Sonntag, 27. November 2016

Fidel Castro in Halle: Als der Maximo Lider ins Schwimmbecken sprang


Die Wimpelkette zog sich von Halle-Neustadt bis nach Buna. DDR-Fähnchen und Kuba-Fähnchen, immer abwechselnd, von eigens beauftragten Trupps mit Kranwagen an die Laternen gebunden. So begrüßte der Bezirk Halle im Juni 1972 Kubas Revolutionsführer Fidel Castro. Der selbsternannte "Maximo Lider" kam in Begleitung von Staatschef Erich Honecker, der erst ein Jahr zuvor seinen Vorgänger Walter Ulbricht gestürzt hatte. Honecker wollte Weltoffenheit zeigen, eine eigene Duftmarke setzen und außenpolitisch Lockerheit beweisen.

Castro, ein beinharter Diktator, zugleich aber auch ein sturer Verächter diplomatischer Gepflogenheiten, kam da gerade recht. Seine Visite hatte die DDR-Staatsführung mit großem Pomp inszeniert: So fuhren DDR-Staatschef Erich Honecker und Fidel Castro in einer offenen Limousine von Halle nach Leuna. An den Straßen entlang der Strecke hatten Junge Pioniere, Mitglieder von FDJ und Angestellte der Großbetriebe Aufstellung genommen, um den hohen Besuch jubelnd zu begrüßen. In Leuna marschierten zu Ehren von Castro Kampfgruppenformationen auf und vor den Toren der Leuna-Werke riefen angeblich 80 000 Kundgebungsteilnehmer „Kuba-si“.

Castro wurde zum Kampfgruppen-Bataillonskommandeur ehrenhalber ernannt und bekam ein Gewehr geschenkt, mit dem Leuna-Arbeiter in den 20er Jahren „gegen die Henkersknechte des deutschen Imperialismus gekämpft“ hatten.

Zusammen mit Honecker unternahm Castro eine Rundfahrt durch Halle-Neustadt. Beide ließe sich auch dort von aufmarschierten Arbeitern feiern. „So weit das Auge reicht, ist die Straße dicht von Menschen umlagert“, hieß es danach in der „Freiheit“, „sie alle tragen Spruchbänder und Porträts von Fidel Castro und Erich Honecker, Blumen und viele Tausende Fähnchen“.

Beim Besuch der Schwimmhalle in Halle-Neustadt sprang Castro protokollwidrig ins Becken und schwamm ein paar Bahnen. Das war dann aber doch zu locker für die DDR: Der Vorfall wurde öffentlich totgeschwiegen.

Nachruf auf Fidel Castro

Sonntag, 20. November 2016

Russlands Kampf gegen die Raucher


Flughäfen sind weltweit längst schon keine Orte für Raucher mehr. In Katar werden sie in tiefe Katakomben verbannt, in denen sich das Anstecken einer eigenen Kippe wegen der herrschenden Luftqualität völlig erübrigt. In Peking liegen die Raucherinseln so versteckt, dass die Zeit zwischen Landung und Weiterflug leicht auf der Suche verbracht werden kann. Alle Feuerzeuge werden bei der Einreise konfisziert, Reisende können ihre Kippen anschließend nur noch mit Hilfe bizarrer Anzündautomaten anstecken, die an die Wände der gut versteckten Raucherverschläge montiert sind.

Nur Russland ist noch konsequenter. Wie einst Michael Gorbatschow, der den alkoholverliebten Sowjetmenschen zu abstinenter Tugend erziehen wollte, hat sich auch Wladimir Putin der Bekämpfung aller bei Russen beliebten Drogen verschrieben. Moskaus Flughafen Scheremetjewo hat deshalb weder nahöstliche Qualmkeller noch ist er ein chinesisches Raucherratelabyrinth. Hier herrscht vielmehr ein knallhartes Rauchverbot: Keine Kabinen. Keine Verschläge, nichts.

Nur ist der Russe von heute ist nicht mehr der folgsame Genosse von früher. Er nimmt die obrigkeitliche Vorgabe zu seiner Gesundhaltung deshalb unbekümmert wie einst Gorbatschows Wodkaverbot. Und begibt sich zum Rauchen kurzerhand dorthin, wo die meisten Raucher ihre erste Kippe inhaliert haben: Aufs Klo.

Hier, wo der Architekt die Rauchmelder vergessen hat, bildet er dann mit Leidensgenossen aus aller Welt Notgemeinschaften, die sich spontan selbst organisieren. Der Franzose steht Schmiere, der Deutsche, der Italiener und der Russe qualmen um die Wette.

Wegweisend für die Welt.

Dienstag, 15. November 2016

Neues vom System Magdeburg

Ein dominanter Bau am besten Platz der Stadt erfüllte den Wunsch der halleschen Stadtväter nach einer endlich gefüllten Baugrube. 

Auf einmal ist der Wirtschaftsminister weg. Jörg Felgner, ehemals rechte Hand des langjährigen Finanzministers Jens Bullerjahn, stürzt am Ende über einen Vertrag über 80.000 Euro, die irgendwie und vielleicht ohne Grund über die Investitionsbank des Landes beim halleschen Wirtschaftsforschungsinstitut ISW gelandet sein sollen. 80.000 Euro. Ein Taschengeld angesichts der Summen, die in der Ära Bullerjahn unter den Augen der Öffentlichkeit ganz öffentlich über den Tisch geschoben wurden.

Aber Felgner, der Mann ohne Hausmacht in der SPD, ist nicht Bullerjahn, der in seiner Amtszeit nicht nur sein Ministerium, sondern auch die Partei im Stil eines absoluten Herrschers führte. Mit Widerspruch oder gar öffentlicher Kritik musste der Mann aus dem Mansfeld nie leben, auch, weil auf der anderen Seite beim Koalitionspartner CDU ähnliche Verhältnisse herrschten. Man tat sich nichts und man tat sich schon gar nicht weh, denn das gemeinsame Interesse war, im Amt zu bleiben.

