Freitag, 28. Juli 2017
Das geheime Online-Leben unserer Kinder
Was suchen die Jüngsten, wenn sie vor dem Rechner sitzen? Die Antwort auf diese Frage wird viele Eltern erschrecken.
Danach befragt, sind die Antworten klar. Natürlich suchen Kinder im Netz nach Stars, nach Comics, Fußball, Witzen und lustigen Filmen. Soweit die offizielle Realität. Doch wie sieht es wirklich aus? Was interessiert Kinder, wenn ihnen kein Erwachsener über die Schulter schaut?
Eine Frage, der der Virenschutz-Konzern Kaspersky Lab jedes Jahr mit einer Untersuchung nachgeht. Kaspersky hat hier Zugang zu Daten, über die sonst kaum jemand verfügt: Die mit Virenschutzpaketen ausgelieferten Kindersicherungsmodul e liefern zwar anonymisierte, aber unbestechliche Statistiken.
Die aktuelle Auswertung zeigt, dass das Interesse der jüngsten Computer- und Internetnutzer an Kommunikationsmedien und Computerspielen im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen ist. Die Suchanfragen nach Alkohol, Tabak und Drogen sowie nach Software, Audio und Video dagegen nehmen zu. Und das nicht nur, aber ganz besonders auch bei deutschen Kindern.
Zwar zielen fast zwei Drittel aller Suchanfragen von Minderjährigen weltweit auf Webseiten von sozialen Netzwerken, E-Mail-Diensten, Chats und Messenger-Plattformen. Doch insgesamt verloren diese harmlosen Bereiche in einem Jahr bemerkenswerte zehn Prozent an Interesse. Während Alkohol, Tabak und Betäubungsmittel um fünf Prozent auf nun 14,13 Prozent zulegten und damit jetzt sogar deutlich vor Computerspielen liegen, die mit 9,12 Prozent mehr als zwei Prozent verloren haben.
Zuwächse verzeichnet auch der Bereich Software, Audio und Video, der sich auf über sechs Prozent Anteil an allen Suchanfragen beinahe verdoppelt hat. Hier dürfte es sich oft um die Suche nach illegalen Downloadmöglichkeiten handeln. Der Kauf im Netz hat es dagegen schwer: E-Commerce-Seiten und auch Erwachseneninhalte, bei Kaspersky wohl die Beschreibung von Sexseiten, spielen im Kinderzimmer keine große Rolle.
„Kinder nutzen den klassischen Desktop-Rechner nur noch für Webseiten, zu denen es keine mobile App gibt“, erklärt Kaspersky-Analystin Anna Larkina. Der fallende Anteil bei Computerspielen müsse nicht bedeuten, dass die Kids weniger oft spielen. „Vielmehr konzentrieren sie sich hier auf wenige Webseiten, die dauerhaft genutzt werden.“
Die Analyse zeigt auch die teilweise große Unterschiede bei der Internetnutzung von Kindern in verschiedenen Ländern. So sind Kommunikationsmedien im arabischen Raum, in Lateinamerika und der ehemaligen Sowjetunion gefragt.
In Deutschland ist dafür das Interesse an Alkohol und Drogen größer - mehr als ein Viertel aller Google-Anfragen aus deutschen Kinderzimmern (Vorjahr 22,8 Prozent) galten Alkohol, Tabak oder anderen Drogen. Das sind zehn Prozent mehr als im globalen Durchschnitt. Online-Kommunikation liegt hierzulande mit 28,49 Prozent nur noch knapp vorn. Dahinter folgen Computerspiele (16,62 Prozent), Software, Audio, Video (11,57 Prozent) und E-Commerce (7,59 Prozent).
Samstag, 22. Juli 2017
Linkin Park: Mit dem Brett im Bett
Samstag, 15. Juli 2017
Der Wutbürger
Ich schnaufe beim Joggen, obwohl es bergab geht. Das Holperpflaster, die Straße am Kindergarten. Alles frei, der vordere Fuß setzt auf, der hintere kommt. Und von links schießt ein silberfarbener Golf heran, ungebremst. Hinterm Lenkrad die Karikatur eines Autofahrers aus dem Witzheftchen: Jägerhütchen in beige, beige Outdoorjacke, weiße Socken in Sandalen, braune Hose.
Zentimeter vor meinem linken Knie stoppt die Stoßstange. Und schon kommt Jägerhütchen aus seiner Kabine geschossen. Er ist etwa Mitte 60, nicht dick, aber im Zustand fortschreitenden körperlichen Verfalls. "Ehhh, spinnst du", brüllt er noch im Öffnen der Fahrertür. "Du wohl eher", entgegne ich etwas kurzatmig. Ich bin stehengeblieben, zwei Meter von Jägerhut entfernt, etwa Fahrbahnmitte. Ich laufe hier seit 15 Jahren. Und wenn mein Fuß auf der Fahrbahn ist, dann dürfen alle Linksabbieger warten.
