Sonntag, 16. Oktober 2011

Heimspiel vor vollem Haus

Zum Schluss landen sie bei den großen Hits. "This is not a Lovesong" singt das prallvolle Steintor gemeinsam mit Baby-Universal-Sänger Cornelius Ochs. Und "Boys & Girls" singen sie auch - das erste vor langer Zeit mal eine Chartnummer-1 einer englischen Band. Das zweite seinerzeit die erste Single der halleschen Nummer-1-Band Baby Universal.

Das sie das sind, bewiesen Sänger Ochs, Gitarrist Hannes Scheffler, Bassmann Tobias Lehmann und Drummer Carsten Rothweiler beim Release-Konzert zum neuen Live-Album, das genau so heißt: "Live". Mit "A Ghost is in the House" startet der Abend gespenstisch, Cornelius Ochs zelebriert das Stück blutrot beleuchtet mit großen Gesten. Dann "Holy Ground", eine augenzwinkernde Verbeugung vor dem ehrwürdigen Variete, und schon wippt und stampft die Masse vor der Bühne.

Ganz offensichtlich ein Heimspiel, das die vier Babys hier feiern. Liedtexte werden laut mitgesungen, Songs schon nach den ersten paar Akkorden bejubelt, Crowdsurfer wagen den Sprung vom Bühnenrand und lassen sich auf den ausgestreckten Armen der Fans über die Köpfe tragen.

Die Euphorie stoppt erst, als die Band zum akustischen Teil Platz nimmt. Jetzt verstärkt von der Sängerin Kiki Bohemia, einer singenden Säge und dem Cellisten Sickerman wirft sich Cornelius Ochs in die großen Doors-Posen. Die Hände gehen flehend zum Himmel, die Stimme mauzt und jauchzt. Dann kommt auch noch Christian "Sorje" Sorge auf die Bühne, um dem jetzt gefragten Stonerrock-Teil ein bisschen Stones-Erdigkeit einzuimpfen.

Ochs ist nun Bowie, Micheal Hutchence und, mit der auf dem Rücken schlenkernden Akustik-Gitarre, Woody Guthrie in einer Person. Zwei Stunden lang spielen sie, jagen von Höhepunkt zu Höhepunkt. Der Bass bollert, die Gitarren glühen, der Mann im weißen Brokathemdchen schlägt die Augen zu, breitet die Arme aus und lässt sich und seine Band für einen fantastischen Konzertabend bejubeln.

Freitag, 7. Oktober 2011

Sonst kommst Du nach Schwedt...

Der Fluch der NVA-Soldaten erwischte ihn, und er merkte es nicht einmal. Erst im Stasi-Gefängnis wurde dem Dresdner Klaus AUERSWALD damals klar, dass ihm mehr droht als eine Disziplinarstrafe wegen des Hörens von West-Radiosendern. Es ist der Sommer 1968, Truppen des Warschauer Paktes sind gerade in die Tschechoslowakei einmarschiert und die DDR-Behörden reagieren empfindlich auf Systemkritik, wie der Wehrpflichtige AUERSWALD sie im Kameradenkreis geäußert hatte: Der Einmarsch sei unrechtmäßig, die SED unterdrücke die Meinungsfreiheit und der Sozialismus sei überhaupt reif für Reformen, fand der gerade 20-Jährige.

Für seinen Bataillonskommandeur ein klarer Fall. Angeblich um eine zehntägige Arreststrafe abzubrummen, wird der bekennende Beat-Fan ins Stasi-Untersuchungsgefängnis gebracht. Dort eröffnet ihm ein Vernehmer, dass er unter dem Verdacht stehe, "staatsfeindliche Hetze" begangen zu haben.

In den folgenden zwei Jahren lernt Klaus AUERSWALD den Alptraum aller DDR-Soldaten kennen. Das Militärgefängnis Schwedt ist die zentrale Strafanstalt für die sogenannten Bewaffneten Organe, die seit 1956 über eine eigene Militärgerichtsbarkeit verfügen. Für kleinere Vergehen verhängen Vorgesetzte direkt Disziplinarstrafen, um alles andere kümmern sich Militärgerichte, Militärobergerichte und das Militärkollegium des Obersten Gerichtes der DDR.

Dienststellen der Militärstaatsanwaltschaft ermitteln wegen Fahnenflucht und Schlägereien, sie untersuchen Angriffe auf Vorgesetzte, Missbrauchsfälle etwa im Zusammenhang mit der EK-Bewegung, aber auch Fälle von Diebstahl, Waffenbenutzung oder staatsfeindlichen Äußerungen. So wurde 1981 der Stasi-Hauptmann Werner TESKE wegen versuchtem Landesverrat von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Auch der Offizier, der für das Unglück verantwortlich gemacht wurde, bei dem am 24. August 1965 ein NVA-Schwimmpanzer PT 76 35 Ferienlagerkinder auf dem Riewend-See bei Brandenburg an der Havel mit in die Tiefe riss, landete in Schwedt.

Klaus AUERSWALD erlebt einen Prozess, der nicht öffentlich vor dem Militärobergericht des Militärbezirkes 3 in Leipzig stattfindet. Der Angeklagte bekommt zuvor weder die Klageschrift oder Beweise zu sehen, seinen Verteidiger spricht er wenige Tage vor der Verhandlung für eine halbe Stunde.