Da mochte von außen auch Kritik kommen - etwa am irrwitzigen Bau eines Finanzamtes in bester Innenstadtlage in Halle. Dort, wo sich kein Privatunternehmen einen Neubau leisten konnte, pflanzte das Land, das Zeit seiner Existenz nie mehr als 70 Prozent seiner Ausgaben aus eigenen Einnahmen hat bestreiten können, einen "feinen Neubau" (Steuerzahlerbund) hin.

Für insgesamt 66,9 Millionen Euro gibt es 8.590 Quadratmeter Nutzfläche mit Platz für 440 Mitarbeiter, verglaste Lichthöfe, Empfangsfoyer, Konferenz-und Schulungsräume, Tiefgarage und vier Aufzugsanlagen, deren Finanzierung über die nächsten 25 Jahre gestreckt wird, auf dass der Prachtbau den derzeit rund 21 Milliarden Euro betragenden Schuldenberg des Landes nicht allzu auffällig erhöhe. Das ganze Unternehmen als Teil eines Plans, der die Anzahl der Standorte der Finanzämter reduziert und den Landeshaushalt während der Laufzeit der Rückzahlung der Baukosten um 50 Millionen Euro entlasten soll.

Am Ende herausgekommen sind - Stand jetzt - 16,9 Millionen Mehrkosten. Ein Sparplan nach Magdeburger Zuschnitt.

Laute Kritik aber, die den im September 2010 recht plötzlich geborenen Neubauplan - zuvor hatten ein Umzug in ein anderes Gebäude für 20 Millionen Euro und eine Sanierung des bisherigen Behördensitzes für 15 Millionen als Alternativen gegolten - hätte ins Wackeln bringen können, gab es nicht. Auch nicht an der "europaweiten Ausschreibung", deren Bedingungen nach Angaben des Steuerzahlerbundes "so gesetzt waren, dass nur ein Bewerber die Anforderungen auch erfüllen konnte".

Es war die Baufirma, die häufig baut, wenn zwischen Stendal und Zeitz Großprojekte zu stemmen sind. Sachsen-Anhalt ist ein kleines Land mit kurzen Drähten, über die ein Interessenausgleich schnell und informell stattfindet. Hat der Norden sich gegen allerlei rechtliche Widerstände ein neues Stadion besorgt, dann darf der Süden auch eins haben, auch wenn der damalige Rechnungshof-Chef Ralf Seibicke kleinteilig kritisierte, dass eine Anweisung des Innenministerium an das Landesverwaltungsamt, jegliche Bedenken gegen eine Genehmigung des Stadionneubaus fallen zu lassen, rechtlich zweifelhaft war. Dass Halles strukturelles Defizit von 50 Millionen Euro einen teilweise städtisch finanzierten Neubau rechtlich eigentlich unmöglich mache. Dass das Sozialministerium als damals zuständige Aufsichtsbehörde für Fördermittel im Sportbereich die Fördermittelvergabe ohne Wirtschaftlichkeitsprüfung an die Investitionsbank übertragen und diese wiederum einen Zuwendungsbescheid ausgereicht habe, obwohl die Finanzierung des Gesamtprojekts "nicht gesichert" war.

Recht ist biegsam, wo niemand auf seine strikte Einhaltung pocht. SPD-Innenstaatssekretär Rüdiger Erben, heute Mitglied der SPD-Landtagsfraktion, ging seinerzeit auf die Bedenken der Beamten in der Stadionsache ein. Und er schrieb dem Chef des Landesverwaltungsamtes: "Sehr geehrter Herr Leimbach, zu der offenen Frage des Einflusses der Genehmigungsfähigkeit des Haushaltes 2010 der Stadt Halle auf die noch abzugebende kommunalaufsichtliche Stellungnahme informiere ich sie dahingehend, dass eine Verbindung nicht herzustellen ist."

Das war nie geheim. Doch es hat sich immer versendet. Finanzminister Bullerjahn stand mit breiter Brust vor seinem Projekt. Und sagte: "Die Kritik muss die Politik jetzt aushalten." Sein Ministerpräsident Reiner Haseloff mischte sich gar nicht ein. In der leidigen Dessauer Fördermittelaffäre, unter der die CDU zu leiden hatte, hatte sich sein Finanzminister schließlich auch nie zu Wort gemeldet.

So funktionierte Sachsen-Anhalt über Jahrzehnte. CDU und SPD regierten miteinander, sie schufen sich mit der Investitionsbank ein Vehikel, das half, Förderrichtlinien kreativ zu interpretieren. Würden später Probleme auftreten, wäre die Investitionsbank in der Pflicht, die zwar dem Land gehört, aber längst nicht so viel Auskunft geben muss wie eine Landesbehörde. Kein System Bullerjahn, wie es jetzt überall heißt. Sondern ein System Magdeburg.

Erst mit dem Abgang Bullerjahns und der SPD-Landeschefin Katrin Budde geriet die betonierte Stabilität dieses Magdeburger Systems ins Wanken. Auf einmal ploppten Skandale wie die Wahlfälscheraffäre um den Landtagschef Hardy Peter Güssau nicht mehr nur einfach auf, sondern sie führten zu personellen Konsequenzen. Auf einmal ließ sich die im Sommer aufploppende Gutachtenaffäre nicht mehr durch langgestreckte Untersuchungsausschusstätigkeit beilegen. Die Regierungsparteien der letzten Legislaturperiode wirkten irritiert, konsterniert, innerlich noch auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht.

Das haben sie bisher noch nicht gefunden, denn die neue Realität, in der die AfD jedes Moment der Schwäche nutzt, um öffentlich auf Punktejagd zu gehen, hat nur noch wenig zu tun mit dem gemütlichen Staatswesen, das bis zum Frühjahr im Stil eines fröhlichen Fürstentumes regiert wurde.

Aber viel Zeit bleibt nicht mehr.