Das sage ich Jägerhütchen, der es anders sieht. "Reingesprungen" sei ich ihm, was nicht sein kann, weil er mit dem Heck noch immer auf der Straße steht, von der er kommt. Dort stauen sich inzwischen drei Autos, was den Jägerhut nicht stört. "Mal klarmachen" werde er mir die Verkehrsregeln, keucht er, nachdem ich ihm höflich bedeutet habe, was er mich kann. Der Golf des Mannes trägt ein Kennzeichen aus einer Gegend, wo sie Fleisch noch mit den Zähnen essen und auf den Straßen die PS-Zahl entscheiden lassen, wer Vorfahrt hat. Das hier ist Stadt, sage ich dem Jägerhut, da funktioniert das anders.
Glaubt er nicht. Der Jägerhut verschwindet für einen Moment wieder im Führerstand. Und dann taucht das ganze Männchen als Karikatur eines Wutbürgers wieder auf: In der Hand trägt der Safarimann jetzt einen fünfzig Zentimeter langen Knüppel, beste Buche, etwa vier Zentimeter stark. "Dir zeig´ ich´s gleich", ruft er, während er sich zu seiner vollen Körpergröße von 1,65 aufrichtet.
Ein Fehler. "Du machst einen großen Fehler", warne ich in Erinnerung an Abwehrreflexe aus der Schulzeit. Abschrecken durch Gelassenheit. Die Sonnenbrille hilft. Jägerhut wird langsamer, der Knüppel sinkt ein wenig. "Ruf lieber vorher noch jemanden an, damit dein Auto nicht die Kreuzung blockiert, wenn sie dich ins Krankenhaus fahren", höre ich mich sagen. Er ist jetzt nicht mehr sehr entschlossen, wirklich ernst zu machen. "Wenn du den Knüppel nicht in zwei Minuten im Hintern stecken haben willst, machst du dich besser vom Acker", schiebe ich hinterher, um einen Ton drohender Sachlichkeit bemüht.
Aber die Kränkung, Unrecht zu haben, vor einem Publikum, das inzwischen nicht mehr nur die Leute in der drei Autos hinter ihm, sondern auch ein halbes Dutzend Spaziergänger auf der anderen Straßenseite zählt, wiegt wohl schwerer. Er ist noch immer nach vorn unterwegs.
Volles Risiko. "Na, komm schon", rufe ich. An dem Punkt, so war das wenigstens früher, drehen die meisten ab.
Aber Jägerhütchen ist anders. In ihm pocht die Wut des Landbewohners auf die fremden Sitten der Stadt. Er mag sich benachteiligt führen, von der Regierung betrogen, von den Parteien, von der Rentenversicherung. Er ist nicht mehr bereit, das hinzunehmen, deshalb hat er ja den Knüppel griffbereit dabei. Und jetzt ist der Augenblick, wo er sich entschließt, zurückzuschlagen. Gegen mich. Obwohl ich ja weder die Regierung bin noch eine Partei noch die Rentenversicherung. Der Knüppel geht wieder nach oben und der Sandalenfuß kommt auf mich zu. Ende aller Gespräche.
Ich reiße mir die Regenjacke von der Hüfte, wo sie vorsichtshalber hängt. Gerade noch rechtzeitig. Als der erste Schlag kommt, fange ich ihn fast schon beiläufig mit der Jacke ab. Beide Handgelenke drehen sich ein wie hundertmal im Training geübt. Eine Schlaufe, die sich zuzieht und ihm den Buchenknüppel aus der Hand reißt. Jägerhut verzieht das Gesicht, als ihm meine freie Rechte eine Sekunde später kurz angesetzt auf die fleischige Nase kracht. Er taumelt jetzt und ehe er sich erholen kann, setze ich mit dem rechten Fuß nach. Sicher ist sicher. Von unten auf die Zwölf, Treffer. Jägerhut knickt ein wenig ein und bückt sich dabei direkt in meine Linke, die als Haken von unten kommt.
Wieder auf die Nase. Der Jägerhut purzelt vom Kopf, auf dem Outdoorwestenimitat von Karstadt glänzen Blutstropfen. "Ich habe dich gewarnt", knurre ich, ehe ich ihm die Rechte noch mal prophylaktisch aufs Ohr dresche. Meine Augen suchen nach dem Knüppel. Ahh, da ist er. Jägerhütchen ohne Jägerhut stöhnt leise, ich greife mir das Holz und knalle es ihm im Hochkommen von links gegen das Knie. Irgendetwas knackt und bricht, der Linksabbieger fällt nach rechts um und rührt sich nicht mehr.
Hinter seinem Golf hupt jetzt einer. Mehrere Passanten telefonieren, vermutlich mit der Polizei. Sollen sie doch, denke ich, er hatte ja den Knüppel. Er hat angefangen. Und was hat er davon geahbt.Ich bin jetzt in Euphorie, Adrenalin überall. Die vier Schritte zum Auto gehe ich ohne einen Gedanken daran, was ich dort will. Aber siehe: Auf dem Beifahrersitz Zigaretten, ein Feuerzeug, in der Fahrertürablage ein hübsch gefaltetes Putztuch.
