränden. Die berühmte Eiseiche bei Mödlitz ist die nächste Landmarke, an der wir vorbeikommen. Sie hat all dies gesehen. Und sie hat überlebt wie die Menschen, die jetzt wieder hier leben, wo Deutschland einst zwei Enden hatte. Englische Version

Samstag, 31. Oktober 2020

Wandern auf dem Kolonnenweg: Im Apfelhain der Grenzsoldaten


Es ist ein feuchtes Erwachen mitten im Nirgendwo. Seit drei Uhr morgens regnet es heftig über dem ehemaligen Todesstreifen am Rande der "Planken und Schlettauer Post", wo unser Zelt mitten im Niemandsland des Kalten Krieges steht. Heute ist das hier ein sehr friedlicher Ort. Zwischen den beiden Gräben, die von den Grenzbefestigungen übrig geblieben sind, mit denen das kommunistische DDR-Regime seine Bürger an der Flucht in den Westen hindern wollte, lebt nur noch Mutter Natur. Selbst die Wassergräben sind normalerweise am Ende des Sommers trocken. Doch heute bringt der Regen das Wasser zurück. Der Todesstreifen wird wieder zum Gefängnis, das Zelt wird nass und wir können uns erst mittags hinauswagen. 



Der Weg, den wir gehen müssen, ist auch ein rutschiges und schlammiges Abenteuer. Der Kolonnenweg führt heute durch tiefe und dunkle Wälder, die "Betonkekse", wie die Wegplatten genannt werden, gehen manchmal verloren, und wir müssen den historischen Postenweg mühsam wiederfinden. Einige der Wegweiser sind hier sehr speziell: Auf einmal tauchen tief im Mischwald einige echte Apfelbäume auf, die hier garantiert nicht hergehören. 



Ein Rätsel - aber mit einer sehr einfachen Erklärung. Vor Jahren im Kalten Krieg nahmen die Soldaten und Grenzsoldaten während ihrer Wachschicht immer Äpfel als Proviant mit. Sie aßen sie und warfen die Reste in den Wald. Ein guter Ort zum Wachsen. Heute ist aus den Griebschen ein Apfelhain gewachsen, an einer Stelle, an der seit der letzten Eiszeit nie ein Apfelbaum stand. Die Bäume haben nicht nur die Zeiten des Todes überlebt, sie verdanken ihnen auch ihr Leben.
   


Das sind die Geschichten, die man an keinem anderen Ort findet. Auch wenn die Spuren der ehemaligen Grenze oft nur noch zu erahnen sind, so finden sich in der Landschaft doch noch zahlreiche Hinterlassenschaften der Ereignisse, die sich hier bis vor 30 Jahren abgespielt haben. So haben sich viele Grenzsoldaten während der langen und offenbar unendlich langweiligen Stunden ihres Wachdienstes in der Rinde der Bäumen verewigt. Oft gibt es Listen der verbleibenden Diensttage, die in die Baumrinde geritzt wurden. Die Buchstaben "EK", die bis heute nicht nur Bäume, sondern auch Betonteile schmücken, zeigen, dass die Entlassungskandidaten die Hoffnung nie aufgegeben haben, denverhassten Grenzdienst zu verlassen, obwohl ihre Offiziere den Brauch hart bekämpften. 



Eine Tragödie aus dieser Zeit zeigt eine Landmarke mit einem Rest des ehemaligen Grenzzauns: Rainer Burgis, ein Bürger aus dem Örtchen Ritzleben in der Altmark, wurde hier 1978 bei einem Fluchtversuch getötet. Der junge Mann war erst 20 Jahre alt, sein Grab auf dem Friedhof von Stappenbeck existiert heute nicht mehr. Übrig geblieben von seinem Leben ist nur eine kleine Tafel an einem Stück Grenzzaun, der als Denkmal für die wenigen Wanderer dient, die hier vorüberkommen. Was in Burgis' Todesnacht geschah, ist unbekannt, sein Kamerad Wilfried Senkel überlebte das Drama, aber seine Spuren verlieren sich mit der Zeit.



Hat er es nach drüben geschafft? Wurde er erwischt und musste ins Gefängnis? Wie hunderte andere Flüchtlinge, die von den ostdeutschen Grenztruppen festgenommen und den Gerichten übergeben wurden. Hat ihn der Westen  freigekauft? Dann hätte er mehr Glück gehabt als Harry Weltzin, ein anderer junger Mann, an den ein Stück weiter des Weges ein Schild erinnert. Weltzin wurde am 4. September 1983 beim Versuch,  die Grenze zu überqueren, durch eine automatische Schusseinrichtung am Zaun getötet. Dort, wo er starb, scheint nun die Sonne auf einen Ort der Trauer. Niemand wandert hier außer uns. Der Kolonnenweg, der als "Grünes Band" vermarktet wird wie ein weltlicher Jacobsweg, ist leer wie die Wälder, die Wiesen und das gesamte Grenzland. Der ehemalige Todesstreifen schweigt.