MZ-Kommentar: Die Regierung soll endlich tun, wofür sie gewählt wurde

Wolf Biermann: Das Glück des preu­ßischen ​Ika­rus

Wolf und Pamela Biermann. Foto: Thorsten Jander
Wallraff dreht das Autoradio lauter. Biermann schiebt den Kopf nach vorn. Lauscht. Die Stimme des Nachrichtensprechers verkündet gerade das Todesurteil, mitten auf der Autobahn Köln - Bochum: Die Regierung der DDR habe beschlossen, dem Sänger Wolf Biermann die Wiedereinreise nicht zu gestatten. "Mir war", das Erschrecken ist dem Liedermacher eingebrannt ins Hirn, "als würde ich meiner eigenen Hinrichtung zuhören." Gewundert habe ihn nur, "dass mein Kopf weiter dachte."

Wolf Biermann hat nichts vergessen seitdem. Entspannt sitzt er auf der Ledercouch im großen, hellen Wohnzimmer seines Hamburger Hauses, rezitiert plattdeutsche Verse vom kleinen Johann und der großen Welt im halleschen Dialekt seiner Oma Meume. Und rekapituliert nebenher Geschichte in winzigen Details.

Das Auto damals war zum Beispiel der 200er Mercedes irgendeines Gewerkschaftsmannes, die Reifen runderneuert. Die Besatzung unterwegs vom Kölner Konzert des DDR-Dissidenten zum zweiten Tour-Termin in Bochum. Und Biermann, Sohn einer Maschinenstrickerin und eines in Auschwitz ermordeten Hafenarbeiters, trug Steine in der Tasche, die er mit Günther Wallraff gesammelt hatte, um sie Freunden daheim in Ost-Berlin zu schenken. "Wunderbare Kiesel, schöner als jeder Diamant", sagt er, "denn es waren Steine vom Rheinufer - von einem Ort, an den ich nie zu gelangen hoffen durfte."

Und doch hatte die DDR ihren Staatsfeind Nummer eins ziehen lassen. Nach zwölf Jahren Hausarrest. Nach zwölf Jahren, in denen Biermann Auftritte nur in den eigenen vier Wänden absolvieren und Schallplatten nur im Westen veröffentlichen konnte. Biermann war glücklich. "Es waren die schönsten Tage meines Lebens", sagt er über jene Novemberwoche des Jahres 1976 nach seinem Kölner Konzert. "Schließlich hatte ich diese unglaubliche Balanciernummer wohlbehalten überstanden." Das Publikum gut unterhalten, die Freunde daheim nicht enttäuscht und die SED-Bonzen kritisiert, ohne sie zu sehr zu schmähen. "Ich war wirklich der Meinung, ich käme gut wieder nach Hause."

Vaters Vermächtnis

Welch ein Irrtum. Mit der Ausweisung ist Wolf Biermann "verwirrt, eingeschüchtert, voller Lebensangst." Die blassen Augen schauen blicklos auf den abgewetzten braunen Ledersessel in der Ecke, auf dem früher Robert Havemann und Margot Honecker saßen, wenn sie zu Besuch waren. Das T-Shirt spannt über muskulösen Oberarmen. Biermann, Sohn des von den Nazis ermordeten Dagobert Biermann, als Feind vertrieben aus dem gelobten Land des Kommunismus! In das er doch im Sommer 1953 gezogen war, um mitzuhelfen, eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Es streicht kein Lächeln um die Mundwinkel, schwingt kein verspätetes Klugsein mit. "Ich glühte ja nicht einmal für die Weltrevolution, nein, sie war für mich eine Aufgabe wie Luftholen." Ein Vermächtnis des Vaters, den er ein einziges Mal gesehen hat bei einem Besuch im Lager. Ein Auftrag der Mutter, die in der Pause in der Fabrik Marx las und in der DDR die Erfüllung eines Traums sah.

Kurz nach Stalins Tod geht Biermann in die DDR. "Zum Glück schickten sie mich dort aufs Internat in die Ackerbauernstadt Gadebusch, so dass ich von den Arbeiteraufständen nichts mitbekam." Ein Glück, denn, jetzt senkt der Sänger die Stimme, "hätte ich gesehen, wie sie in Berlin streikende Arbeiter niederwalzen, hätte ich mich damals schon auf die Seite der Ermordeten gestellt, nicht auf die Seite der Mörder."

So aber hockt er am Ende der Welt, der Heimleiter allein stellt das Radio ein, und der 17-Jährige "ist so schön dumm, dass er nicht dumm bleiben muss". Ein bloßer Zufall, aber einer, ohne den aus dem kleinen Wolf nicht der böse Biermann geworden wäre, der Sänger, Dissident und Nationalpreisträger, ganz sicher. "Ungebildet, schlecht ausgerüstet wäre ich gewesen." Darüber lässt sich lange sinnen. Wie über all die Momente, in denen Weichen gestellt und Wege beschritten wurden, an deren Ende der Mann mit dem ergrauenden Seehundsbart steht: 1,67 Meter Formulierungslust in schwarzen Jeans, mit schmalen Hüften und kurzen, festen Fingern.

Halb sechs morgens sei seine Mutter in die Fabrik gegangen. "Da saß ich kleiner Kerl allein in der Wohnung, bis meine Tante Lotte mich um sieben abholte." Der kleine Wolf sitzt nicht nur, er singt sich die Seele aus dem Leib: "Ich weiß heute nicht mehr, ob aus Angst oder Freude." Die Begabung ist entdeckt, den "kleinen Sänger" nennt ihn bald die ganze Nachbarschaft. Dass er aber später lernt, Klavier zu spielen, sagt Biermann, hatte nur mit diesen Lucky Strikes zu tun. Die Stimme, mit der Biermann seinen Geschichten zuweilen freudig krähend Pointen aufsetzt, wird dunkel und schwer, als er die Geschichte vom Onkel erzählt, der im Freihafen einen ganzen Sack Zigaretten dieser Marke stiehlt, um seinem Neffen ein Klavier kaufen zu können. "Und das in der größten Elendszeit - ich bekomme noch heute einen Glücksstich ins Herz, wenn ich irgendwo eine Packung Lucky Strikes liegen sehe."