Zack, habe ich den Tank geöffnet. Wupps, den Lappen in den Stutzen gewürgt. Und zisch angezündet. Ich lasse das Feuerzeug fallen, drehe ab und trabe ruhig davon. Der fährt nie wieder quer, denke ich zufrieden, während schwarze Wolken hinter mir aufsteigen
Aber natürlich nicht wirklich, denn in der Realität endete die Geschichte an der Stelle, wo ich "Na, komm schon" rufe.
Jägerhütchen wollte dann doch lieber nicht.
Kluge Wahl, so im Nachhinein betrachtet.
Donnerstag, 13. Juli 2017
Seltsame DDR-Sitten: Eingaben an den roten König
Ob Schimmelpilze an der Wand oder mangelnde "Brillenversorgung" - DDR-Bürger zeigten beachtliches Geschick, ihren Staatsrat mit Bitt- und Beschwerdebriefen, den "Eingaben", zu nerven. In den Behörden türmten sich die Wutschreiben der Bürger zu Bergen, aber helfen konnte auch Erich Honecker nur selten wirklich.
15 lange Jahre hatte Siegfried Ebert eine Schafsgeduld. Dann, im Sommer 1986, platzte ihm der Kragen. Ebert war ein ganz normaler DDR-Bürger - wenn man mal davon absieht, daß ihm ein Mehrfamilienhaus in der Halleschen Straße in Merseburg gehörte, durch dessen Dach schon während der 74er Fußball-WM der Regen tropfte. Nach 15 Jahren griff Ebert zum allerletzten Mittel: "Seit zwölf Jahren", schrieb er an den "Sehr geehrten Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker", "versuche ich mit den örtlichen Organen, das Dach meines Hauses neu eindecken zu lassen, aber es führt kein Weg dahin."
Immer wieder werde er vertröstet, immer wieder fehle es an Handwerkern, Material und Fonds. "Das ständige Streichen der Bilanzen", jammert Ebert, "sorgt für einen fortschreitenden Verfall des Daches." Bereits jetzt hätten verschiedene Wände einen "hohen Durchnässungsgrad", es regne den Mietern teilweise schon in die Wohnung. Was soll denn nun werden? "Herr Honecker", gestand Ebert dem großen Vorsitzenden im fernen Berlin, "ich weiß nicht mehr weiter. Ich bin verzweifelt."
Fehlte eine Gehwegplatte, schrieb man eine Eingabe
Erich Honecker selbst, von dem Ebert wohl irgendwie gehofft hatte, er werde es nicht tatenlos hinnehmen, daß einer seiner Bürger "verzweifelt" bleibt, hat den Brief vermutlich nie gelesen. Wie Tausende und aber Tausende ähnliche Schreiben, landete er in der Abteilung "Eingaben" des Staatsrates der DDR. Hier wurden Ratlosigkeit und Verzweiflung akribisch verwaltet, wurden
Hilferufe analysiert und in Ordnern voller Bürgerjammer sorgfältig archiviert, hier leitete man "Maßnahmen" ein und Anliegen weiter.
Seit den fünfziger Jahren etablierte sich das Eingabenschreiben nach und nach als ein Stück unverwechselbarer DDR-Kultur. Fehlte vor dem Haus eine Gehwegplatte - schrieb man eine Eingabe. Wurde die Bushaltestelle am Sportplatz gestrichen - schrieb man eine Eingabe. Bekam man keinen Werkstattermin oder keine Ersatzteile oder kein Zeitungsabonnement oder keinen Platz in der Kneipe oder keine Wohnung - man schrieb eine Eingabe. Egal, ob es um Fragen der "Brillenversorgung" oder um die Bettensituation" in den DDR-Krankenhäusern ging, um Wohnungsprobleme, Versorgungsengpässe bei Südfrüchten, Ausreisewünsche oder Verwaltungsfilz.
Jedem Bürger stand es frei, staatliche Organe, Parteisekretäre oder beliebige andere Instanzen per Eingabe damit zu belästigen. Mit dem Absenden des entsprechenden Briefes wurde jedes Anliegen zum verwaltungstechnisch erfassten Vorgang: Die "zuständigen Organe" mussten innerhalb einer festgesetzten Frist darauf antworten.
Für Gabriele Schulz begann es mit einem kleinen, handgeschriebenen Brief an den Rat der Stadt Pasewalk. "Seit Jahren", schrieb Frau Schulz, "wohnen mein Lebensgefährte und ich mit unserer kleinen Tochter nun schon in einem Haus, das baupolizeilich gesperrt ist. Wir holen jeden Tropfen Wasser aus dem Keller, waschen uns in einer Schüssel. An den Wänden blüht der Pilz!" Die
Verwaltung vertröstete. Einmal. Gabi Schulz schrieb an den Rat des Kreises. Zweimal. Gabi Schulz versuchte es mit einem Durchschlag an die SED-Kreisleitung. Dreimal. Das war dann einmal zu viel. Jetzt tat Gabriele Schulz, was nur die Mutigsten wagten: Sie griff zum letzten Mittel und schrieb auf blauliniertem Schulschreibpapier, was im DDR-Volksmund ehrfurchtsvoll flüsternd eine "Staatsratseingabe" genannt wurde.
