Samstag, 8. März 2025

Wolfgang Schnur: Das letzte Interview



Wolfgang Schnur redet gern. Aber er kann auch schweigen. Zumindest diesen einen, kleinen Moment lang, der sich in seinem Berliner Kellerbüro dehnt und dehnt und dehnt, während Wolfgang Schnur mit gesenktem Blick die Auslegware vermisst. Sekundenlang ist er wie gelähmt, schutzlos, stumm und ganz er selbst. Dann aber flackern die wasserblauen Augen wieder, die Arme heben sich, und Schnur schaltet den Wortwerfer an: "Meine Lebensgefährtin hat es nicht mehr ertragen, ihr wurde das zu viel, und so bin ich nun ein Einzelkämpfer."

Eine Rolle, die dem Mann, der beinahe letzter Ministerpräsident der DDR geworden wäre, nicht schlecht gefällt. Dass er ganz oben war und dann abgestürzt ist, tiefer als irgendwer sich vorstellen kann; dass er die Macht verloren hat und den Beruf, sein Vermögen und das schmucke Haus in Hessenwinkel; dass alle Freunde ihm gekündigt haben und sein Ruf ruiniert ist, reichte wohl noch nicht, vermutet der Mann mit dem graumelierten Räuberbart. Schnur gefällt sich im Schmerz. "Ich muss den Kelch ganz austrinken, bis auf den letzten Tropfen." 

Doch Schnur, Ex-Gleisbauer, Ex-Rechtsanwalt, Ex-Parteigründer, Ex-Anwärter auf den Posten des DDR-Ministerpräsidenten und Ex-Stasi-IM, schluckt schwer an der bitteren Brühe, die er sich selber angerührt hat. Aus den höchsten Höhen der Politik, kurz davor, letzter Ministerpräsident der DDR zu werden, ist der Jurist, vermeintliche Bürgerrechtler und Politiker abgestürzt. 

Zehn Jahre später spricht er ausführlich darüber, über sein Leben, seine Sicht der Ereignisse und das, was bleibt. Ihm selbst noch 15 Jahre, die er weit abseits der Öffentlichkeit verbrachte. 

Frage: Lassen Sie uns von vorn beginnen. Kurz vor Ihrem Ziel, die letzte Volkskammerwahl in der DDR zu gewinnen und Ministerpräsident zu werden, sind Sie aufgeflogen. Sie waren Stasi-IM, über viele, viele Jahre. Haben Sie denn wirklich gedacht, dass das nicht herauskommt?

Schnur: Mhm. Ich weiß es nicht. Vielleicht liegt es daran, dass man persönlich diesen Teil einfach ausgeblendet hat. Ich gehörte ja nicht zu denen, die dafür gesorgt haben, dass meine Akten verschwinden. Ich bin sicher, wenn ich das gewollt hätte, hätte ich Möglichkeiten gehabt. Aber ehrlich gesagt habe ich keine Sekunde daran gedacht, überhaupt auf die Idee zu kommen.

Frage: Dass da mal jemand kommt und Ihnen das vorhält?

Ach, wissen Sie, ich weiß das gar nicht genau, was ich dachte. Aber ich glaube, es war eine Art eigene Blindheit. Ich hatte nur ein Ziel – das habe ich immer gesagt: Wenn ich die Möglichkeit habe, frei politische Verantwortung zu übernehmen, dann mache ich das ohne Wenn und Aber. Und genau das habe ich getan. Das steht zweifelsfrei fest. Ich gehe auch davon aus, dass mit mir wesentliche Dinge in Gang gesetzt wurden – vielleicht nicht der erste Schritt zur Währungsunion, aber sicherlich andere wichtige Entwicklungen. Die Allianz für Deutschland war ein entscheidender Faktor, das muss man nennen. Ich glaube, die Markierungspunkte für die Einheit Deutschlands – nicht nur die formale Einigung – wurden auch durch die Person Helmut Kohl verkörpert. Durch ihn ist vieles zusammengekommen. Das wird oft übersehen. Aber ich war ja derjenige, der für den Demokratischen Aufbruch in einer schwierigen Anfechtungsphase stand. Damals habe ich klare Positionen bezogen. Das führte etwa dazu, dass Pfarrer Schorlemmer sich zurückzog und mir  Vorwürfe von Rechtslastigkeit gemacht wurden. Man muss das nüchtern betrachten: Nachdem es kein einheitliches Wahlbündnis gab, haben sich die neuen Kräfte nicht zusammengeschlossen. Jeder wollte seine eigene Geschichte schreiben, jeder glaubte, er würde siegen. Das war dann nicht mehr diese gemeinsame Euphorie. Es hatte viel mit Macht zu tun – das muss man klar sagen. 

Frage: Sie meinen, Sie haben sich bemüht, ein Wahlbündnis zu schaffen?

Schnur: Ja, genau. Für den Demokratischen Aufbruch kann ich sagen: Wir haben lange versucht, die neuen Kräfte zusammenzubringen. Ich glaube, das scheiterte letztlich an der damaligen SPD. Die hatte mit 75 bis 80 Prozent in den Befragungen so ein Gewicht, dass sie nicht teilen wollte. Dann fielen bei mir politische Entscheidungen: Ich sagte, gut, dann wenden wir uns der CDU zu. Das passte von der Programmatik und meiner eigenen Einstellung her. Für uns im Osten war das alles völlig neu, aber ich habe mich schnell zurechtgefunden. Man musste Allianzen schmieden – nicht nur die Allianz für Deutschland, sondern persönliche Allianzen. Die richtigen Leute an die richtigen Stellen setzen. Wir waren Lehrlinge in diesem Geschäft, und das zeigte sich auch in der Allianz für Deutschland: Es gab Eitelkeiten. Nicht nur die Frage, wer besser mit Helmut Kohl kann, sondern wer sich durchsetzt. Ich bekenne mich dazu: Der Auftritt in Halle mit meiner großen Rede und der Ankündigung, hier stehe der nächste Ministerpräsident, das war ein wichtiger Ausgangspunkt, wo ich meine Ziele manifestiert habe. Ich sagte immer, ich will Ministerpräsident werden – das habe ich in dieser historischen Stunde gesehen.

Frage: Stehen Sie dazu auch heute noch?