So ist es immer gewesen, in diesem Leben "nah an der Rampe der Weltgeschichte", wie er es nennt. Eine winzige Wendung, eine andere Zeit, ein anderer Ort. Biermann, als polternder Querkopf gefürchtet, ist ein nachdenklicher Mensch, der sich über eines sehr sicher ist: Es hätte gut auch alles ganz anders kommen können. Etwa damals, als ihn die Stasi in Gadebusch als Spitzel werben will. Und er dem Führungsoffizier an die Kehle geht, weil "der mich einen Agenten genannt und mich damit schwer in meiner bolschewistischen Ritterehre gekränkt hatte." Agent! Er! Dagoberts Sohn! "Wenn der mir erzählt hätte, Genosse Wolf, die Revolution braucht dich, Mensch, da hätte ich sofort unterschrieben."

Berlin sei Dank

Biermann, der gern Stalin und Churchill zitiert, ist sich im Klaren, dass er häufig Glück gehabt hat. Etwa als er beginnt, Wirtschaftswissenschaften zu studieren und nicht auf die Hochschule nach Magdeburg, sondern nach Berlin geschickt wird. "Nur dort konnte ich in den Sog des Brecht-Theaters geraten." Oder als er - längst mit einem Bann belegt - immer wieder "lebende Freunde und tote Götter" findet, die ihm Kraft geben, "wenn nicht mehr ich die Angst hatte, sondern die Angst mich".

Das Bild vom harten preußischen Ikarus, der Stasi-Spitzeln ausdauernd zürnt und unbeirrt von Zweifeln einen eigensinnigen Weg geht, es klirrt auseinander vor der Realität in der freundlichen Stube ohne Gardinen, nur ein paar Straßen entfernt von dem Kanal, durch den seine Mutter ihn kurz vor Kriegsende schwimmend vor den Bomben rettete. Es komme ihm mehr denn je darauf an, lebendige Widersprüche darzustellen, "einfach das Wenige, was ich wirklich rausgekriegt habe, weiterzusagen." Die kleinen "eindimensionalen Piesel", das Parteiengezänk, die meisten schnellschäumenden Diskussionen dieser Tage, sie bewegen ihn kaum. Ebenso wenig die Typen, die ihm seine eigene Geschichte erzählen wollen, samt Affäre mit Margot und Mauscheln mit der SED.

Biermann, ein begeisterter Tischtennisspieler mit starker Rückhand, ist im Alter milder geworden, aber nicht viel. Der vermeintlich ewig polternde Gerechtigkeitsfanatiker entpuppt sich als milder Denker, der ganz ohne Zorn zurückschaut, gelehnt ins abgeschabte Ledersofa. Wie es war, war es gut. Alles andere zu sagen, hieße "klüger sein zu wollen als ich bin". Oder, Biermann kann auch poltrig-proletarisch: "Ich kann nicht höher springen als der Arsch kommt."

Der Gedanke amüsiert ihn nun doch. Er lässt ein kockerndes Lachen hören. "Wenn sie mich damals nach Magdeburg geschickt hätten", bläst er die Backen auf. Keine Bekanntschaft mit Brecht, mit Helene Weigel, mit dem Berliner Ensemble und Havemann. Keine Liedermacherei. Keine Chauseestraße 65. Kein Hausarrest. 


"Vielleicht wäre ich ein Kombinatsdirektor geworden!" Oder ein mittlerer Wirtschaftsfunktionär mit wutgeballter Faust in der Tasche. "Ich würde heute ein bisschen Gitarre für den Hausgebrauch spielen, das war's." Mit drei Akkorden durchs ganze Leben, das Lied vom kleinen Johann und der großen Welt auf den Lippen, plattdeutsch, ein bisschen hallesch eingefärbt. Jeder Mensch ist ein Roman, an dessen Seiten viele schreiben. 

Wolf Biermann sächselt fröhlich: "Fehlte nicht viel", sagt er.



Sonntag, 13. November 2016

Leonard Cohen: Das letzte Hallelujah


„Ich bin bereit, mein Gott“, beginnt sein letztes Album, eine Songsammlung, die er „You want it darker“ nannte. Ein Augenzwinkern, wie es nur Leonard Cohen hinbekam, der Mann, der erst mit 33 Jahren aufbrach, vom Dichter zum Rockstar zu werden. Der Mann, der mitten in die Mauerfall-Euphorie eine Platte pflanzte, auf der er nach der „Berlin wall“ und Stalin flehte. Der Mann, der sein erstes Album nach zehn Jahren als Mönch schlicht „zehn neue Lieder“ genannt hatte.

Keiner wie die anderen


Mit Hut, Anzug und malerischen Denkerfalten im Gesicht unterschied sich der Sohn eines Ingenieurs schon äußerlich vom grellbunten Rest der Rock- und Popwelt. Cohen, aufgewachsen in einer ebenso gläubigen wie wohlhabenden jüdischen Familie, die aus Litauen nach Kanada ausgewandert war, gehörte zur Generation der Bob Dylans, Joan Baez’ und Nick Drakes, die Ende der 60er Jahre vom New Yorker Stadtteil Greenwich Village aus aufbrachen, die Welt zu verändern. Aber Teil der Gegenkultur, als die sich die Hippies verstanden, war Cohen nicht.

Er ist älter als die anderen und er fühlt sich eher als Poet denn als Liedersänger. Zwar hat Leonard Cohen mit 13 Jahren Gitarrespielen gelernt, allerdings nur, um an ein bestimmtes Mädchen heranzukommen. Langfristig sieht der belesene Junge mit der markanten Nase sich als Dichter wie Byron, Yeats und Camus. Mit 22 veröffentlicht er seinen ersten Gedichtband, mit 27 folgt der zweite, schon relativ erfolgreiche. Cohen kauft sich für 1 500 Dollar, die ihm seine Oma zum Geburtstag schenkt, ein Häuschen auf der griechischen Insel Hydra. Cohen zieht dort hin, steht früh auf, sitzt am Schreibtisch und dichtet. Und er lernt neben der gelassenen griechischen Lebensart auch ein norwegisches Mädchen namens Marianne kennen und lieben, das ihn später zu einem Song inspirieren wird, der heute als Klassiker gilt.

