Vor allem aber hängt sie über Gerhard Funke, seit 13 Jahren Direktor in der „Seku IV“, wie die Schule hier genannt wird. „Ich bin tief erschüttert“, sagt der 64-Jährige mit belegter Stimme, „keiner kann sich erklären, wie es dazu kommen konnte.
“ Es habe, versichert der grauhaarige Mann mit den von Sorge schweren Lidern, keine Anzeichen gegeben. Keine Hinweise und keine Warnungen. „Wir sind eine Schule wie jede andere auch“, beschreibt er, „da gibt es mal Rangeleien, aber so etwas gibt es nicht.“
Bis zum Mittwoch, 11 Uhr 30. Es ist große Pause an der Schule, um die herum halb leere Wohnblocks mit toten Fensteröffnungen auf den Abrissbagger warten. Die Sonne scheint, und der 16-jährige René E. steht mit Freunden zusammen. Matthias B., 18 Jahre alt und bis zum Frühjahr Schüler an der „Seku IV“, kommt dazu. Und beginnt, auf den Jüngeren einzuprügeln. Alles sei „sehr, sehr schnell“ gegangen", berichten Augenzeugen später.
Selbst als René E. schon am Boden lag, habe B. nicht abgelassen. „Der war wie im Rausch“, sagt ein Mädchen, das vor Entsetzen starr zuschaute, wie Matthias B. trat und trampelte. „Wir konnten gar nichts tun.“ Schüler rufen per Handy Hilfe. Einer läuft zum Direktor. Andere alarmieren die Hofaufsicht. „Als die Kollegen zu der Stelle kamen“, schildert Gerhard Funke, „konnten sie nur noch erste Hilfe leisten.“ Matthias B. flüchtete. Später stellt er sich.
Seine früheren Mitschüler tun sich schwer mit Erklärungen. René E. habe B., der nach der Schule keine Lehrstelle fand und derzeit ein berufsvorbereitendes Jahr absolviert, beleidigt, behauptet ein Junge. Das könne zwar sein, räumt ein Mädchen ein, doch Ursache der Auseinandersetzung sei der Streit um eine Freundin gewesen, die erst zu B. gehörte, dann aber zu E. ging.
„Mit unserer Schule hatte das aber garantiert nichts zu tun“, versichert sie. Auch wenn die Stimmung derzeit „ein bisschen aggressiv“ sei, weil sich viele von den Kamerateams verfolgt fühlten, sei die „IV“ eine friedliche Penne: „Bei uns kloppen sie sich nicht und es schleppt auch keiner Waffen rum.“ Bis vor kurzem, sagt Gerhard Funke, gab es sogar ein Projekt, das die Schüler lehrte, Schulstreits miteinander zu schlichten. „Da haben wir gute Erfahrungen gemacht.“ Maria Schneider kann das nur bestätigen. Seit 1995 wohnt die 77-Jährige direkt neben der „Seku IV“ und „hatte nie Probleme mit den Kindern“, sagt sie. Natürlich, viele Scheiben sind zerschlagen. Natürlich, das Viertel scheint dem Leben ferner als dem Tod zu sein, und ein Hauch von Endzeit weht durch die zugewucherten Vorgärten: Die Spielplätze sind voll Unkraut, die Türen der Wohnblocks verschweißt, auch Gerhard Funkes Schule wird im Frühjahr geschlossen. „Trotzdem kann man hier abends auf die Straße“, sagt Maria Schneider, „da muss man keine Angst haben.“ „Aber am Ende erzählen sie die Geschichte ja doch wie immer“, vermutet ein Mädchen, das vor den TV-Teams auf die Bank hinter einem Block geflüchtet ist. Und immer geht die Geschichte so in Wolfen-Nord, glaubt sie: „Die Eltern arbeitslos und besoffen, die Kinder ständig verprügelt, und dann schlagen sie sich gegenseitig tot, das klingt ja auch logisch.“ Auch wenn es nicht wahr ist.
Mit einer Trauerfeier haben die Lehrer am Montag ihres Schülers gedacht. Schulleiter Funke sagte, „wir trauern tief bewegt“. Das Gedenken fand ohne Schüler statt. „Die Kinder sind nicht gewillt, öffentlich vor den Medien trauern“, sagte Funke. Zuvor hatten Schüler allerdings Blumen für das 16-jährige Opfer nieder gelegt. Tiefe Stille herrscht um das Schulhaus herum. Nur selten lassen sich Schüler oder Lehrer vor dem Gebäude blicken, wo noch immer die Kameras von Fernsehteams auf sie warten.