Schnur: Ja, absolut. Wenn man ein politisches Amt ausübt, muss man den Menschen sagen, was man will. Die Wähler sollten wissen, woran sie sind. Allerdings fehlten uns damals viele Beurteilungsfähigkeiten. Wir dachten, die wirtschaftliche Lage der DDR sei nicht so marode, wie sie dargestellt wurde – oder wie sie sich später herausstellte. Ich glaube, der Demokratische Aufbruch hatte ein Wahlprogramm, das einem Marshallplan für die DDR entsprochen hätte. Ehrlich gesagt bedauere ich, dass ich daran nicht stärker beteiligt war. Mit meinen Kontakten zur Wirtschaft hätte ich das vielleicht voranbringen können.

Frage: Haben Sie das damals beobachtet, oder saß der Schock danach so tief?

Schnur: Ich könnte mir vorstellen, dass andere sich zurückziehen und konsterniert sind, wenn so etwas passiert. Aber ich muss sagen: Erstens war ich über ein Jahr lang krank. Ich bin an der ganzen Situation zusammengebrochen – Herzinfarkt oder nicht, es war pure Erschöpfung. Ich hatte mich nie geschont. Von einer Veranstaltung zur nächsten, immer unterwegs. Dabei habe ich Menschen kennengelernt, die jahrzehntelang im Stillen für andere da waren. Meine Haftbesuche waren keine großen öffentlichen Aktionen. Vielleicht kam mal ein Prozess in die Öffentlichkeit, aber meist durch den Westen. Stille Diplomatie war oft notwendig. Ich habe neulich Zeitungsartikel gefunden, die belegen, dass ich etwa 30.000 Menschen in den Westen gebracht habe, ohne dass sie die Qual einer Inhaftierung durchmachen mussten. Es setzt bitter an, wenn mir dann die Anwaltszulassung wegen angeblicher Verletzung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit entzogen wird. Für mich stellt sich die Frage: Was war wichtiger – Menschen davor zu bewahren, zugrunde zu gehen, oder sie vor Haft zu schützen? Für mich ist das eine klare Sache.

Frage: Würden Sie sagen, diese Kontakte waren damals ein Mittel, um Verbündete zu gewinnen?

Schnur: Ich bin freiwillig meine Verbindung zur Staatssicherheit eingegangen. Es war eine bewusste Entscheidung.

Frage: Aber Sie haben mal gesagt, Sie seien sehr jung gewesen...

Schnur: Ja, sehr jung. Aber das hatte einen anderen Hintergrund. Ich wuchs als Vollwaise in der DDR auf. Mit 16 fand ein Kinderarzt, ein Freund meines Vaters, heraus, dass meine leibliche Mutter noch lebt – im Westen der Bundesrepublik. Das war ein Schock: Mein ganzes Leben hätte anders sein können! Ich hatte eine starke Bindung zu meinen Pflegeeltern, aber der plötzliche Tod meines Pflegevaters war ein Bruch. Meine Pflegeeltern waren ehrlich: „Dass du bei uns bist, ist eine Folge des Krieges.“ Ich erlebte am eigenen Leib, was Krieg anrichtet. Aber da war die Sehnsucht, meine leibliche Mutter kennenzulernen, war da, aber ich dachte: Sie hätte ja kommen können, es war ihr nicht verwehrt. Kurz vor dem 13. August 1961 ging ich über Westberlin zu ihr. Dann wurde ich krank und blieb bis Oktober 1962 dort. Plötzlich hatte ich das Bildungssystem der BRD vor mir. In der zehnten Klasse nannte ich meinen Geschichtslehrer einen Nazi, weil er die Geschichte anders darstellte als in der DDR. Das führte zu Konflikten. Letztlich landete ich wieder in einem Heim im Westen. Meine Mutter hatte Angst, die Spannung war zu groß. Ich war für sie ein wandelnder Vorwurf, auch wenn ich das nicht wollte. Erst 1993, an ihrem Sterbebett, kam es zur Versöhnung. Sie konnte mir nicht sagen, dass sie mich liebt, aber sie tat viel für meine Kinder. Später erfuhr ich, dass sie Jüdin war – das war bitter. Sie muss Qualvolles durchgemacht haben. Dieser Spannungsbogen trieb mich damals jedenfalls zurück in die DDR. Dort wurde ich kontrolliert, musste mich bewähren und landete im Gleisbau. Aber das war für mich eine tolle Zeit: Ich war wissbegierig, las viel, zeigte politisches Interesse. In der Pionierorganisation und FDJ war ich immer vorne dabei. Ich vermute, das hat tiefe Wurzeln in meiner jüdischen Herkunft. 

Frage: Werfen Sie sich heute Fehler vor?

Schnur: Über die Jahre mit dem Ministerium für Staatssicherheit kann ich nicht sagen, dass alles fehlerfrei war. Das wäre naiv. Ich erkenne heute, dass meine Tätigkeit auch missbraucht wurde – das kann ich nicht wegdiskutieren. Deshalb stehe ich dazu. Wenn ich mich zum Grundgesetz der Bundesrepublik bekenne, ist das eine klare Entscheidung. Dann sollten andere darüber urteilen – vor allem die Wähler, wenn ich mich zur Wahl stellte. Ich finde es fatal, dass führende Funktionäre des ZK und Politbüros anders behandelt wurden als Menschen wie ich oder andere, die nur ein kleiner Teil des Systems waren, ohne Machtentscheidungen zu treffen. Wir haben in dieser Diktatur gelebt, die heute fast verleugnet wird.

Frage: Wie sehen Sie das?