Daran, ein Singer/Songwriter wie Bob Dylan zu werden, denkt Cohen nicht, obwohl er Songs wie „Suzanne“ schreibt, das die mit ihm befreundete Folksängerin Judy Collins für eine Platte einspielt. Erst nach seiner Rückkehr in die USA überlegt er es sich anders, nachdem er, der die Frauen liebt und den die Frauen lieben, sieht, dass der Trick mit der Gitarre immer noch klappt. Nun tritt er beim berühmten Newport Folk Festival auf. Und seine Bühnenpräsenz überzeugt Dylans Produzenten John Hammond, ihm einen Vertrag bei Dylans Label Columbia zu verschaffen.

Cohen, mit einer dunklen, zuweilen wackligen Stimme ausgestattet, ist von Anfang an erfolgreich. Seine Lieder haben nichts Rebellisches, sie kreisen um allgemeinmenschliche Dinge: Sie verlässt ihn, er verlässt sie. Sie liebt ihn, und er merkt es nicht. Und wo zum Teufel ist Gott, wenn man ihn mal braucht? Der Anzugträger unter den Hippies zupft dazu auf einer akustischen Gitarre, gern lässt er sich auch von Chordamen begleiten und badet die Melancholie seiner „Songs of Love and Hate“ (LP-Titel) in wohligen Streichersounds.

Mit schweren Depressionen

Bitter aber bleibt er, ein Misantroph, der an der Welt zu leiden scheint, die doch gerade im Begriff ist, ihm zu Füßen zu sinken. Leonard Cohen hat Frauen wie die Rocksängerin Janis Joplin und die Folk-Queen Joni Mitchell. Aber er hat auch schwere Depressionen, die ihn ein Lebtag lang nicht verlassen werden. Noch als etablierter Künstler, der Hallen füllt und auch ohne Single-Hit Stammgast in den LP-Hitparaden ist, sucht Leonard Cohen nach seinem Platz und seiner Stimme. Er experimentiert mit Streicherschmalz und Folkmusik, er überlädt seine Lieder mit Chören und Synthesizern und findet schließlich mit dem Album „Various Positions“ im Alter von 50 Jahren endlich die brummige Stimme und den bibelfesten Tröster-Ton, der die zweite Hälfte seiner Karriere bestimmen wird. Cohens „Hallelujah“ etwa mischt biblische Motive und sexuelle Anspielungen mit einer so hymnischen Melodie, dass das tausendfach nachgespielte Lied bis heute immer wieder als Soundtrack in Kinofilmen wie „Shrek“, dem „Tatort“ oder Erfolgsserien wie „Cold Case“ auftaucht.

Leonard Cohen hat sich bald danach von der Welt zurückgezogen - erst, indem er seinen Alkoholkonsum auf bis zu vier Flaschen Wein am Tag ausweitet. Dann, indem er im Mount Baldy Zen-Kloster in der Nähe von Los Angeles versucht, als Mönch von seinen Dämonen loszukommen. Der Weltstar dient Klostergründer Kyozan Joshu Sasaki Roshi als Koch und Fahrer. Cohen hat einen kahlgeschorenem Kopf, er nennt sich den „unnützen Mönch“.

Alles verloren


Ein Mönch, dessen Verbitterung die Rückkehr in die Welt seine Leiden an der Welt aber nur noch mehrt. Drei Jahre nach seinem triumphalen Comeback stellt Leonard Cohen fest, dass seine langjährige Managerin ihm alles gestohlen hat, was er in fast vier Jahrzehnten zusammensingen konnte. Neun Millionen sind fort, auf dem Konto gerade noch 150 000 Dollar. Cohen klagt. Er gewinnt. Und sieht doch keinen einzigen Cent wieder.

Geschockt verstummt der Vater des Rocksängers Adam Cohen und der Filmemacherin Lorca Cohen erneut für Jahre. Ehe er mit Ende 60 plötzlich an die produktivsten Zeiten seiner Laufbahn anknüpft: Mit „Old Ideas“, „Popular Problems“ und „You want it darker“ bringt er in drei Jahren mehr Alben heraus als zuvor in einem Jahrzehnt. Er geht auf Tour, ein schmaler gewordener Elder Statesman, der sich auf der Bühne kaum bewegt und doch alle Blicke mit dem Zucken einer Braue einfängt. Und er schleppt sich ins Studio, selbst wenn er dort nur noch im Sitzen singen kann. Hellwach beobachtet er die Welt, bissig kommentiert er den Literaturnobelpreis für Bob Dylan mit dem Satz, das sei, „als würde man dem Mount Everest eine Medaille dafür verleihen, dass er der höchste Berg ist“. Eines seiner letzten Lieder hat Leonard Cohen „Leaving the Table“ genannt, es besteht aus leisem Trommelstreicheln, akustischer Gitarre und seinem düsteren Bass. „Ich verlasse den Tisch“, brummt der, „ich bin raus aus dem Spiel“.

Leonard Cohen ist am 7. November im Alter von 82 Jahren gestorben.


Freitag, 11. November 2016

Jahrgedächtnis



Ich bin nicht hier, um zu gewinnen,
ich bin am Leben, um es zu verlieren.
Wo nichts verloren wird, ist nichts zu finden,
wer sich wärmen will, muss erstmal frieren.

Gerhard Gundermann



Beim Fußball hat er immer im Sturm gestanden. Natürlich im Sturm, ganz vorn, wo die Tore gemacht werden. Steffen Drenkelfuß war kein fleißiger Läufer, keiner, der das Spiel lenken wollte. Hier nicht. Hier, auf dem Platz, war er der, der seinen wuchtigen Körper mit ein paar schnellen Schritten in Position brachte und abschloss. Er war zielsicher, er war zur Verwunderung seiner Gegenspieler sogar schnell. Er war genau der, der er sein wollte. Ein Macher, ein Vollender. Ein Mann, der seinen Platz hatte und ihn ausfüllte.