Denn wenn gar nichts mehr ging, wenn das zuständige "staatliche Organ" den lästigen, weil störrisch beschwerdeführenden Bürger aus dem Büro warf, ging im DDR-Zentralismus immer noch etwas. Für jede unlösbare Frage, jedes trotzig von der Bürokratie ausgesessene Problem gab es eine höhere, eine allmächtige Instanz, eine letzte Möglichkeit, Gerechtigkeit zu erlangen: "Von den territorialen Organen erwarte ich mir keine Hilfe mehr", schrieb Holger Müller aus Riesa an den "lieben Genossen Honecker", "aber Sie haben ja die Möglichkeit, sich von oben für die Lösung meines Problems einzusetzen".
Honecker hatte. Er konnte alles. Und infolgedessen erwartete man alles von ihm. Um die Revidierung von "Gerichtsurteilen in Scheidungssachen" wurde der Allmächtige mit derselben Selbstverständlichkeit gebeten wie um Besorgung von Pkw-Ersatzteilen Marke Skoda oder "devisenpflichtigen West-Medikamenten".
Die Eingaben an den Staatsrat der DDR erzählen die Geschichte der DDR als Alltagsgeschichte ihrer Bürger. Dokumente zwischen Aufbegehren und Unterwürfigkeit, die heute zu Zehntausenden ordentlich gebündelt in der Coswiger Außenstelle des Bundesarchivs lagern. Die einen bettelten um "Unterstützung beim Kauf einer Badewanne", andere hingegen eröffneten dem Staatsratsvorsitzenden freimütig: "Ich bin überhaupt nicht damit zufrieden, daß Sie meine Eingabe ,weitergeleitet` haben. Ich darf doch wohl von Ihnen erwarten, daß Sie sich auch persönlich mit den Problemen eines Bürgers ihres Staates befassen."
DDR-Bürger entwickelten ein beachtliches diplomatisches Geschick und ein gerüttelt Maß an Zynismus im Briefverkehr mit ihrem höchsten Staatsorgan. Mario Freiberg aus Waltershausen am Harz rieb den verhassten Bonzen die eigenen Parolen unter die Nase: Dass Funktionäre bevorzugt Neubauwohnungen bekommen, sei für ihn Ausdruck eines "gestörten Verhältnisses zwischen den Klassen und Schichten", ließ er den "Genossen Honecker" wissen. Franz Metzger aus Neubrandenburg hingegen eröffnete provokativ, daß ihm "langsam Zweifel an der Wohnungspolitik der SED" kämen, um später versöhnlich "Mit sozialistischem Gruß" zu schließen.
Der langsame Niedergang des ersten Arbeiter- und Bauernstaates hat in den Eingaben unverkennbar Spuren hinterlassen. Was in den Fünfzigern als seltene Einzeltat begann, schwoll später zur wahren Briefflut. Während sich Partei- und Staatsfunktionäre die "ständige Festigung des Sozialismus" im Land vorheuchelten, konstatierte der "Sektor III" beim Staatsrat Monat für Monat eine "weiter steigende quantitative Tendenz". Sektor III war für die Eingabenerfassung und -bearbeitung zuständig. "Bis zu 170 Eingaben täglich" zählte Sektorenleiter Fritz Glaser im Jahr 1973. Und dabei blieb es nicht. Allein für den Bezirk Halle wurden aus anfangs einigen hundert Eingaben jährlich bis Mitte der Achtziger nahezu 7.000. Auch die Rostocker und die Dresdner, vor allem aber Leipziger und Berliner griffen immer öfter wutentbrannt zur Feder.
"Sektor III" zeigte sich der Welle gewachsen. Jeder eingehende Brief, mit einer numerierten Karteikarte versehen, löste hinter den Kulissen eine Welle hektischen Aktionismus aus. Der Einsender bekam einen Eingangsbescheid, die kritisierte Behörde hingegen den schriftlichen Auftrag, für Lösungen zu sorgen und anschließend Bericht zu erstatten. Sektor III seinerseits
durchleuchtete die eingehenden Briefe im "Infas"-Stil: Arbeiteranteil und Frauenquote, "Vielschreiber" und "Übersiedlungsantragsteller", getreulich wurde alles erfasst und ausgewertet.
Die Lösung der Probleme allerdings beförderte das wenig. Wie auch sollte man zum Beispiel "instabile Versorgungsverhältnisse", die immer wieder beklagt wurden, ohne zusätzliche Zuteilungen beheben? Wie hundert Dächer mit fünf Dachdeckern und einem Karton Ziegel flicken? Wer repariert 20 Pkw Wartburg mit einem einzigen Zahnkranz? Wie weist man 376 Pflegebedürftige in ein Heim ein, in dem kein einziger Platz mehr frei ist?