Schnur: Wenn man jemanden wie mich in die IM-Situation stellt, frage ich: Wer hatte damals den Lösungsweg? Wie kommt man in den Westen, ohne kriminalisiert zu werden? Ohne die Staatssicherheit war das kaum möglich. Man musste jemanden mies machen, um ihn rauszubringen. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass das MfS durch mich Informationen über kirchliche Begegnungen bekam. Deshalb sage ich: Man muss sich zur persönlichen Schuld und Verantwortung bekennen. Ich stelle mich jedem fairen Verfahren. Es wurde ja auch eines geführt – rechtskräftig, nicht wegen politischer Verfolgung, sondern nach dem Strafgesetzbuch der Bundesrepublik. Fatal finde ich, dass Originalunterlagen, die mich hätten entlasten können, nicht beigezogen wurden. Ich wurde verurteilt, habe die Bewährungsstrafe verbüßt und muss das akzeptieren. Aber die Bitterkeit über den Entzug meiner Anwaltszulassung bleibt. Das führt zu inneren Spannungen und Kämpfen. Dennoch darf ich nicht so anfangen wie früher und sagen: „Das war alles nicht so, ich wurde gezwungen.“ Das wäre Unsinn. Sehen Sie Joschka Fischer, der für sich in Anspruch nimmt, mit seiner Vergangenheit gebrochen zu haben. Wenn man sich zu seiner Sache bekennt, sollte die andere Seite Respekt zeigen und nicht das Unmenschliche herausstellen. Aber es wird eben weiter mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen.

Frage: Ihre Akten sind also ein Beweis?

Schnur: Ja, ich bin froh, dass sie existieren. Sie dokumentieren die komplizierte politische Situation in der DDR. Besonders ab 1975 wurde meine Zusammenarbeit mit dem MfS intensiver – etwa nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976. Da stand ich vor der Frage: Gehe ich diesen Weg weiter? Ich traf Menschen mit anderen politischen Auffassungen – Brandt-Anhänger, die einen sozialdemokratischen Sozialismus wollten, eine bessere DDR. Ich fragte mich: Wenn ich jetzt aussteige, verliere ich vielleicht meine Anwaltszulassung. Das war eine reale Angst. Ursprünglich wollte ich gar kein Jurist werden, sondern in die politische Laufbahn – Nachfolger von Egon Krenz, wenn man so will. Aber das Schicksal kam dazwischen: Meine Mutter lebte plötzlich in der BRD, und ich erfüllte die Nomenklatur nicht mehr. Das war ein klarer Bruch in meinem Lebensplan, in der DDR Politik auf höchster Ebene zu machen. Ich glaubte damals an den Frieden – beeinflusst durch meine persönliche Situation, den Verlust meiner Eltern, meinen Status als Vollwaise. Meine Lehrer zwischen der sechsten und achten Klasse förderten meine Gaben. Ich legte mich mit dem Schulleiter an, weil er keine angemessene Rede zum 8. Mai hielt, dem Tag der Befreiung. Das prägte mich. Bis heute meine ich: Wir brauchen Menschen, die sich für die Gesellschaft verantwortlich fühlen, Abgeordnete werden, Ziele setzen. In der DDR wurde ich systembedingt zu einem Werkzeug – das will ich nicht übersehen.

Frage: Haben Sie in den 60ern oder frühen 70ern gedacht, Sie benutzen die Staatssicherheit? Oder merkten Sie, dass sie Sie benutzen?

Schnur: Damals hatte ich den Irrglauben, ich würde sie brauchen. Die Beweise zeigen: Durch meine Tätigkeit kamen Menschen nicht zu Schaden, wurden nicht inhaftiert. Das ist ein Ergebnis. Aber heute sehe ich: Es war ein fataler Irrtum, zu glauben, ich hätte sie benutzt. Sie haben mich gebraucht – und auch die evangelische Kirche der DDR brauchte mich. Durch meine pazifistische Haltung lehnte ich Gewalt ab. Ich wollte keine Inhaftierungen, sah auch die Volkspolizisten als Menschen unseres Staates. Deshalb reiste ich durchs Land, hielt Vorträge – mir gehörte die ganze DDR. Denken Sie an Lothar Rochau in Halle-Neustadt, eine wichtige Figur. Vor 2.000 jungen Menschen sprach ich in der offenen Jugendarbeit – man hörte die Stecknadel fallen. Mein Charisma trug dazu bei, jede Konfrontation mit dem Staat zu vermeiden, die zu Inhaftierungen oder Nachteilen führen könnte. Ich wollte, dass die Bürger ihre Rechte nach der Verfassung nutzen.

Frage: Sie sagten, die Diktatur werde inzwischen geleugnet. Was meinten Sie damit?

Schnur: Ja, in der historischen Betrachtung der DDR wird das für mich verleugnet. Die Verfassung legte klar fest, dass die SED die Macht hatte – eine Diktatur. Das war mein Ausgangspunkt in Vorträgen, dokumentiert auf Tonbändern in kirchlichen Stellen. Es ging darum: Wie können wir Bürgerrechte wahrnehmen? Wie ermutigen wir die Menschen? Die Kirche wollte, dass die Leute in der DDR bleiben – dafür mussten wir sie stärken, etwa Eltern in Schulfragen oder bei der vormilitärischen Ausbildung. 1978 stieg ich intensiv in die Wehrdienstverweigerung ein – ein Thema, das mich vorher nicht beschäftigte. Junge Christen, Pazifisten oder politische Ausreisewillige kamen auf mich zu. Ich kämpfte gegen das MfS: „Ihr sperrt junge Menschen ein, die Minister werden könnten!“ Im November 1985 gelang es – keiner meiner Wehrdienstverweigerer oder Bausoldaten wurde mehr inhaftiert, selbst wenn sie sich erst kurz vor der Einberufung erklärten. Das war ein politischer Sieg, auch weil die DDR es sich nicht mehr leisten konnte, anders zu handeln. 

Frage: Sie verteidigen sich also damit, dass Sie viel Gutes bewirkt haben...

Schnur: Ich bin froh, dass meine Akten da sind. Sie belegen, wie ich etwa in Güstrow Wehrdienstberatungen abhielt. Die Teilnehmer meldeten den Wehrkreiskommandos ihre Haltung – wenn das nicht geschah, sagte ich: „Geht hin, erklärt es.“ So wurde mancher Einberufungsbefehl zurückgenommen. Bis zum Ende der DDR wurde kein Wehrdienstverweigerer mehr inhaftiert – das ist aktenkundig. Das MfS war bis zuletzt misstrauisch gegen mich. Ich hatte eine Autorität erreicht, die sie störte. Sie wollten keine Konfrontation zwischen Staat und Kirche – für die SED war die Kirche außenpolitisch wichtig, nicht innenpolitisch. 

