Wir lassen Kietz hinter uns, einen kleinen Flecken direkt am Elbufer, über dem Reiher und Falken kreisen. Von hier aus ist es nur ein kurzer Fußweg von zehn Kilometern bis Dömitz, der nächsten und einzigen größeren Stadt in dieser Gegend: Der gesamte Weg verläuft entlang des Elbdamms, immer obendrauf, immer belagert von Radfahrern. Rechts unten sind die Betonkekse zu sehen, die allerletzten Überreste der ehemaligen Grenzlinie zwischen Ost und West. Ausnahmsweise kann man hier auf dem Damm wandern, wo ein Betonweg ohne Löcher das Gehen erleichtert. Wir sind in Brandenburg, in Sachsen-Anhalt wäre das verboten.
Die Betonkeske rechterhand erzählen eine ganz eigne Geschichte, wie uns ein alter Mann an einem Ort namens Unbesandten aufklärt. Wegen des Mangels an Beton machen sich die DDR-Ingenieure Gedanken darüber, wie man beim Pflastern der endlosen Grenzlinie Beton einsparen könnte. 1.400 Kilometer mussten für die Grenzsoldaten befahrbar gemacht werden - dazu wurden zehntausende Tonnen Beton benötigt, Beton, den die bettelarme DDR eigentlich gar nicht hatte. Eines Tages kam also ein Mann auf die Idee, Löcher in die Gehwegplatten zu pressen. Dadurch werden zehn bis fünfzehn Prozent des Zements eingespart. Bestimmt hat er dafür einen Aktivisten-Orden bekommen, in jedem Fall aber Spuren für die nächste Ewigkeit hinterlassen.
Dömitz, die Stadt direkt am Elbufer, wohin wir unser mörderisches Gewicht heute tragen, hat seine Brücke zum Westen am Ende des Zweiten Weltkrieges verloren, als alliierte Bomberpiloten den östlichen Teil der Brücke trafen. Die DDR-Behörden fanden das toll, denn damit war der Weg hinüber zum Klassenfeind effektiv geschlossen. Sie versuchten auch nie in ihren 40 Jahren, die Brücke wieder aufzubauen. Ganz im Gegenteil: Das Stück, das noch stand, sprengten sie. Übrig blieb nur ein Stück Gerippe am anderen Ufer, das bis heute mahnt.
Die komplette Stadt mit 3.000 Einwohnern lag danach in einem "Sperrgebiet". Niemand hatte das Recht, ein- oder auszugehen, ohne einen Passierschein, eine Anmeldung und eine Genehmigung. Unterwegs kommen wir durch Orte, in denen seit Jahren niemand mehr lebt, nur Tiere wie Falken, Bussarde, Füchse, Luchse und Spatzen. Die Vögel fliegen über uns hinweg, ein Reiher schaut neugierig aus dem Wasser zu den beiden Irren mit den riesigen Rucksäcken. Das kleine Dorf Rüterberg zum Beispiel ist in den Jahren der Absperrung vollkommen aus der Welt verschwunden: Die Grenztruppen errichteten einen Zaun nicht nur zwischen den Häusern und der Elbe, sondern auch zwischen der Landseite und dem Rest des Landes. In der Nacht konnte niemand kommen oder gehen, auch nicht, wer in einem der verbliebenen Häuser wohnte, denn es gab keine Zaunwache, die das Tor hätte öffnen können.
Bizarr, aber normal wie der Name Dömitz in der Antike. "Festung Dömitz" nannten die Nazis die Stadt, die heute ein freundliches Gemeinwesen mit einem riesigen Museum in der alten Festung ist, die aus den gleichen roten Ziegelsteinen gebaut ist wie die berühmte Malbork in Polen. Eine Ausstellung im Inneren zeigt, wie oft die Herrscher der Stadt am Fluss wechselten und wie viele Schlachten sie schlugen, um Könige dieses kleinen Ortes zu werden, an dem der berühmte Lyriker Fritz Reuter im 18. Jahrhundert eine Gefängnisstrafe wegen nationalistischer Betätigung absitzen musste.
Der Weg zur Ostsee ist nur wenige Schritte von der Festung entfernt. Er verläuft nach Norden, aber wir gehen erstmal nach Westen und dazu müssen wir "auf die andere Seite durchbrechen", wie Jim Morrison von The Doors gesungen hat. Das geht einfach, denn seit 1992 gibt es eine neue Brücke für Autos und Fahrräder und Wanderer: Nach dem Fall der Mauer ist es den Menschen hier wirklich gelungen, in nur zwei Jahren eine riesige und völlig neue Brücke zu bauen, die seither Ost und West verbindet. Ein Wunder in einem Land, das normalerweise zehnmal so lange braucht, um nur die Bauunterlagen zu malen und die Hamster am Ufer zu zählen.
Aber damals war die Sehnsucht groß und die Menschen stellen nicht viele Fragen. Drüben, auf der Westseite, ist alles völlig anders als im Osten. Es gibt keine Radfahrer, keine Kaffeehäuser und keine Touristen sind zwischen Hitzacker und Neu-Darchau. Die Straßen sind leer, die Wanderwege sind zugewachsen. Wer in dieser Gegend Urlaub macht, der tut es östlich von hier.
Wir sehen Stunde um Stunde niemanden, aber das ist ja genau das, was wir uns gewünscht haben.