Sonntag, 24. Februar 2019

Industriedenkmal Gravo Druck: Letzter Aufruf Abrissbirne


Als „Industriehalle mit Freifläche in 06114 Halle, Reilstr.“ wurde es im vergangenen Jahr bei einer Auktion zum Kauf angeboten. Startgebot: 5 Euro. Nicht viel Geld für eine Grundstücksfläche in bester Lage, direkt am Reileck, mehr als 3000 Quadratmeter groß und mit großer Geschichte versehen.

Aber die früheren Produktionsgebäude des VEB Gravo Druck Halle  präsentieren sich nach mehr als einem Vierteljahrhundert Leerstand zwar bunt bemalt mit allerlei Graffiti. Doch vom löchrigen, teilweise eingebrochenen Dach bis zu schwer einsturzgefährdeten Zwischendecken, Brandschäden und ausgebrochenen Fenstern in einem geradezu erbärmlichen Zustand.


Ein Denkmal ist das Haus aus dem Jahr 1936 dennoch, sechs Etagen mitteldeutscher Industriegeschichte, die bislang nur einige Nebengebäude und den früher an der Fassade prangenden Schriftzug „Gravo Druck“ eingebüßt haben, an deren Stelle sich jetzt ein Parkplatz befindet.


1889 hatte der Unternehmer Carl Warnecke in Halle die Lithographische Kunstanstalt, Buch- und Steindruckerei gegründet, die später aus der Kleinen Ulrichstraße in die heutige Ludwig-Wucherer-Straße zog. In der DDR wurde die Firma enteignet und zum volkseigenen Großunternehmen mit nahezu 250 Mitarbeitern gemacht, die Verpackungsmaterial, Plakate, Werbeschriften und Postkarten produzierten – unter anderem für Abnehmer im sogenannten NSW, also dem nichtsozialistischen Ausland. Globalisierung im DDR-Maßstab. Die Rohstoffe für Etiketten und Verpackungen für westdeutsche Markenartikel kamen aus dem Westen. Die Fertigprodukte verschwanden wieder dorthin.

Ironie der Geschichte: Das Geschäft lief, so lange der „Graphische Volksbetrieb“ (daher Gravo) in der DDR produzierte, die kaum Werbung kannte. Doch kaum war die Planwirtschaft am Ende, geriet auch die ehrwürdige Druckfabrik in Nöte. Der Jahresabschlussbericht 1990 der inzwischen mit dem Handelsregistereintrag HRB-08-896 zur GmbH mit einem Stammkapital von 3 360 000,- DM umfirmierten Treuhand-Tochter listete schon Außenstände von mehr als zwei Millionen D-Mark auf. 1992 war die Kasse endgültig leer, Gravo Druck, zu DDR-Zeiten Schauplatz des DEFA-Films "Das verhexte Fischerdorf", geriet in ein Insolvenzverfahren, in dessen Folge die Gebäude leergeräumt und verlassen wurden, dem Verfall frontal preisgegeben.

Die Idee von Hühnermanhattan-Betreiber Gabriel Machemer, in den weitläufigen Räumlichkeiten nicht nur das Hühnermanhattan, sondern dazu noch weitere sozio-kulturelle Projekte unterzubringen, fand vor zehn Jahren keine Unterstützung. Inzwischen ist nun zu spät, noch irgendetwas am Industriedenkmal am Reileck zu retten: Bei einer Zwangsversteigerung ging das Gelände jetzt an einen Käufer aus Leipzig, der für die Ruine in allerbester Lage 1.151.000 Euro zahlt.

Noch eine ehrwürdige Leiche im Stadtbild: Das Julius-Kühn-Haus am Steintor



Sonntag, 3. Februar 2019

Kurt Demmler: Ein Schrei ohne Ton




Er war Staatstexter, DDR-Kritiker, Lieferant unvergesslicher Hits für Renft, Karat, Electra und Puhdys und Nationalpreisträger. Vor zehn Jahren erhängte sich der Liedermacher im Gefängnis - angeklagt wegen Kindesmissbrauchs.


Er wolle nichts mehr hören, nichts mehr sehen, nichts mehr erinnern. "Ich bin damit durch", sagt Kurt Demmler, "es ist lange her, und ich möchte nicht mehr darüber reden." 1968 in der DDR, natürlich, das ist sein Thema, nickt der Mann, der damals begonnen hatte, mit eigenen Liedern und mit dem "Oktoberklub" aufzutreten. "Aber wen interessieren diese alten Geschichten noch?"