Jedes politische Verfahren brachte der DDR Minuspunkte. Sie mussten meine Arbeit dulden, weil der Gewinn größer war. Ein Beispiel: Als junge Leute der Umweltbibliothek in Berlin inhaftiert wurden, übernahm ich ihre Verteidigung. Es gab ein Hin und Her – Hardliner wollten sie drinnen behalten. Bei einer kirchlichen Veranstaltung erklärte ich: „Die Generalstaatsanwaltschaft lässt das Verfahren fallen.“ Das hätte schiefgehen können, aber in dieser Umbruchsituation klappte es – sie kamen frei. Ähnlich war es bei den Rosa-Luxemburg-Demonstrationen im Januar 1988. Da gab es koordiniertes Zusammenwirken zwischen Bundesregierung, Kirche und MfS. Ich sagte: „Ihr macht ein Eigentor.“ Das führte zu politischen Lösungen, wie der England-Variante, nach der die Betroffenen ausreisten, aber nicht für immer und nicht nach Westdeutschland. Das MfS ärgerte sich, wenn ich ihre Ergebnisse anzweifelte. Ich sagte: „Wenn ich überzeugt bin, dass etwas nicht stimmt, lasse ich mir nichts anderes einreden.“ Das ließ mich glauben, ich benutze sie – heute sehe ich klar: Sie haben mich missbraucht. Ich würde nie zögern, es zuzugeben, falls jemand durch meine Informationen inhaftiert wurde. Aber selbst Rainer Eppelmann schreibt in seinem Buch, dass ich mit allen Mitteln dafür kämpfte, Menschen vor dem Einsperren zu bewahren. 

Frage: Manche, die Sie halfen, fühlen sich heute trotzdem von Ihnen verraten.

Schnur: Das muss man mit Verständnis sehen. Bei Freya Klirr und Stefan Krawczyk differenziere ich: Krawczyk wusste 1988, worum es ging – er wollte seine Frau schützen, was ich respektierte. Ich wollte, dass sie das Land verlassen, weil es keine andere Lösung gab. Niemand dachte damals an die deutsche Einheit. Die Bedingungen damals muss man betrachten. Ich bedauere, dass die Originalakten der beiden in meinem Verfahren nicht einbezogen wurden – sie beweisen, dass nicht ich ihre Ausreise bewirkte, sondern Professor Vogel im Beisein von Bischof Forke. Das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen kann das bestätigen – Frau Williams sagte mir: „Sichern Sie allen, die in den Westen wollen, unsere Hilfe zu.“ In Friedrichsfelde 1988 war die Situation heikel: Antragsteller wollten zu Vogels Büro, umzingelt von Polizei. Ich sagte: „Seid ihr wahnsinnig? Das eskaliert!“ Mit Stolpe nahm ich Listen auf – im Konsistorium wurden sie geschrieben und die Leute in den Westen geleitet.

Frage: Mussten Sie der Stasi immer erklären, was Sie tun, damit sie Sie weitermachen lassen?

Schnur: Ich hatte ein freundschaftliches Verhältnis zu meinem Führungsoffizier in Berlin – ein Vertrauen war gewachsen. Er wollte keinen Konflikt zwischen Staat und Kirche, keine Gewalt. Er sagte: „Wenn du dich für uns einsetzt, finden wir Lösungen.“ Bis September 1987 funktionierte das. Dann änderte sich die innenpolitische Lage, und ich vertraute ihm zu lange. Nach den Kommunalwahlen 1989 sagte ich: „Jetzt muss sich etwas ändern.“ Aber niemand dachte damals an ein einheitliches Deutschland – die Zwei-Staaten-Lage war fest in uns verankert. Das trieb mich, eine politische Formation zu unterstützen. Im Sommer sagte ich bei einem Treffen: „Wenn ich frei politisch wirken kann, mache ich das.“ Das MfS wusste davon – es steht in meinen Akten. Sie wollten mich davon abhalten, eine Führungsposition einzunehmen. Doch die Ereignisse überrollten das – etwa als im September 1989 junge Menschen in Leipzig inhaftiert wurden. Ich kämpfte: „Ihr habt nichts Unrechtes getan, wir ziehen das durch.“ Sie kamen frei. Die Bahnhofsgewalt in Dresden, die Ablösung Honeckers – das zeigt: Ich wollte keine Schuld mindern, sondern fand es absurd, dass Menschen, die legal in den Westen wollten, angeklagt wurden. Ich setzte mich ein, dass das nicht geschah.

Frage: Geben Sie sich selbst die Schuld, dass es so kam?

Schnur: Hätte ich früher den Schritt machen sollen und sagen, wie es war. Aber damals konnte ich das nicht. Anfang März 1990 zog ich die Konsequenz, um ein politisches Desaster zu verhindern. Es war meine Entscheidung – auch, weil eine Lebenslüge wegbrach. Ich dachte nur an mein Ziel: den Wahltag, den Höhepunkt. Hätte ich in Berlin gesagt: „Macht meine Akten weg“? Nein, ich war so beseelt von dem, was ich tat – vom stillen Kampf im Gerichtssaal zur Rede vor Massen in Erfurt und Halle. Diese Euphorie packte mich. Ich merkte: Ich kann das. Ich habe das Positive meiner Arbeit stärker gesehen – was sollte mir schon passieren? Erst als die Akten in Rostock auftauchten, dachte ich an Rückzug. Ich wollte der Sache keinen weiteren Schaden zufügen.

Frage: Dachten Sie, das lässt sich wegdiskutieren?

Schnur: Nein, als die geballten Akten da waren, sah ich die Konsequenz. Bis dahin glaubte ich daran. Ich hinterlasse Eindruck, weil ich nie zweifele, wofür ich kämpfe. ich glaube wirklich, was ich tue. Aber Politik ist nüchterner, schärfer, manchmal makaber – das sehe ich heute. Ich würde morgen wieder Verantwortung übernehmen, ohne Wenn und Aber.

Frage: Was denken Sie heute über die DDR-Führung?