Im Leben hat Steffen Drenkelfuß nach diesem Platz gesucht. Er liebte die lauten Runden, in denen über Gott und die Welt geredet wurde, die Abende am Lagerfeuer, an denen immer noch ein letztes Bier getrunken wurde, ehe es ins Zelt ging. Begann er zu erzählen, von den wilden Zeiten im Café Fusch, von seinen Reisen nach Afghanistan und Russland, von den Geschichten aus der Geschichte, die er liebte wie vielleicht kaum etwas sonst, dann wurden die Runden leise und alle hörten zu. Steffen Drenkelfuß war dann ein Menschenmagnet, ein wortgewandter Welterklärer, der allen einfachen Wahrheiten misstraute, weil er aus der Geschichte, die für ihn immer auch die Lebensgeschichte seiner geliebten Großmutter war, wusste, dass die Dinge nie einfach sind.

Steffen Drenkelfuß hielt es weniger mit den Gewinnern, die die Geschichte schreiben. Sein Herz schlug für die Verlierer, für die, die es versucht hatten und gescheitert waren.

Für sich selbst sah er das nicht vor. Meister seines Lebens zu sein, ein Mann, der seinen Weg geht, das war das Bild, das er von sich selbst hatte. Steffen Drenkelfuß war der Mann auf dem Kapitänsplatz hinten im Paddelboot, wenn es nach Schweden oder Polen ging. Tagsüber fuhr er ganz vorn im ersten Boot und abends war er der, der die Härten des Outdoorlebens bei jedem Wetter in vollen Zügen genoss – am liebsten nur in eine Plane gewickelt, der er seit der Armeezeit die Treue hielt. Er war ein Romantiker, er schlief auf einer Matte, die dreimal geflickt war, denn er hing an Dingen, die gelebt hatten.

Lange suchte er auch nach dem Ort, an dem er seine Fähigkeiten zeigen und verwenden konnte. Zum Glück für alle, die er auf seine Reise von der Universität zur Zeitungsredaktion, zum MDR und in die Stelle als Sprecher eines italienischen Hightech-Unternehmens mitnahm. Legende ist seines raue Imitation eines früheren MDR-Chefs, den er mit blitzenden Augen nachahmte. Auch seine absurden Anekdoten aus dem halleschen Rathaus hätten es verdient gehabt, ein Buch zu füllen. Und nie ließ er einen Zweifel daran, wie sehr er Falschheit und Größenwahn verachtete, wie sehr es ihn traf, wenn Aufschneider und Heuchler das Sagen hatten.

Steffen Drenkelfuß hätte es nie zugegeben, weil er sich für einen Realisten hielt. Doch er träumte von einer Welt, in der Leistungen zählen und nicht Bürokratie, Falschheit und das, was er Geschwätz nannte. Er selbst hat auf sich nie Rücksicht genommen, um seinem eigenen Anspruch an Leistung gerecht zu werden. Er arbeitete, akribisch, ausdauernd. Und wenn Freunde ihn brauchten, als Computerexperten, als Zuhörer, als Freund, war er da. So sehr, dass er oft den Vorwurf hörte, dass er nicht vergessen solle, dass da noch ein anderes Leben im Leben sein müsse.


Aber auch das hatte er, etwa wenn er am Pool bei seinen Eltern auf der Sonnenliege saß und bei einem Bier Gespräche mit seinem Vater  führte. Wenn er in Oebisfelde auf Fotopirsch zur Grenzerbank ging, aus der er mit seinen Bildern ein Kultmotiv machte. Oder wenn er abends zu Hause saß und über Max Höltz, Ernst Ottwalt oder Nestor Machno las. Bücher, die ihn beeindruckten, konnte er kapitelweise auswendig nachsprechen. Mit Gesten und ganzem Körpereinsatz holte er die Vergangenheit dann ins Heute. Er war begeistert und begeisterte andere. Er war lebendig. Er war glücklich.

Auch in der Musik. Er war dann melancholisch, romantisch, still. Gerhard Gundermann, Christian Haase, Natalie Merchant waren seine Säulenheiligen, immer wieder fand er aber auch zurück zum Punk seiner Jugendjahre. Den zornigen jungen Mann, der er damals gewesen war, trug Steffen  auch jenseits der 40 noch irgendwo in sich. Milde können andere sein, sagte er. Steffen urteilte präzise und schnell, sein moralischer Kompass schlug sicher aus, und wenn er eine Position gefunden hatte, dann verteidigte er sie vehement. Bis das letzte Bier ausgetrunken und das Feuer zu kalter Asche heruntergebrannt war.

Steffen Drenkelfuß ist am 11. November vor einem Jahr gestorben.
Er ist nur 45 Jahre alt geworden.

Steffen Drenkelfuß bei Facebook



Mittwoch, 9. November 2016

Reichsbürgeralarm in Mecklenburg

Wird als "Reichsbürger" bezeichnet, hält sich selbst aber für einen Reichsgründer: Adrian Ursache (Mitte mit Basecap) lieferte sich eine Schießerei mit der Polizei.

Ein Krimi-Autor muss in etwa dasselbe Gespür für Verbrechen und Täter haben wie seine Kommissare. Allerdings kommt es bei ihm darauf an, vorher zu erahnen, was später gefragt sein wird - Mord, Bankraub oder doch eher Finanzbetrug? Läuft nächstes Jahr, wenn das neue Buch fertig ist, eher ein Thriller über Wahlbetrug? Oder einer um Kindesentführung? Oder Rechtsextremisten?

Marc-Oliver Bischoff, in Lemgo geboren und in einem kleinen Dorf am Stadtrand von München aufgewachsen, hat ein gutes Gespür für anstehende Themen. Seinem Debütroman widmete Bischoff vor vier Jahren noch einem Serienkiller und bekam prompt den Glauser-Krimipreis. Den Nachfolger siedelte der 48-Jährige dann im realen Leben und im nördlichen Sachsen-Anhalt, indem er den Konflikt zwischen einem Dorf und zwei wegen Sexualstraftaten zu Sicherungsverwahrung verurteilten Straftätern schilderte.

Buch Nummer drei nun zeigt prophetische Gaben: "Die Sippe" (Buchtitel), die Bischoff in den Weiten Mecklenburgs siedeln lässt, versammelt Rechte und Reichsbürger, die im Dreiklang der Parole von "Tierschutz, Umweltschutz und Heimatschutz" versuchen, eine national befreite Zone im Norden Ostdeutschlands zu etablieren.