Der mit den Jahren zu einem Stück originärer DDR-Kultur gewachsene Moloch "Eingabenwesen" hatte genaugenommen keinerlei Nutzen. Er verteilte den Mangel einfach nur zu denen um, die keine Eingabe schrieben.
Die Mitarbeiter des Sektor III müssen sich dessen durchaus bewusst gewesen sein. Und sie behielten ihr Wissen nicht etwa für sich. "Die Mehrzahl der Anliegen der Bürger", schrieb Sektorenleiter Glaser über zwei Jahrzehnte regelmäßig in seine internen Berichte nach oben, "ist berechtigten Ursprungs." Viele seien aber dennoch "nicht wie gewünscht zu lösen".
Detailliert listeten die monatlichen Eingabenanalysen die Schwachpunkte des Systems auf. Fehlerhafte Arbeitsweisen, bürokratisches Verhalten, herzloser Umgang der staatlichen Organe mit Bürgeranliegen seien "unten" an der Tagesordnung, berichtete Glaser an Staatsratschef Willi Stoph.
Gab es keine Ersatzteile, schrieb man eine Eingabe
Die Unzufriedenheit stieg und damit auch die Zahl derjenigen, die versuchten, "die Lösung ihrer Probleme mit Druck zu erzwingen". So verlangten immer mehr Bürger aus unterschiedlichen Schichten die sofortige Lösung ihres Wohnungsproblems. "Wenn wir nicht bis zum 15. 8. eine neue Wohnung haben", wetterte Herbert J. aus Parchim, "könnt ihr uns gleich die Ausreise
fertigmachen oder wir schicken Bilder, wie wir als DDR- Bürger leben, in die ganze Welt. Wir leben ja nicht wie Menschen, sondern wie Tiere!"
Solche Briefe wurden natürlich einmal mehr kopiert. "Übersiedlungsersuchen wurde dem MfS zugeleitet", vermerkt eine Notiz, "Sicherheitsorgane wurden informiert" eine andere.
Aber sie wurden auch bevorzugt bearbeitet. Augenoptikermeister Ebert aus Merseburg hingegen, der still leidend 18 Jahre lang um die Reparatur seines Daches gekämpft hatte, überlebte das Ende der langersehnten Bauarbeiten nur um wenige Tage. "Im Herbst 1989", erzählt seine Witwe Ruth, "kamen ja endlich die Handwerker." Doch über deren "Pfuscharbeit" habe sich ihr Mann "so sehr
aufgeregt, dass das sein armes Herz nicht mehr mitmachte."
Spätere Beschwerden seiner Frau über die Pfuscharbeit gingen in den Wende-Wirren unter. Das Dach des Hauses in der Halleschen Straße ist noch immer nicht komplett saniert. Ruth Ebert hat sich irgendwann damit abgefunden. "Heute", seufzt die Rentnerin, "weiß man ja gar nicht mehr, wo man sich beschweren soll."
Donnerstag, 6. Juli 2017
Styx: Reise in die Ewigkeit
Im 45. Jahr nach ihrer Gründung kehrt die US-Band Styx mit dem Album „The Mission“ aus einer Jahrzehnte währenden Pause zurück.
Styx, das ist der Todesfluss, der an der Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Totenreich Hades fließt. Styx, das ist aber auch eine Rockband, die eben den Beweis antritt, dass ewiges Leben möglich ist: „The Mission“ ist nach 14 Jahren Pause das erste neue Album der Band, die Ende der 70er bis Anfang der 80er Jahre weltweit riesige Erfolge feierte. Und es ist ein Album, an dem mit James Young nur noch eines der Gründungs- oder langjährigen Originalmitglieder mitgewirkt hat.
Natürlich, auch Tommy Shaw ist da, der Gitarrist, der in den erfolgreichsten Jahren zwischen 1975 und 1984 an heute längst klassischen Alben wie „The Grand Illusion“ und „Paradise Theater“ mitgewirkt hatte. Und Bassist Chuck Panozzo spielt auch wieder mit. Aber weder Sänger und Mitgründer Dennis DeYoung noch Chucks Bruder John Panozzo zählen noch zur 1990 von James Young wiedergegründeten Truppe, zu der Tommy Shaw erst zurückkehrte, als DeYoung und Chuck Panozzo sie erneut verlassen hatten.
Rock’n’Roll-Zirkus der Superstar-Art, für die die Band aus Chicago schon immer stand. Als in England schon die Punk-Revolution kochte, spielten die fünf Musiker aus Illinois zusammen mit Supertramp, Saga, dem Electric Light Orchestra und Fleetwood Mac die Lordsiegelbewahrer der großen Rockkunst. Songs wie das Folk-Stück „Boat On A River“ vom Album „Cornerstone“ aus dem Jahr 1979 und die 1983 zum dauerpräsenten Hit avancierende Single „Mr. Roboto“ etablierten Styx in der Liga der Arena-Bands jener Tage, die mit hoher musikalischer Könnerschaft eine perfekte Rockmusik ohne Leidenschaft und Seele spielten.