Schnur: Die hat der jungen Intelligenz keinen Weg geebnet. Honeckers Erfahrungen aus der Hitlerdiktatur prägten ein starres Feindbild – eine neue philosophische Betrachtung war ihnen nicht möglich. Die Dogmatiker an den Parteischulen hielten am Alten fest, selbst als Gorbatschow den Wandel versuchte. Warum die Jungen keinen Aufstand machten? Die Machtstrukturen waren zu fest. Ein Kartenhaus muss komplett fallen, nicht nur ein Teil. Wir Ostdeutschen haben den Nachteil: Wer sich zur Vergangenheit bekennt, wird geprügelt, während Leugner Vorteile genießen. Ich zweifle, ob wir das politische System der DDR wirklich aufgearbeitet haben.

Frage: Haben Sie nach Ihrem Rücktritt noch einmal mit Helmut Kohl gesprochen?

Schnur: Nein, gar nicht. Ich zog mich zurück. Er machte keine Hässlichkeiten, keine Vorwürfe. Er verstand, wie man zu so einer Biografie kommt, und bewahrte mich vor Vorwürfen. Ich habe nicht geheuchelt, sondern wie ein Wahnsinniger gearbeitet – von Veranstaltung zu Veranstaltung. Mit ihm hatte ich ein gutes politisches und menschliches Verhältnis. Die Allianz für Deutschland, die außenpolitischen Gespräche mit Genscher und der Sowjetunion – das war auch mein Verdienst.

Frage: War Ihre Wahl als Spitzenkanddiat ein taktischer Schachzug mit Kohl?

Schnur: Nein, gar nicht. Das war ein historischer Selbstlauf, getrieben von der Bürgerrechtsbewegung. Als es soweit war, war ich war machtgierig, blendete dmeine Geschichte aus. Hätte ich gesagt: „Ich habe zwei Gesichter, gebt mir eine Chance“, hätte mein Charisma vielleicht überzeugt. Aber so fragte man  mich nicht: „Erläutere uns das.“ Dabei zeigen die Akten zeigen alles. Es war ein Verdienst vieler, dass die DDR keinen Bürgerkrieg wie Jugoslawien erlebte. Das MfS wurde zahm – ein Beweis, dass Kräfte politische Veränderung ohne Gewalt wollten. Zu denen gehörte ich. Aber ich hätte früher mit dem System brechen sollen. 

Frage: Wie empfanden Sie mit dieser Erfahrung Kohls späteren eigenen Absturz nach so vielen Jahre, in denen er als Einheitskanzler und großer Staatsmann gewürdigt worden  war?

Schnur: Als Tragik. Ich kenne das selbst. Er war redlich, aufrichtig. Wir tragen alle ein anderes Ich in uns. Er wollte nichts Unrechtes, sondern das Beste fürs Land. Doch man übersieht eigene Fehler. Er war nicht bestechbar – da bin ich sicher. Seine Politik aus dem Bauch, besonders für Europa, war beeindruckend. Ich empfand es als schmerzlich, nicht mehr mitgestalten zu können – ich verlor viel. Ihm wird es ähnlich gegangen sein.

Frage: Wie haben Sie selbst ihren Fall verarbeitet?

Schnur: Es war ein Fegefeuer, aber ich bin bei Gott geblieben und habe gesagt: Wer weiß, wozu er mich braucht? Ich bekenne mich zum evangelischen Glauben. Mein Freund aus Israel ist Jude – durch Aufenthalte dort spüre ich eine Wurzel. Für mich ist Gott existenziell: Er holte mich aus Tiefen, dafür bin ich dankbar. Es gab Momente, wo ich sagte: „Es reicht.“ Besonders belastend war das für meine Familie. Doch ich glaube, Gott gibt mir Wegweisung. Ich arbeite jetzt viel in Thüringen mit meinem gemeinnützigen Verein und ich sehe, wie Menschen Hoffnungen mit mir verbinden – ohne Umschweife. In den letzten zehn Jahren überwiegt das Bekenntnis zu meiner Arbeit die Kriminalisierung. Die Kritik ist laut, weil sie Zugang zur Öffentlichmkeit hat. Joachim Gauck etwa will nicht einsehen, dass ich seinen Söhnen den Weg in den Westen ebnete – ohne Inhaftierung. Das war nur mit der Staatssicherheit möglich. Das Lob ist leise, aber ich bin es zufrieden.

Frage: Gibt Ihnen das Kraft, noch einmal zurückzukehren, wohin auch immer?

Schnur: Warum nicht? Ich denke politisch, lebe politisch. Ich würde zurückkehren, wenn ich wirtschaftlich unabhängig bin. Mein Haus soll zwangsversteigert werden, ich habe Schulden durch Fehlinvestitionen – weil ich Menschen vertraute. Aber das ist nicht mein Grundproblem. Es macht mich verantwortlich für die Nöte Arbeitsloser, Schwacher. Wir sind keine Gesellschaft für die Schwachen – die Starken haben Chancen. Ich sehe Potenzial für neue politische Verhältnisse. Das Parteienspektrum ist in alten Mustern gefangen, ohne Anstand im Umgang mit Gegnern.

Frage: Haben Sie Rechte am Demokratischen Aufbruch? Am Namen?

Schnur: Nein, ich glaube nicht. Aber ich denke darüber nach, eine neue Bürgerbewegung zu gründen – wo Kapital, Arbeit und Mensch in Verantwortung stehen. Deutschland hat Reichtum – wir könnten Arbeit schaffen, soziale Verantwortung wahrnehmen, Osteuropa stärken. Ich würde ein Parteiamt anstreben, aber erst muss ich meine Verhältnisse ordnen. Mein Hauptziel ist die Rückkehr meiner Anwaltszulassung – dazu müssen meine Schulden weg. Selbst dann wäre es schwer, denn ein Anwalt darf nicht in Vermögensverfall geraten. Meine juristische Arbeit in der DDR war top – das sagen Kollegen heute noch. Sie war ein Mittel, mit dem MfS Dinge anzugehen. Recht und Seelsorge hängen für mich zusammen – Menschen brauchen das heute mehr denn je. Ich hätte Zulauf, mit Leidenschaft als Jurist. Das ist ein Geschenk Gottes.

Frage: Hat Gott viel Mühe mit Ihnen?