Der Text auf Englisch.



Samstag, 24. Oktober 2020

Wandern am Eisernen Vorhang: Eine Nacht in der Todeszone


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Der Grenzwanderweg  ist 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land. 
Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten und was passiert, wenn man auf dem Plattenweg wandert, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft reden. Hier Teil der Reisebeschreibung, wird fortgesetzt.


Das kleine Dorf Klein Chüden liegt ein paar Kilometer nördlich der Kleinstadt Salzwedel und wir haben von Anfang an ein Problem: Wo ist dieses Grüne Band? Wo sollen wir den Einstieg finden, um die Wanderung über den legendären Grenzwanderweg bis zu unserem Ziel an der Ostsee überhaupt erstmal zu beginnen?

Da ist ein Graben, da ist eine Straße, da ist die Landesgrenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Und hinter einem kleinen Parkplatz mit weißem Kiesboden tauchen endlich die beiden Plattenspuren des Kolonnenweges auf. Breit genug für die Spurbreite eines Lastwagens, mit Löchern im Beton und einem grünen Grasstreifen in der Mitte. 




Es ist einer der letzten warmen Sommertage in Deutschland, als wir auf dem Weg in den Jarsauer Sack gehen, eine Schleife in der Grenze, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus seltsamen Gründen entstand. Die reguläre Grenzlinie zwischen der britischen und der russischen Zone hatte hier einem Bauern die Felder abgeschnitten. Also investierte er ein paar Flaschen Wodka, um die russischen Landvermesser davon zu überzeugen, die Linie entlang seines Ackerlandes neu zu ziehen.


Nicht so toll für Wanderer, denn der Weg hat sich aus diesem Grund verdoppelt. Aber die Natur hier ist beeindruckend. Gras und Kühe, Schafe und Bienen, Bäume und Zäune bis zum Horizont, ein klarer blauer Himmel und ein warmer Westwind. Der Weg ist leicht zu gehen, wir marschieren mit unseren Rucksäcken weiter - jeder wiegt 20 Kilogramm, und wir summen "The Weight" von The Band: "Take a load off, Fanny, take a load for free, take a load off, Fanny, and you put the load right on me".

Es ist wirklich hart, einen riesigen Rucksack mit diesem Gewicht über Stunden zu tragen. Man muss viel trinken - und wir müssen feststellen, dass wir mehr Wasser brauchen, um den Rest des Tages, die Nacht und den nächsten Morgen zu überstehen. Das verlängert den Weg noch einmal: Die Landschaft um den Jarsauer Wodkasack ist leer wie das Outback Australiens. Keine Dörfer, keine Häuser, kein Nichts. So müssen wir den Kolonnenweg kilometerweit verlassen, um in das kleine Dorf Schmarsau zu gelangen, dem einzigen Ort auf der Route, wo es im Biohofladen Düchting frisches Wasser gibt.


Wir sind der rosa Elefant im Garten des Biohofladens. Was machen Sie denn da? Wo gehen Sie denn hin? Und warum? Die Leute fragten das wegen unserer Riesenrucksäcke. Und sie warnen uns: Bei der Planken- und Schlettauer Post, wo wir abends ohne Erlaubnis unser Zelt aufschlagen wollen, leben vier Wolfsrudel. Danach beruhigen sie uns. Die Wölfe tun niemandem etwas zuleide. Sie haben selbst Angst vor uns.


Schön zu hören. Wir laufen weitere fünf Kilometer zurück zur ehemaligen Grenzlinie. Und dann gehen wir direkt in die ehemalige Todeszone, den 150 Meter breiten gerodeten Grasstreifen zwischen den beiden Stahlzäunen, der bis 1990 Fluchtversuche aus der DDR verhindern sollte. Jetzt ist es ein friedlicher Ort, ohne jede Spur der brutalen Geschichte. 


Die Sonne versinkt im Westen, die Wiese, auf der fast 30 Jahre lang Menschen gestorben sind, sieht aus wie jede normale Wiese in jedem normalen Wald. Wir bauen unser Zelt auf und blicken auf die lange kahle Schneise der vergessenen Brutalität.

Keine Wölfe um uns herum, nur die Wölfe der Erinnerung.