Theatralisch, fantasiebegabt, immer auf der Suche nach der großen Pose und dem Lied, das das ganze Leben erklärt und die Hörer tief in der Seele packt, so klingen Styx auch heute noch. James Young, der inzwischen auch Sänger der Band ist, wird vom alten Kollegen Tommy Shaw unterstützt, dazu kommen mit Bassist Ricky Phillips, Schlagzeuger Todd Sucherman und Keyboarder Lawrence Gowan drei Mitmusiker, die den klassischen Styx-Sound täuschend echt nachzustellen verstehen.
Alles da, was das Fanherz begehrt: Die Hardrock-Gitarren, die dreistimmigen Chöre, zu denen Tommy Shaw, Lawrence Gowan und James Young immer wieder zusammenfinden, der Synthesizer-Schaum, der über allem liegt, aber auch Boogie-Woogie-Strecken wie in „Hundred Million Miles from Home“. Und wie damals auf „Paradise Theater“, das auch von der DDR-Plattenfirma Amiga veröffentlicht wurde, gibt es wieder eine durchgehende Geschichte, die die 14 meist überraschend kurzen Lieder miteinander verbindet.
Eine Reise zum Mars bildet die Kulisse für das späte musikalische Abenteuer, in das sich Young & Co. gewohnt fingerfertig und fantasiebegabt stürzen: An Bord des Raumschiffs Khedive schlüpfen Shaw, Young und Gowan in die Rollen der Crew, die im Auftrag des - von Tommy Shaw ausgedachten - Global Space Exploration Program unterwegs durch die Weiten des Weltalls ist.
Eine harmonische Reise, auf der die Band zeigt, dass sie in allen Stilrichtungen beschlagen ist. Ein wenig Prog-Rock wird mit Anleihen bei Yes-Psychedelika gemischt, „The Greater Good“ hört sich an wie eine verschollene Queen-Hymne und „Time may bend“ erinnert an das unvergessene „Snowblind“ vom „Paradise Theater“-Album. Klänge, so blank und glänzend wie eine echte Marsrakete, bereit zum Flug in die Ewigkeit.
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Dienstag, 4. Juli 2017
Separatisten in Nordamerika
Ein Jahr hatten sie sich vorbereitet, eine eigene Armee gegründet und eigenes Geld herausgegeben. Am 4. Juli 1776 war es dann soweit. Der Kontinentalkongress, in dem Delegierte aus den 13 britischen Kolonien Nordamerikas sich zusammengefunden hatten, um die Behandlung der Amerikaner durch die Briten als Bürger zweiter Klasse zu beenden, verabschiedete die Unabhängigkeitserklärung als Dokument des eigenen Willens, sich vom Mutterland in der alten Welt zu lösen und einen eigenen Staat aus der Taufe zu heben.
Thomas Jefferson, Sohn eines Pflanzers und studierter Jurist, hatte die Erklärung geschrieben, mit der sich die Untertanen des englischen Königshauses selbst ermächtigten, ihre Untertanenschaft zu kündigen. Der König, so heißt es da, habe eine Reihe von Rechtsbrüchen begangen, seine Macht missbraucht, Krieg gegen die eigene Bevölkerung in den Kolonien begonnen, die Rechtsprechung behindert und die Bürokratie vergrößert, so dass seinen einst treuen Bürgern das Recht zuwachse, „die staatlichen Bindungen an das Mutterland zu lösen“. Im Namen der Kolonien unterzeichneten 56 Delegierte das Dokument, das damit ihrer Ansicht nach Rechtskraft erlangte.
In London sah man das anders. Seit Monaten schon führten Truppen der Kolonisten und Einheiten des Königs Krieg miteinander, der sich nun verschärfte. Britische Einheiten griffen New York an, die amerikanische Front auf Long Island brach zusammen. Die geschlagenen Reste seiner Einheiten konnte George Washington nach Brooklyn zurückziehen, später flüchtete seine Kontinentalarmee nach Manhattan. Das Kriegsglück wendete sich erst Monate später wieder. Weitere fünf Jahre kämpfen Amerikaner und Briten, schließlich aber auch Franzosen und Spanier weiter gegeneinander, ehe die Briten nach der Belagerung von Yorktown in Virginia kapitulieren und Großbritannien die Unabhängigkeit der Kolonien anerkennen muss.
Mehr vom Independence Day in der Neuen Zürcher
Thomas Jefferson, Sohn eines Pflanzers und studierter Jurist, hatte die Erklärung geschrieben, mit der sich die Untertanen des englischen Königshauses selbst ermächtigten, ihre Untertanenschaft zu kündigen. Der König, so heißt es da, habe eine Reihe von Rechtsbrüchen begangen, seine Macht missbraucht, Krieg gegen die eigene Bevölkerung in den Kolonien begonnen, die Rechtsprechung behindert und die Bürokratie vergrößert, so dass seinen einst treuen Bürgern das Recht zuwachse, „die staatlichen Bindungen an das Mutterland zu lösen“. Im Namen der Kolonien unterzeichneten 56 Delegierte das Dokument, das damit ihrer Ansicht nach Rechtskraft erlangte.