Schnur: Ja, doch. Aber er war liebevoller zu mir als andere. Die Kirche hätte zehn Jahre später sagen können: „Er hat sich gewandelt.“ Stattdessen Blockaden. Sie weiß, wie kompliziert es war, Menschen in der DDR zu halten oder gehen zu lassen – etwa durch Grundstückskäufe oder Devisen. Sie hätte eine stärkere Rolle spielen sollen. Ich wollte, dass Menschen nicht zerbrechen, dass die DDR sozial gerechter wird. Eitelkeiten waren da, aber auch Ideale. Ohne Ideale kann man heute nicht politisch wirken. Die Verfasser des Grundgesetzes hatten Weitsicht – daran würde ich für eine neue Kraft anknüpfen. Menschenwürde umsetzen, nicht nur appellieren – das ist entscheidend.

Frage: Wie sah das im Alltag aus? Wie war Ihr Terminkalender in der DDR?

Schnur: Ich habe 16 bis 18 Stunden gearbeitet. Mir gehörte die DDR – das war mein Lebensgefühl. Ich fuhr zu allen Bezirksgerichten, von Meiningen bis Halle. Dort half ich Antragstellern, Inhaftierten. Für die war ich ein Lichtstrahl – jemand schrieb, ohne mich wäre er nicht mehr am Leben. Man kann mich Stasischwein nennen – mir ist wichtiger, dass meine Arbeit sich gelohnt hat. Die Sprache in den Protokollen war nicht meine – das MfS brauchte ihr Vokabular. Ich stellte Leute als Staatsfeinde dar, damit sie raus konnten. Je schlimmer, desto besser.

Frage: Wann sahen Sie Ihren Führungsoffizier zuletzt?

Schnur: Im Oktober oder November 1989. Ein Rostocker Offizier lieferte mich ans Messer – ich verstehe ihn. Es brachte ihn aus dem Konzept, dass ich die Macht ergreifen wollte. Verwunderlich, dass es so spät passierte. Ende 1989, Anfang 1990 wehrte ich mich noch. Erst als die Akten da waren, zog ich zurück.

Frage: Was sagt Ihre Familie heute zu all dem?

Schnur: Ich bin jetzt Einzelkämpfer. Meine Partnerschaft ist daran zerbrochen – ein schwerer Punkt. Meine erste Frau und Kinder waren genauso überrascht. Gespräche im Nachhinein? Ja und nein – es ist zu schwierig, auch durch das Zerrbild der Medien. Ich erkläre es ihnen, bekenne mich dazu. Meine Kinder spürten doch meine harte Arbeit – ich war immer unterwegs, um Menschen zu helfen. Öffentlich darüber zu reden zeigt, dass ich zu meiner Biografie stehe. Für mich selbst halte ich Biografisches fest – kein Buch, es hat noch keinen Titel. Vielleicht „Ich bin’s gewesen“, um dem Leugnen etwas entgegenzusetzen. Ich will Verständnis erlangen und verhindern, dass andere in solche Situationen kommen. Dich sache ist doch: Wie viele Menschen arbeiten heute ehrenamtlich für Verfassungsschutz oder BND? Sicherheit braucht das – aber macht das den Verrat kleiner?

Freitag, 21. Februar 2025

Gerhard Gundermann: "In diese Sekunde müssen wir springen"

Gerhard Gundermann.

Der Sänger, Texter und Baggerfahrer Gerhard Gundermann sang über seine "Grube Brigitta", die pleite war "die letzte Schicht lang schon verkauft". Sein Bagger, der sterbe "in der Heide/und das Erdbeben hört endlich auf." Gundermann, 1955 geboren, war Braunkohlekumpel und Mitgründer der "Brigade Feuerstein", ein scharfzüngiger Texter, melodieverliebter Liedermacher, Kommunist und Stasi-Spitzel, bis er sich vom MfS lossagte und selbst zum Opfer der Überwacher wurde.  

Mit seiner Musik, vor allem aber mit seinen Texten war der gebürtige Weimarer eine der widersprüchlichsten und interessantesten Gestalten der deutschen Musikszene. Eine der wenigen Stimmen des Ostens in der Nachwendezeit, die Gundermann im Örtchen Welzow bei Hoyerswerda verbrachte, verheiratet, Vater einer Tochter und eines Sohnes, und ein hemmungslos optimistischer Skeptiker, der den Tagebau, in dem er lange selbst gearbeitet hatte, allmählich auf sein Haus vorrückten sah. 
Gerhard Gundermann in den 80er Jahren bei einem Solo-Auftritt in Halle.

Mit 37 legte Gerhard Gundermann seine zweite Platte "Einsame Spitze" vor, eine Mischung aus Springsteen, seine große Liebe, und Ostrock. Ihm blieben zum Zeitpunkt des Interviews kaum noch sieben Jahre. Er produzierte drei weitere Studioalben namens "Der 7te Samurai", "Frühstück für immer" und "Engel über dem Revier", spielte endlos und ruhelos viele Konzerte, die nicht immer so voll waren, wie es heute behauptet wird. 

Er steckte das weg, fuhr nach dem Konzert oft hunderte Kilometer nach Hause in die Lausitz, wo er einen Kaffee trank und sich zur Schicht als Maschinist für Tagebaugroßgeräte und später in der Umschulung zum Tischler meldete. Gundermann war kein Star, sondern ein normaler Mann. In seinen Texten kletterte er vom hohen Ross der Welterklärer, er beschrieb das Leben aus der Sicht der kleinen Leute, der Arbeitslosen, der aus der Bahn Geworfenen. Kurz vor seinem Tod arbeitete er noch an einem Projekt mit dem Namen „Das Koffer-Album“ - die Lausitzer Übersetzung von „Cover-Album“. Die CD sollte Springsteen-Songs mit deutschen Texten enthalten, doch es gelang nicht, die Rückübersetzung der Gundermann-Texte zu den Songs des Boss' beim Springsteen-Management genehmigt zu bekommen.  

Mit nur 43 Jahren starb Gerhard Gundermann, genannt Gundi, an einem Schlaganfall. Sein altes Fleischerhemd hat seine Frau verschenkt, aus dem Haus in Hoyerswerda ist sie ausgezogen. Erinnerungen seien kein Stück Stoff, sagt sie. Gundi lebt in seinen Liedern weiter, Liedern aus Tränen und Lachen, Balladen aus der Braunkohlewüste in der Lausitz. Spätestens seit Andreas Scheers "Gundermann"-Kinofilm ist der Mann, der mit 18 von der Offiziersschule flog und sich vom Hilfsarbeiter zum Förderbrückenführer hocharbeitete, erfolgreicher als jemals zu Lebzeiten, ein moderner Klassiker der deutschen Rockmusik. 