Englische Version: hier


Freitag, 9. Oktober 2020

Peißnitz-Nordspitze: Trockenasphalt für den Auenwald

Es ist das letzte Stück unbetonierten Bodens auf der Peißnitzinsel, ein naturbelassener Weg einmal rund um die Nordspitze der Insel, umgeben von der fast schon urwaldartigen Vegetation des letzten Stückes Auenwald in der Stadt Halle. Seit Jahren schon aber weckt ausgerechnet dieses verlorene Ende Waldweg Begehrlichkeiten: Im Zuge der aus der Fluthilfe finanzierten "Reparaturen" von allerlei echten und ausgedachten Hochwasserschäden rückte vor fünf Jahren auch der festgetretene Erdpfad im Auenwald ins Visier der Bauplaner. Für eine sechsstellige Summe sollte der bei Joggern, Spaziergängern und Radfahrern zu jeder Jahreszeit beliebte Rudnweg mit einer sogenannten wassergebundenen Decke versehen werden. es ging nicht schnell, aber es ging voran. Und nun ist es soweit. Demnächst sollen die Bautrupps anrücken.


Roter Schotter für den Auenwald, roter Schotter, der zwar nur ein paar Wochen leuchtend rot bleibt, um sich gleich anschließend in einen Belag zu verwandeln, der sich von dem naturbelassenen nicht unterscheidet, der den Nordspitzenweg seit jeher bei jedem Wetter gut begehbar hält. Doch die "Hochwasserschadenbeseitigung" ist nun mal beantragt. Und auch sieben Jahre nach der Flut von 2013, die auf der Nordspitze keinerlei sichtbare Schäden hinterlassen hat, wird nun saniert und trocken asphaltiert. 

Widerstand ist zwecklos, und doch gibt es ihn. Zu einer Protestlaufrunde empörter Jogger laden Plakate ein, die Unbekannte überall auf der Peißnitz aufgehängt haben. "Joggen gegen Schotterflechte", heißt es da. Der geplante Bau bedrohe 300 Jahre alte Baumwurzeln und zerstöre ein Stück intakte Natur - in einer Stadt, die seit Jahren grüner werden will.

Erfolgsaussichten Null, denn ein Stadtrat, der beschließt, einen seit Jahrhunderten unbefestigten Pfad, der bei Regen nass und bei Sonnenschein trocken ist, als sanierungsbedürftig einzustufen, ist von einem Protestlauf wohl so wenig zu beeindrucken wie von der Petition, für die der Werbung macht. Zuletzt hatte die Mehrheit des Planungsausschusses sich der Ansicht der Verwaltung angeschlossen, dass es sinnvoller sei, die für die "wassergebundene Decke mit tragfähigem Unterbau" beantragten Fluthilfegelder in Höhe von 288.000 Euro zu verbauen, auch wenn es Geldverschwendung sei. Immerhin habe die Stadt bereits rund 40.000 Euro für die Planungskosten ausgegeben - Geld, das verloren wäre, würde man nicht die restliche Viertelmillion noch hinterherwerfen, einfach, weil sie nun mal da ist. 

So bekommt der Auenwald nun nach Jahrhunderten festen Boden unter die Füße von Läufern und Spaziergängern, selbst wenn die "Verordnung der Bezirksregierung Halle über die Festsetzung des Naturschutzgebietes "Nordspitze Peißnitz" von 1993 ausdrücklich festlegt, dass es "zur Vermeidung von Gefährdungen und Störungen" ausdrücklich verboten ist, im Schutzgebiet "bauliche Anlagen" zu errichten.

Dort dagegen, wo es die schon seit Anfang der 70er Jahre gibt und nun repariert werden müsste, was wegen fehlender Pflege in Jahrzehnten zerstört wurde, passiert nichts. Der südwestliche Rundweg an der Wilden Saale, entlang des in Trümmern liegenden früheren Freizeit- und Erlebnisbereiches mit Mini-Golf, Schachtischen und Schachplatten, ist nicht zuletzt durch die Jahrhundertflut von 2013 so schwer beschädigt worden, dass von der früheren Wegbeleuchtung nur noch kahle Masten und Sicherungskästen und von der einstigen Wegeschotterung nur noch Reste erkennbar sind. 

Er liegt allerdings auch nicht in einem Naturschutzgebiet. 

Im Uhrzeigersinn: Weg, der Trockenasphalt braucht, Weg, der keinen Trockenasphalt braucht, Detailaufnahme von sanierungsbedürftigem Weg und nicht-asphaltierter Weg, der in Kürze befestigt werden soll.