In London sah man das anders. Seit Monaten schon führten Truppen der Kolonisten und Einheiten des Königs Krieg miteinander, der sich nun verschärfte. Britische Einheiten griffen New York an, die amerikanische Front auf Long Island brach zusammen. Die geschlagenen Reste seiner Einheiten konnte George Washington nach Brooklyn zurückziehen, später flüchtete seine Kontinentalarmee nach Manhattan. Das Kriegsglück wendete sich erst Monate später wieder. Weitere fünf Jahre kämpfen Amerikaner und Briten, schließlich aber auch Franzosen und Spanier weiter gegeneinander, ehe die Briten nach der Belagerung von Yorktown in Virginia kapitulieren und Großbritannien die Unabhängigkeit der Kolonien anerkennen muss.
Mehr vom Independence Day in der Neuen Zürcher
Samstag, 1. Juli 2017
Damals in Leuna: Erinnerung an Helmut Kohl
Helmut Kohl war nicht nur der Vater der Einheit und der Mann, der sich in Halle gegen Eierwerfer wehrte, sondern auch der Politiker, der über den kleinen Dienstweg nach Paris dafür sorfte, dass in Leuna heute noch Chemie existiert. Nichts Genaues weiß man nicht, aber Zeitzeugen, die ganz nah an den Ereignissen teilhatten, erinnern sich an Lustreisen nach Paris, an vom Gastgeber spendierte leichte Mädchen und Unmengen Alkohol. dann war es soweit, der französische Staatskonzern Elf Aquitaine rettet Leuna. Wie und warum, welches Geld wohin floß und welche Gegenleistungen versprochen wurden, ist bis heute unbekannt. Aber der frühere Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert liegt mit den in seinem Thriller "Der nützliche Freund" entworfenen Theorien womöglich nicht allzuweit weg von der Wahrheit.
Das ist das eine, auch von Untersuchungsausschüssen nicht geklärt. Das andere ist, wie es damals von unten aussah. Und zwar so*.
Der Wind ist eisig hier draußen. Graue Regenschauer hängen über dem Baufeld, auf dem eine einsame Planierraupe ihre Kreise zieht. Die Gleisverlegearbeiten der Reichsbahn gleich nebenan sind gegen den Bauplatz, auf dem in knapp zwei Jahren die größte Einzelinvestition in den neuen Bundesländern entstehen soll, eine richtige Großbaustelle. Leuna, Minuten nach der Nachricht aus Berlin, daß Treuhandanstalt und das französische Elf Aquitaine den Streit um den Neubau der Leuna-Raffinerie mit einem Kompromiß beigelegt haben. Jetzt steht fest: Die 4,3 Milliarden Mark teure Raffinerie wird gebaut.
Doch nirgendwo Jubel, nirgendwo Begeisterung. „Mich selber betrifft doch das Ganze ja gar nicht", denkt Kioskbesitzerin Ursel Schröder, die ihren Wagen gleich gegenüber dem Werkszaun geparkt hat. Aber vielleicht, hofft sie, kämen dann ja mehr Gäste zum Essen. Andere Hoffnungen? Nein, andere Hoffnungen verknüpfe sie nicht mit dem Projekt. Ähnlich denken viele. „Für mich ist es sowieso zu spät", sagen die Älteren, „ob das noch was nützt, bin ich mir nicht sicher", befürchten die Jungen. Leuna, zu DDR-Zeiten noch Arbeitsplatz von mehr als 30 000 Chemiewerkern, hat in den letzten vier Jahren zuviel durchgemacht, als daß hier noch jemand spontan in Euphorie ausbrechen würde - „bloß weil irgendwer mal wieder verkündet, daß jetzt alles gut wird". Dasselbe, sagt ein knochiger Arbeiter an der Bushaltestelle, habe man schon viel zu oft gehört: „Und immer war es Verarsche".
Eher sachlich sehen es andere. Der Leunaer Dezernent für Hauptverwaltung, Georg Schicht, hat zwar durchgesetzt, daß, seit die Ungewißheit um die Raffinerie in den letzten Tagen überhandnahm, die Kommune um das Werk auch die Treuhandmitteilungen gefaxt bekommt - diesmal aber wollte es Schicht möglichst schnell wissen. „Den ganzen Tag", erzählt er, „habe ich am Radio gehangen". Bis die Nachricht kam. „Mir fiel ein Stein von Herzen", freut er sich, „nicht nur wegen der mindestens 8 000 Arbeitsplätze, die jetzt sicher sind." Er spricht von der Freifläche, die längst als Wohngebiet verplant ist. 150 Wohnungen sollen dort entstehen. „Aber da existiert doch nur ein Interesse, wenn die Leunaer Arbeit haben." Und es geht um das Gewerbegebiet am Rande von Leuna. „Wissen Sie", macht Schicht eine Rechnung auf, „wir wollen schon in Kürze die ersten Gewerke heranholen."