Das Interview fand im Januar 1992 statt.

Du hast lange geschwiegen, ehe Deiner Debütplatte "Männer, Frauen und Maschinen" die "Einsame Spitze" folgte. Was hat Dich aufgehalten?

Gundermann: Ja, was eigentlich? Material hatte ich immer und gewollt habe ich auch, klar. Aber ich bin ja auch doof. Gleich nach der Wende bin ich zur Ariola gegangen und habe denen mein Zeug gegeben. Da denkste dann: Wenn ich jetzt bei denen war, darf ich erstmal mit keinem anderen reden, bis die ja oder nee gesagt haben. Die haben aber nicht mal nee gesagt bis heute. So nach einem Jahr habe ich mich dann doch mal anderswo umgehört...

Als einer der letzten deutschen Sänger lässt Du Dir die Bezeichnung "Liedermacher" gefallen...

Gundermann: Ja, obwohl vor einem Jahr oder so immer in der Zeitung stand: Ha, Liedermacher sind jetzt out, weil man kann ja jetzt alles in die Zeitung schreiben. Aber ich habe mich ja nie als Zeitungsersatz verstanden, auch in der DDR nicht. Erstens habe ich immer Lieder gesungen, das hat die Zeitung nicht gemacht (lacht). Und zweitens, auch wenn damals Erich Honecker auf dem Thron saß und heute sitzt da Helmut Kohl - die meisten Dinge auf der Welt funktionieren doch unabhängig davon. Und über die denke ich nach, über die mache ich auch Lieder. Nicht darüber, ob der Honecker nun vor Gericht kommt oder was. Mich interessieren ganz andere Fragen.

Deine Antworten scheinen viele Leute ziemlich zu verstören. Für Deine Forderung, eine "grüne Armee" zu gründen, hast Du Dir gar den Vorwurf eingehandelt, ein "Ökofaschist" zu sein. Meinst du solche Vorschläge ernst?


Gundermann: Mit dem Vorwurf kann ich leben, weil ich sie ernst meine. Grüne Armee ist keine Poesie. Das Schlüsselerlebnis ist für mich ein Fernsehbericht so vor zehn Jahren gewesen. Damals hat der Bundesgrenzschutz in Italien bei der Beseitigung von Erdbebenschäden geholfen - und genau für solche harten Sachen brauchst Du harte Leute. Bloß, dass der Feind nicht die Armee von nebenan, sondern was anderes, viel Schlimmeres ist. Guck Dich doch um: Die Welt geht kaputt. Da hilft keine Kosmetik mehr. Wenn wir die Kurve noch kriegen wollen, dann muss was passieren, dann brauchen wir Armeen gegen die Wüste, müssen wir schleunigst sämtliche Kapazitäten, die im Militär stecken, an diese entscheidende Front werfen. Dazu braucht es natürlich den politischen Willen.

Ist der nicht illusorisch? Sagt das nicht zugleich, dass wir es nicht schaffen werden?

Gundermann: Das weiß ich nicht genau. Früher, da habe ich die beiden großen Weltlager immer als zwei Kämpfende am Fuße eines Berges gesehen. Und vom Berg kommt so ein Riesenbrocken runtergerollt, genau auf die zu. Nun können sie sich entscheiden: Entweder, sie hauen sich weiter und werden überrollt, oder sie tun sich zusammen und versuchen das aufzuhalten. Es ist ganz anders gekommen.

Einer der beiden Kämpfer ist abgetreten.

Gundermann: Und das ist der Punkt. Niemand hätte doch vor fünf Jahren dran geglaubt, dass der Konflikt sich so auflöst. Ich halte jetzt alles für möglich - da hab' ich ja eine gewisse Schule durch. Und deshalb denke ich auch, dass da noch gewisse Möglichkeiten sind. Die westliche Welt ist doch auch im Wandel, das ist doch alles tieferschüttert, das muss man doch sehen.

Du siehst einen Wandel zum Positiven?

Gundermann: Ich bin ein Anhänger der Theorie von der neunten Welle. Die sagt: jede Generation hat 30 Jahre Zeit, ihre Ideale zu verwirklichen, ehe alles anders kommt. Das kannst Du in den USA ziemlich genau nachvollziehen - alle 30 Jahre steigt da ein Demokrat auf den Präsidentensessel, alle 30 Jahre kommt ein Versuch der Erneuerung. Und wir hängen da irgendwie dran. 

Eine Mechanik, ein Automatismus, Zufall oder Gottvertrauen? 

Gundermann: Ich glaube jedenfalls, dass es Zusammenhänge gibt, die ich nicht durchschauen kann, die aber doch funktionieren. Es ist ja objektiv so: Du kannst Gesetze machen wie Du willst, wenn die Leute zu Zehntausenden über die Oder schwimmen, dann musst Du damit leben oder schießen. Und im letzteren Fall führen wir vielleicht in vierzig Jahren wieder Prozesse.

Wie sieht Deine Lösung aus? 

Gundermann: Wenn das Wohlstandsgefälle auf 300 Kilometer Entfernung fünf menschliche Generationen ausmacht - von der Industriegesellschaft bis in den Feudalismus - dann werden die hier herkommen, wenn wir es nicht schaffen, unseren Wohlstand da 'rüber zu exportieren. In der Physik gibt es die einfache Regel vom Wasser, das in verbundenen Gefäßen immer gleich hoch ist. Da kannst Du Wasser sagen oder Wohlstand. Wir, also die ; DDR' waren der erste Schritt, dieses Gefälle auszugleichen.

Triffst du beim Versuch, die ganze Welt so leben zu lassen, wie wir leben, aber nicht auf andere Grenzen?

Gundermann: Ja klar. Deshalb ist das auch nicht möglich. Und weil nicht alle auf unser Wohlstandsniveau hochkommen können, werden wir wohl runtergehen müssen. So, dass es für alle reicht. Wir müssen abgeben, bis sich das alles auf eine Art Nullpunkt eingependelt hat. Lebensstandard wie in Polen meinetwegen. Und das reicht ja zu - denn ein Pole ist ja ein Fürst gegen andere, noch Ärmere.