Ihn selbst nicht, denn ihn selbst quälten längst andere Gedanken. Demmler, der produktivste und erfolgreichste Popmusik-Texter der DDR, wusste in jenem Frühsommer 2008 schon, dass sich dunkle Wolken über ihm zusammenzogen. Nach einer Anzeige von mehreren jungen Frauen ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen Kindesmissbrauchs. Demmler, aus Berlin nach Storkow in Brandenburg gezogen, schaute vom Schreibtisch aus auf den See und dichtete Düsteres. "Mein Wort teilt meine Not / mit bedauernden Zeilen und trockenem Brot", reimte der 65-Jährige im Juli 2008. Eine Woche später klickten die Handschellen. Demmler, DDR-Nationalpreisträger, Tantiemen-Millionär und Autor von Hits wie "König der Welt" und "Du hast den Farbfilm vergessen", saß plötzlich in Untersuchungshaft.

"Mein Wort teilt meine Not / mit bedauernden Zeilen und trockenem Brot." Kurt Demmler Liedermacher

Die Staatsanwaltschaft war überzeugt, dass der Liedermacher und Texter von Gruppen wie den Puhdys, Karat und Renft sich zwischen 1995 und 1999 an sechs minderjährigen Mädchen vergangen habe. Allein die damals 14-jährige Liselotte B. hat er laut Anklage mehr als 180 Mal missbraucht.

Die Opfer, aus denen Demmler die Gruppen "Kussecht" und "Zung'kuss" hatte machen wollen, sagten aus, der Liedermacher habe sich von ihnen befriedigen lassen. Demmler leugnete. Doch eine Vorstrafe aus dem Jahr 2002 sprach gegen ihn.

Die Fans seiner großen Jahre, als keine Hitparade ohne Demmler-Reime auskam, waren entsetzt. Die letzten Freunde, die dem langjährigen Wahl-Leipziger nach seinem freiwilligen Rückzug 1986 geblieben waren, wandten sich ab.

Es ist der tiefe Sturz eines "sensiblen, schrullenhaften und im Privaten schwer zu ertragenden Hochtalents", wie ihn seine Texterkollegin Gisela Steineckert einmal charakterisierte. Demmler, als Kurt Abramowitsch in Posen geboren und in Cottbus aufgewachsen, hatte früh begonnen, Gedichte zu schreiben. Erst das popmusikalische Tauwetter in der DDR Ende der 60er aber gibt dem Medizinstudenten Gelegenheit, Karriere als Dichter zu machen.

Kurt Demmler, Fan von West-Beat und Radio Luxemburg, lernt im Leipziger Jazzclub den gerade mit Spielverbot belegten Klaus Renft kennen. Für dessen Combo liefert er seine ersten Auftragstexte; hier begründete der "Pseudo-Lutheraner und Humanist" (Renft-Sänger Thomas Schoppe) auch seinen Ruf, der einzige Mann, zu sein, der "eine ganze Langspielplatte in zwei Tagen betexten kann" (Renft-Gitarrist Peter Gläser).

Solche Talente sind gesucht in der DDR, wo der Zensor immer das letzte Wort hat. Demmler, nebenbei auch als Liedermacher mit eigenen Songs unterwegs, spricht die poetische Sprache des Systems: Seine Verse lavierten zwischen Wirklichkeit und Wolken, schnell ist er auch bereit, an Formulierungen zu feilen, wenn sie Lieder bedrohen. Und im Prinzip bleibt Demmler immer auch ein bisschen Staatsfeind: Solidarisiert sich mit Wolf Biermann, kritisiert die Enge der Arbeiter-und Bauernrepublik in verschlüsselten Versen und singt Mitte der 80er von Stasi-Überwachung.

Ein Pragmatiker der Poesie, dem geflügelte Worte nur so aus den Schreibmaschinentasten springen. Demmler verteilt, was er hat, an Schlagersänger wie Karel Gott und Rockbands wie die Puhdys, an Bekannte und Unbekannte. Er schreibt Leichtes wie "Liebling, ich verspeise Dich zum Frühstück", Gedankenschweres wie "Ermutigung" für Renft und Todtrauriges wie "Schrei ohne Ton" für den DDR-Popstar Bummi Bursi. Unterwegs auf Tour lebt er dazu ein echtes Rock'n'Roll-Leben: Es gibt Groupies, es gibt Sex, und niemand fragt die Mädchen am Hintereingang nach ihrem Personalausweis.

Damals ist das allenfalls ein Augenzwinkern wert. Der Liederdichter dichtet der Gruppe Dialog den Text "Noch nicht 16" dazu. "Ach, man wird nicht minder / schon durch solche Kinder angemacht", klagt er. Am 3. Februar 2009  um 6.30 Uhr wird Kurt Demmler in seiner Gefängniszelle in Berlin Moabit erhängt aufgefunden. Er hinterlässt keinen Abschiedsbrief, aber eine Frau, zwei Kinder, drei Enkel - und rund zehntausend Liedtexte. Auf seiner Homepage demmlersong.de wirbt heute ein Hersteller von Kaffeeautomaten für sich.