Eine lückenlose Aufklärung der Ereignisse verlangt Wolfens Oberbürgermeisterin Petra Wust (parteilos). An Wolfen solle nicht der Makel hängen bleiben, eine Gewalthochburg zu sein. „Das wäre völliger Quatsch. Die soziale Situation hier ist wie an anderen Städten Ostdeutschlands auch“, sagt Wust. Sie räumt allerdings ein, dass die Zahl der Einwohner von ehemals 45000 auf 26000 geschrumpft sei. „Wir haben den höchsten Leerstand in ganz Deutschland.“
Fundstück aus dem Tagesspiegel
Bis zum Mittwoch, 11 Uhr 30. Es ist große Pause an der Schule, um die herum halb leere Wohnblocks mit toten Fensteröffnungen auf den Abrissbagger warten. Die Sonne scheint, und der 16-jährige René E. steht mit Freunden zusammen. Matthias B., 18 Jahre alt und bis zum Frühjahr Schüler an der „Seku IV“, kommt dazu. Und beginnt, auf den Jüngeren einzuprügeln. Alles sei „sehr, sehr schnell“ gegangen", berichten Augenzeugen später.
Selbst als René E. schon am Boden lag, habe B. nicht abgelassen. „Der war wie im Rausch“, sagt ein Mädchen, das vor Entsetzen starr zuschaute, wie Matthias B. trat und trampelte. „Wir konnten gar nichts tun.“ Schüler rufen per Handy Hilfe. Einer läuft zum Direktor. Andere alarmieren die Hofaufsicht. „Als die Kollegen zu der Stelle kamen“, schildert Gerhard Funke, „konnten sie nur noch erste Hilfe leisten.“ Matthias B. flüchtete. Später stellt er sich.
Seine früheren Mitschüler tun sich schwer mit Erklärungen. René E. habe B., der nach der Schule keine Lehrstelle fand und derzeit ein berufsvorbereitendes Jahr absolviert, beleidigt, behauptet ein Junge. Das könne zwar sein, räumt ein Mädchen ein, doch Ursache der Auseinandersetzung sei der Streit um eine Freundin gewesen, die erst zu B. gehörte, dann aber zu E. ging.
„Mit unserer Schule hatte das aber garantiert nichts zu tun“, versichert sie. Auch wenn die Stimmung derzeit „ein bisschen aggressiv“ sei, weil sich viele von den Kamerateams verfolgt fühlten, sei die „IV“ eine friedliche Penne: „Bei uns kloppen sie sich nicht und es schleppt auch keiner Waffen rum.“ Bis vor kurzem, sagt Gerhard Funke, gab es sogar ein Projekt, das die Schüler lehrte, Schulstreits miteinander zu schlichten. „Da haben wir gute Erfahrungen gemacht.“ Maria Schneider kann das nur bestätigen. Seit 1995 wohnt die 77-Jährige direkt neben der „Seku IV“ und „hatte nie Probleme mit den Kindern“, sagt sie. Natürlich, viele Scheiben sind zerschlagen. Natürlich, das Viertel scheint dem Leben ferner als dem Tod zu sein, und ein Hauch von Endzeit weht durch die zugewucherten Vorgärten: Die Spielplätze sind voll Unkraut, die Türen der Wohnblocks verschweißt, auch Gerhard Funkes Schule wird im Frühjahr geschlossen. „Trotzdem kann man hier abends auf die Straße“, sagt Maria Schneider, „da muss man keine Angst haben.“ „Aber am Ende erzählen sie die Geschichte ja doch wie immer“, vermutet ein Mädchen, das vor den TV-Teams auf die Bank hinter einem Block geflüchtet ist. Und immer geht die Geschichte so in Wolfen-Nord, glaubt sie: „Die Eltern arbeitslos und besoffen, die Kinder ständig verprügelt, und dann schlagen sie sich gegenseitig tot, das klingt ja auch logisch.“ Auch wenn es nicht wahr ist.
Mit einer Trauerfeier haben die Lehrer am Montag ihres Schülers gedacht. Schulleiter Funke sagte, „wir trauern tief bewegt“. Das Gedenken fand ohne Schüler statt. „Die Kinder sind nicht gewillt, öffentlich vor den Medien trauern“, sagte Funke. Zuvor hatten Schüler allerdings Blumen für das 16-jährige Opfer nieder gelegt. Tiefe Stille herrscht um das Schulhaus herum. Nur selten lassen sich Schüler oder Lehrer vor dem Gebäude blicken, wo noch immer die Kameras von Fernsehteams auf sie warten.
Eine lückenlose Aufklärung der Ereignisse verlangt Wolfens Oberbürgermeisterin Petra Wust (parteilos). An Wolfen solle nicht der Makel hängen bleiben, eine Gewalthochburg zu sein. „Das wäre völliger Quatsch. Die soziale Situation hier ist wie an anderen Städten Ostdeutschlands auch“, sagt Wust. Sie räumt allerdings ein, dass die Zahl der Einwohner von ehemals 45000 auf 26000 geschrumpft sei. „Wir haben den höchsten Leerstand in ganz Deutschland.“
Fundstück aus dem Tagesspiegel