Wie soll sich soviel Vernunft und Verzicht durchsetzen?

Gundermann: Ich vermute: nur durch Katastrophen. Wenn sich die Klimaveränderungen, die wir ja längst haben, erst auf die Nahrungsmittelversorgung auswirken, dann werden die Leute bestimmt wach. Der Druck der Ereignisse wird uns dann keine andere Wahl als die Vernunft lassen. Ich hoffe nur, dass der Druck der Ereignisse groß genug ist, damit wir reagieren, aber nicht so groß, dass wir nicht mehr reagieren können. In diese geschichtliche Sekunde müssen wir springen, dann müssen wir unsere Konzepte vorholen und Lösungen anbieten können. 

Jetzt spielst Du auf Dein Wendetrauma an?

Gundermann: Wenn Du so willst. Wir haben in der DDR immer an der Macht gesägt, gesägt, gesägt - aber nie gedacht, dass Staat wirklich mal umkippt. Ich hab' zum Beispiel nie für die Schublade gearbeitet. Ich habe immer nur gemacht, was machbar war. Das war falsch. Als dann die Wende kam und die alten Herren gingen und plötzlich alles möglich' war, stand ich mit leeren Händen da. Weil ich blöde war. Das passiert mir beim nächsten Mal nicht wieder. Ich arbeite jetzt vor, damit ich was zu sagen weiß, wenn ich irgendwann gefragt werde.

Wie siehst Du Deine Zukunft und wo Deinen Platz im deutschen Rock- und Popgeschäft? Hat Gundermann noch den Traum von Ruhm und Reichtum bei dem, was er macht?

Gundermann: Ruhm und Reichtum? Bestimmt nicht. Obwohl ich mir natürlich schon wünschen würde, dass alle Leute, die mit dem, was ich mache, etwas anfangen könnten, erstmal erfahren, dass es mich gibt. Das ist noch nicht der Fall, und insofern bin ich natürlich nicht abgeneigt,  etwas berühmter zu werden. Mein Wunsch wäre, zu einem Level kommen, wo man genug Freiheit hat, sich um das Eigentliche zu kümmern, und wo einen nicht ständig irgendwelcher Mist von der Arbeit abhält. Aber eigentlich denke ich mir: Den lieben Gott kannst Du sowieso nicht bescheißen. Und ob ich mich verbiege oder verweigere - es kommt alles, wie es kommt. Ich kann's nicht ändem. 

 Was macht eigentlich Dein anderes Ich, der Baggerfahrer Gundermann? 

Gundermann: Der macht ABM. Unseren ganzen Betrieb haben sie dichtgemacht und zu so `ner Sanierungsfirma umgeschmiedet. Wir reparieren jetzt das, was wir früher kaputtgemacht haben.



Freitag, 17. Januar 2025

Weltfrieden war gestern

Zwei Bilder, dazwischen liegen 40 Jahre. Das linke stammt aus den 80er Jahren, damals stand mitten in Halle ein feines Hotel für die besseren Gäste, das "Weltfrieden" hieß. Der meiste Glanz war längst gewichen, die frühere Pracht verblasst. 

Meist saßen in den weitläufigen Gaststättenräumen schon morgens halb zehn die ersten harten Trinker. Mehrfach war tagsüber Schichtwechsel, manchmal hinter der Theke, manchmal davor. 

Als sich das Land auflöste, dessen Kneipenkultur solche Etablissements prägten, ging es dem "Weltfrieden" erst schlecht und dann immer schlechter. Schließlich wurde das Haus verkauft, es folgte ein Betreiberwechsel und irgendwann blieb die Tür einfach zu. 

Alles, was danach folgte, passierte ohne das "Weltfrieden". Das Haus hat immer wieder den Besitzer gewechselt, nie aber jemanden gefunden, der eine Kelle Zement in die Hand nahm oder irgendetwas reparierte. 

Heute ist das gewaltige Haus - man sieht auf dem Foto nur einen kleinen Ausschnitt - ein Lost Place mitten in der Innenstadt, eine Ruine in the making. Ohne den einstigen Namenszug, aber von oben bis unten mit Graffiti verziert.

Sonntag, 17. November 2024

Wolf Biermann: Plattdeutsches Sächsisch - eine Weltsprache erklärt


Wolf Biermanns berühmte Oma Meume aus dem Lied "Großes Gebet der alten Kommunistin Oma Meume in Hamburg" ist keine Kunstfigur, sondern Biermanns wirkliche Großmutter. Neben dem "Gebet" gibt es ein weiteres Lied namens "Eine Moritat auf Biermann seine Oma Meume in Hamburg", in dem der Liedermacher und Sänger der Frau nachsingt, die als junges Mädchen aus Halle wegmachte nach Hamburg, wie er sagt. "Genauer gesagt, sie ist ihrem Mann hinterhergerannt und hinterhergereist, der abgehauen ist nach Kiel, weil er dort Arbeit finden konnte als Steineträger auf dem Bau." Oma Meume wurde wenig später Hamburgerin - und zweisprachig, wie Biermann sagt.

Neben Sächsisch, wie er den halleschen Dialekt nennt, habe Oma Mäume auch Platt gesprochen. Zuweilen beides sogar gleichzeitig. "Wenn sie vornehm sprechen wollte, sprach sie knüppeldickes, dreckiges Sachsenanhaltinersächsisch, wenn sie aber dreckig sprechen wollte, dann sprach sie Hamburger Platt."

Zwei Sprachen, die auch Enkel Wolf Biermann beherrscht, wie er mit dem Vortrag eines Gedichtes des niederdeutschen Dichters Klaus Groth (auch: Claus Johannes Groth) zeigt. Das hanseatische Platt unterlegt mit dem Anhaltiner Sächsisch der Halloren, das Oma Meume bis an ihr Lebensende sprach. Und wirklich: Bei Wolf Biermann wird daraus die Lingua franca einer längst vergangenen Zeit, als Englisch, Dänisch und Deutsch noch gemeinsam in der Babywiege lagen.