Bischoffs Heldin Katharina Hoffmann gerät auf der Suche nach ihrer verschwundenen Schwester in das Dörfchen Grantzow, wo die Uhren anders gehen. Keine Untergangsstimmung mit maroden Häusern und einer Jugend auf der Flucht, wie sonst überall. Sondern eine intakte Dorfgemeinschaft, die wie eine Familie zusammenhält.

Hoffmann ist misstrauisch, gerät aber nach und nach immer mehr in den Sog der rechten Weltanschauungssekte, die von Polizei und Geheimdiensten ebenso nach Kräften ignoriert wird wie der Vermisstenfall ihrer Schwester. Bischoff baut die Spannung langsam auf, obwohl die anstehenden Ereignisse für den Leser natürlich früh absehbar sind.

Ein paar Klischeebilder von lederhosentragenden, per Prügelstrafe erzogenen Kindern und stiernackigen Wachmännern zu viel schmälern die Glaubwürdigkeit des Szenarios, tut der Spannung aber nichts zuleide. Während Katharina Hoffmann immer tiefer in die Abgründe der Parallelwelt der selbsternannten Sippe vordringt, plant die die große rechte Revolution: Als unabhängiger "Staat Pommern" soll sich das rechte Hirngespinst von der Bundesrepublik lösen, inklusive Stacheldraht an der Grenze und Unabhängigkeitskrieg gegen die den verhassten Altstaat.

Der mutmaßliche Mord an der Schwester wird so zur Nebensache, eine viel größere Tragödie überschattet ihn. Nun jagen die Sippenchefs die Spionin im eigenen Lager, es wird geschossen, geblutet und gestorben und Sondereinheiten rücken an, um Grantzow zu befreien. Erst im Nachspann deutet sich dann an, wer wirklich die Verantwortung für das Massaker trägt. Marc-Oliver Bischoff lässt keinen Zweifel: Die Reichsbürger allein waren es sicher nicht.



Montag, 7. November 2016

Die DDR - nie war sie so beliebt wie heute

Pergamon? Grünes Gewölbe? Oder die Himmelsscheibe in Halle? Fehlanzeige. Nach einer Umfrage der Deutschen Zentrale für Tourismus unter Gästen aus aller Welt steht keiner der bekannten Klassiker an der Spitze der Hitparade der erfolgreichsten deutschen Museen. Sondern das DDR-Museum in der Berliner Karl-Liebknecht-Straße.

Erstaunlich: Die DDR schlägt Antike, Barock und Bronzezeit, sie ist beliebter als das Mittelalter, zählt mehr Besucher als Luther und macht auf Besucher mehr Eindruck als konkurrierende Häuser, die mit Steuermillionen subventioniert werden.

Fast 600 000 Besucher zählte das DDR-Museum im letzten Jahr, obwohl das vor zehn Jahren vom Freiburger Ethnologen Peter Kenzelmann gegründete Haus der Geschichte der selbsternannten Arbeiter- und Bauernrepublik keinerlei Fördermittel bekommt. Bundesweit lässt die Sammlung von DDR-Alltagskultur mit ihrer Beliebtheit sogar Sehenswürdigkeiten wie die Moritzburg bei Dresden, das Schloss Herrenchiemsee und Sachsen-Anhalts beliebtestes Reiseziel, das Rathaus von Wernigerode, hinter sich.

Wie war das damals, wie sah es aus, wie hat es funktioniert? Von der Neubauwohnung über den Trabi, vom Mauerbau bis Stasi-Abhöreinrichtung und vom Wandbild "Lob des Kommunismus" bis zum 1-Megabit-Chip können Chinesen, Amerikaner, Japaner und Schweden selbst sehen, wie der Sozialismus in den Farben der DDR aussah.

Was aus dem Fokus des Interesses der meisten Deutschen längst verschwunden ist, erregt jenseits der Grenzen offenbar Neugierde auf die Exotik eines untergegangenen Landes. Kein Erfolgsrezept, das immerzieht: Das Radebeuler DDR-Museum ist gerade pleitegegangen.

Sonntag, 6. November 2016

Tiefe Einblicke ins Fan-​Ge­hirn


Wenn es ums Geld geht, aber nebenbei auch soziale Erwägungen mitspielen, schaltet das menschliche Gehirn in einen anderen Verarbeitungsmodus. In diese Richtung deuten Ergebnisse einer Studie, die an der Universität Bonn durchgeführt wurde. Bei den zugrundeliegenden Tests konnten Probanden Musikstücke kaufen und den zu zahlenden Preis selbst festlegen. Die Forscher zeichneten währenddessen die Hirnaktivität der Teilnehmer auf - mit verblüffenden Ergebnissen.

Als die Band Radiohead vor zehn Jahren ein neues Album zum Download ins Internet stellte, ohne dafür einen festen Preis zu verlangen, war das ein Großexperiment. Kaufen, aber zu dem Preis, den der Käufer zu geben bereit ist? Ein schlechtes Geschäft, meinten Skeptiker. Doch die Fans belehrten sie eines Besseren: Zwar zahlte nach externen Beobachtungen kaum die Hälfte aller Käufer. Die andere Hälfte aber zum Teil viel zu viel, so dass das Album trotzdem auch kommerziell ein Erfolg wurde.

Wie aber kommt diese unterschiedlich ausgeprägte Bereitschaft, zu zahlen? Was sich bei Käufern im Gehirn abspielt, wollten Wissenschaftler der Uni Bonn im Experiment ermitteln. 25 Teilnehmer steckten sie in einen Hirnscanner, dort hörten die Probanden einen Ausschnitt aus einem Musikstück, anschließend sollten sie entscheiden, ob sie das dazugehörige Album kaufen wollten oder nicht. In einigen Fällen durften die Versuchspersonen dabei entscheiden, wie viel Geld sie ausgeben wollen. Unabhängig vom gezahlten Betrag würden sie die Musik aber auf jeden Fall behalten dürfen. Für die Gegenprobe hatten die Forscher einen Fixpreis festgelegt, dessen Höhe den Teilnehmern nicht bekannt war. Die Probanden konnten ihren Kaufpreis vorschlagen, wussten aber, dass sie das Album nur bekommen, wenn ihr Vorschlag über dem Festpreis liegt.