Zulieferer, Dienstleistungen, Mittelstand. „Hoffentlich klappt das, denn wir sind doch auch auf die Gewerbesteuer angewiesen." Radio gehört hat auch Uwe Thomas. „Denn natürlich ist jede Investition wichtig", meint der Tankwart, der die Minol-Tankstelle direkt vor dem Werkstor betreibt, gestellt, wie werden die Leute ausgesucht - „keiner weiß was, keiner sagt was." Sicher sind sich die Beschäftigten in der Raffinerie nur über eines: „Wir sind jetzt 1 200 Leute in der alten Raffinerie, unddie bauen sicher keine neue, um genausoviel Menschen zu beschäftigten. Also, sagen sie, werden „wohl viele die Tasche packen müssen, wenn die alte Raffinerie zumacht".
Aber wenigstens habe so einige eine halbwegs sichere Perspektive. „Wir hoffen nur, daß es nicht so wird, daß die Letzten, die hier das Licht ausmachen, dann keinen Platz mehr im neuen Werk finden."
*Text vom März 1994
Das ist das eine, auch von Untersuchungsausschüssen nicht geklärt. Das andere ist, wie es damals von unten aussah. Und zwar so*.
Der Wind ist eisig hier draußen. Graue Regenschauer hängen über dem Baufeld, auf dem eine einsame Planierraupe ihre Kreise zieht. Die Gleisverlegearbeiten der Reichsbahn gleich nebenan sind gegen den Bauplatz, auf dem in knapp zwei Jahren die größte Einzelinvestition in den neuen Bundesländern entstehen soll, eine richtige Großbaustelle. Leuna, Minuten nach der Nachricht aus Berlin, daß Treuhandanstalt und das französische Elf Aquitaine den Streit um den Neubau der Leuna-Raffinerie mit einem Kompromiß beigelegt haben. Jetzt steht fest: Die 4,3 Milliarden Mark teure Raffinerie wird gebaut.
Doch nirgendwo Jubel, nirgendwo Begeisterung. „Mich selber betrifft doch das Ganze ja gar nicht", denkt Kioskbesitzerin Ursel Schröder, die ihren Wagen gleich gegenüber dem Werkszaun geparkt hat. Aber vielleicht, hofft sie, kämen dann ja mehr Gäste zum Essen. Andere Hoffnungen? Nein, andere Hoffnungen verknüpfe sie nicht mit dem Projekt. Ähnlich denken viele. „Für mich ist es sowieso zu spät", sagen die Älteren, „ob das noch was nützt, bin ich mir nicht sicher", befürchten die Jungen. Leuna, zu DDR-Zeiten noch Arbeitsplatz von mehr als 30 000 Chemiewerkern, hat in den letzten vier Jahren zuviel durchgemacht, als daß hier noch jemand spontan in Euphorie ausbrechen würde - „bloß weil irgendwer mal wieder verkündet, daß jetzt alles gut wird". Dasselbe, sagt ein knochiger Arbeiter an der Bushaltestelle, habe man schon viel zu oft gehört: „Und immer war es Verarsche".
Eher sachlich sehen es andere. Der Leunaer Dezernent für Hauptverwaltung, Georg Schicht, hat zwar durchgesetzt, daß, seit die Ungewißheit um die Raffinerie in den letzten Tagen überhandnahm, die Kommune um das Werk auch die Treuhandmitteilungen gefaxt bekommt - diesmal aber wollte es Schicht möglichst schnell wissen. „Den ganzen Tag", erzählt er, „habe ich am Radio gehangen". Bis die Nachricht kam. „Mir fiel ein Stein von Herzen", freut er sich, „nicht nur wegen der mindestens 8 000 Arbeitsplätze, die jetzt sicher sind." Er spricht von der Freifläche, die längst als Wohngebiet verplant ist. 150 Wohnungen sollen dort entstehen. „Aber da existiert doch nur ein Interesse, wenn die Leunaer Arbeit haben." Und es geht um das Gewerbegebiet am Rande von Leuna. „Wissen Sie", macht Schicht eine Rechnung auf, „wir wollen schon in Kürze die ersten Gewerke heranholen."
Zulieferer, Dienstleistungen, Mittelstand. „Hoffentlich klappt das, denn wir sind doch auch auf die Gewerbesteuer angewiesen." Radio gehört hat auch Uwe Thomas. „Denn natürlich ist jede Investition wichtig", meint der Tankwart, der die Minol-Tankstelle direkt vor dem Werkstor betreibt, gestellt, wie werden die Leute ausgesucht - „keiner weiß was, keiner sagt was." Sicher sind sich die Beschäftigten in der Raffinerie nur über eines: „Wir sind jetzt 1 200 Leute in der alten Raffinerie, unddie bauen sicher keine neue, um genausoviel Menschen zu beschäftigten. Also, sagen sie, werden „wohl viele die Tasche packen müssen, wenn die alte Raffinerie zumacht".
Aber wenigstens habe so einige eine halbwegs sichere Perspektive. „Wir hoffen nur, daß es nicht so wird, daß die Letzten, die hier das Licht ausmachen, dann keinen Platz mehr im neuen Werk finden."
*Text vom März 1994
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heimatgeschichte
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Leuna, Deutschland
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