"Im Fixpreis-Szenario fanden wir Aktivierungsmuster, die genau unseren Erwartungen entsprachen", erklärt Sebastian Markett von der Abteilung Differentielle und Biologische Psychologie: "Direkt beim Hören des Musikstückes wurden bei den Probanden bestimmte Hirnstrukturen aktiv, die zum sogenannten Belohnungssystem zählen." Je besser den Teilnehmern ein Stück gefiel, desto stärker fiel diese Aktivierung aus. Mit deutlichen Folgen: "Desto höher war im Anschluss die Summe, die sie für das Album boten."

Der Musikgenuss bestimmte also, wie viel die Musik dem Käufer wert war. Anders sah es dagegen aus, wenn die Teilnehmer nach dem Hören des Stücks erfuhren, dass sie über den Preis selbst bestimmen können. In diesen Fällen ließ sich aus der Aktivierungsstärke des Belohnungssystems nicht auf die Summe schließen, die die Probanden später zahlen würden. "Stattdessen lief bei ihnen eine Gehirnregion zu Höchstform auf, die auf visuelle Reize reagiert, die eine soziale Komponente beinhalten", wie Simon Waskow erklärt, der die Studie mitverfasst hat.

Die Folge: "In die Entscheidungsfindung wurden nun nicht mehr nur ökonomische Überlegungen, sondern auch soziale Erwägungen wie eben der Fairness-Gedanke einbezogen." Der Preis, der niedriger sein könnte, steigt nun dadurch, dass niemand sich nachsagen lassen will, er zahle zu wenig. 

Mittwoch, 2. November 2016

Eric Fish: Mit leichter Hand


Der in Halle aufgewachsene Subway-to-Sally-Sänger Eric Fish schlüpft auf seinem sechsten Solo-Album wieder in das Gewand des Liedermachers.

Wenn seine Band antritt, dröhnen die Drums, die Gitarren gellen und allerlei atemberaubende Blasinstrumente sorgen für einen unverwechselbaren Sound. Subway to Sally, vor 26 Jahren in Potsdam gegründet, sind die Superstars des Mittelalter-Metal, die ungekrönten Könige einer Musik, deren Fans am liebsten Schwarz tragen und die Lieder ihrer Lieblingsbands immer auch als Lebenshilfe begreifen. Laute Musik vertreibt die Sorgen des Alltags. Und die besonders metaphernreichen Texte laden zum Grübeln und Sinnieren.

Dabei bleibt es auch, wenn Subway-Sänger Eric Fish auf Solopfaden wandelt. Der in Halle aufgewachsene Musiker, der eigentlich Erik-Uwe Hecht heißt, tut das seit 1999 regelmäßig. Und was anfangs aus dem Versuch bestand, Klassiker wie "Find the coast of freedom" oder "Ehrlich will ich bleiben" für ein neues, jüngeres Publikum zu retten, ist unterdessen längst ein zweites, festes Standbein des 46-Jährigen geworden. 


Die meist originell ausgewählten und in ebenso exakten wie gefühlvollen Interpretationen dargebotenen Coverversionen hat Fish auf "Zugabe" genannte EPs verbannt. Auf den richtigen Solo-Alben dagegen gibt es richtige Solostücke, selbst geschrieben und mit der bewährten Mannschaft Uwe Nordwig, Gerit Hecht und Rainer Michalek eingespielt. Aufgenommen wird nicht mehr live, sondern im Studio.

Im Gegensatz zu Subway to Sally, wo Fishs prägnante Stimme flankiert wird von einem Orkan aus Sounds, Rhythmen und Riffs, geht es bei Fish solo aber immer noch ruhig zu. Auch "Mahlstrom", das neue Album, macht da keine Ausnahme, obwohl Fish, der bis zur vierten Klasse in Halle lebte und heute als einziger Ex-Hallenser in der ersten Rockliga mitspielt, hier erstmals fast durchgehend einen Drummer beschäftigt.

Die Musik ist dennoch eher leise als laut, klassische Liedermacher-Kost mit flirrenden Akustikgitarren und schönen Melodiebögen. Fish schreibt zu seinen Melodien, die bei "Kreuzfahrt" mal arabisch, bei "Rad" dagegen eher irisch wirken, Texte, die nach den Herzen der Zuhörer greifen. Das Leben und die Liebe, der Jammer und der Triumph, für jedes Gefühl findet der studierte Maschinenbauer genau die richtige Ausdrucksweise.

Und die richtigen Kollaboranten. Johanna Krins, Sängerin der bayrischen Folkband Delva, singt beim finalen "Schlaf" mit und spielt zudem bei weiteren Stücken Klavier. Bei "Geben und Nehmen" schließlich treffen zwei Hallenser aufeinander: In der biblischen Geschichte um Kain und Abel teilt sich Eric Fish den Gesang mit Ralf Schmidt alias Falkenberg, dem anderen kantigen Singer/Songwriter aus der Händelstadt, mit dem er ab Ende des Monats auch auf Deutschland-Tournee unterwegs sein wird. Gemeinsam machen die beiden hier Front gegen Egoismus und Eigensucht, gegen die "gierige Hand", die den Armen nimmt und den Reichen gibt. "Was du nicht willst, das dir getan, das tue auch nicht anderen an", heißt es da.

Ein Schlüsselsatz, so alt wie die Idee zu dieser Musik hier, die im besten Sinne klassisch ist, ohne Allüren und modische Tricks. Eric Fish ist im Grunde ein Bänkelsänger, der sowohl melodisch als auch inhaltlich immer wieder zu überraschen weiß, indem er Bedeutungen gegen Erwartungen kippt. Die Band musiziert, als säße sie in einem kleinen Klub, Fish singt aus vollem Herzen, der Sound ist warm und weich, ein Kuschelzimmer aus Noten und Fishs Grübeltexten, in denen der Hörer immer wieder neue Bedeutungsebenen entdecken kann.

Konzerttermine hier:
www.ericfish.de
www.falkenberg-musik.de