Das Urteil steht sowieso fest. Der gelernte Elektromonteur geht für seine Gesinnung hinter Gitter - für ein Jahr und acht Monate nach Schwedt, die Strafanstalt, deren Name allein Generationen von NVA-Angehörigen in Furcht versetzt. In zwei Kompanien, die von als "positiv" eingeschätzten Gefangenen befehligt werden, findet hier ein Strafvollzug auf Strafarbeitsbasis statt, bis 1982 noch unter der Regie des Innenministeriums, später dann unter direkter Leitung der NVA. "3.45 Uhr war Wecken", erinnert sich AUERSWALD, "dann Morgensport, dann Frühstück und 5.30 Uhr Abfahrt ins Betonwerk." Schläge gehören dazu, "der Knüppel klatschte regelmäßig in die Kniekehlen", heißt es in AUERSWALDs
NVA-Knastbuch "… sonst kommst Du nach Schwedt!" (Greifenverlag), in dem der Sachse sich die Last der Erinnerungen vom Leibe zu schreiben versucht.

Die Strafgefangenen, unter denen wegen politischer Delikte Verurteilte ebenso sind wie Gewalttäter und Leute, die etwa "aus Versehen" jemanden erschossen haben, arbeiten Zwölfstunden-Schichten an sechs Tagen der Woche, es gibt nur wenig zu essen, dafür aber an zwei Wochenenden jedes Monats militärische Ausbildungsübungen mit Holzgewehren. Die Strafe schützt die meisten vor dem Wehrdienst nicht: Offiziell gelten alle nach Militärstrafrecht Verurteilten weiter als NVA-Angehörige, ihre nach der Strafverbüßung verbleibende Dienstzeit müssen sie in der Regel bis zum letzten Tag der regulären Dienstzeit nachdienen. 50 Tage sind es im Fall von Klaus AUERSWALD. Und draußen vor dem Kasernentor warten anschließend schon die Stasi-Spitzel.

Fundstück bei Klaus Auerswalds Blog

Donnerstag, 6. Oktober 2011

Wie eine dunkle Wolke

Die Männer mit den Kameras haben keine Chance. „Verfatzt euch“, ruft es aus einem Fenster der Wolfener Sekundarschule IV, „euch Fernsehfuzzis will hier keiner haben.“ Seit den ersten Nachrichten über eine brutale Schlägerei auf dem Hof der Plattenbau-Schule am Rande des Wolfener Neubaugebietes Nord, bei der ein 18-Jähriger einen 16-Jährigen zu Tode prügelte, hängt die Frage nach dem Warum wie eine dunkle Wolke über den 270 Schülern und ihren Lehrern.
Vor allem aber hängt sie über Gerhard Funke, seit 13 Jahren Direktor in der „Seku IV“, wie die Schule hier genannt wird. „Ich bin tief erschüttert“, sagt der 64-Jährige mit belegter Stimme, „keiner kann sich erklären, wie es dazu kommen konnte.
“ Es habe, versichert der grauhaarige Mann mit den von Sorge schweren Lidern, keine Anzeichen gegeben. Keine Hinweise und keine Warnungen. „Wir sind eine Schule wie jede andere auch“, beschreibt er, „da gibt es mal Rangeleien, aber so etwas gibt es nicht.“
Bis zum Mittwoch, 11 Uhr 30. Es ist große Pause an der Schule, um die herum halb leere Wohnblocks mit toten Fensteröffnungen auf den Abrissbagger warten. Die Sonne scheint, und der 16-jährige René E. steht mit Freunden zusammen. Matthias B., 18 Jahre alt und bis zum Frühjahr Schüler an der „Seku IV“, kommt dazu. Und beginnt, auf den Jüngeren einzuprügeln. Alles sei „sehr, sehr schnell“ gegangen", berichten Augenzeugen später.

Selbst als René E. schon am Boden lag, habe B. nicht abgelassen. „Der war wie im Rausch“, sagt ein Mädchen, das vor Entsetzen starr zuschaute, wie Matthias B. trat und trampelte. „Wir konnten gar nichts tun.“ Schüler rufen per Handy Hilfe. Einer läuft zum Direktor. Andere alarmieren die Hofaufsicht. „Als die Kollegen zu der Stelle kamen“, schildert Gerhard Funke, „konnten sie nur noch erste Hilfe leisten.“ Matthias B. flüchtete. Später stellt er sich.
Seine früheren Mitschüler tun sich schwer mit Erklärungen. René E. habe B., der nach der Schule keine Lehrstelle fand und derzeit ein berufsvorbereitendes Jahr absolviert, beleidigt, behauptet ein Junge. Das könne zwar sein, räumt ein Mädchen ein, doch Ursache der Auseinandersetzung sei der Streit um eine Freundin gewesen, die erst zu B. gehörte, dann aber zu E. ging.

„Mit unserer Schule hatte das aber garantiert nichts zu tun“, versichert sie. Auch wenn die Stimmung derzeit „ein bisschen aggressiv“ sei, weil sich viele von den Kamerateams verfolgt fühlten, sei die „IV“ eine friedliche Penne: „Bei uns kloppen sie sich nicht und es schleppt auch keiner Waffen rum.“ Bis vor kurzem, sagt Gerhard Funke, gab es sogar ein Projekt, das die Schüler lehrte, Schulstreits miteinander zu schlichten. „Da haben wir gute Erfahrungen gemacht.“ Maria Schneider kann das nur bestätigen. Seit 1995 wohnt die 77-Jährige direkt neben der „Seku IV“ und „hatte nie Probleme mit den Kindern“, sagt sie. Natürlich, viele Scheiben sind zerschlagen. Natürlich, das Viertel scheint dem Leben ferner als dem Tod zu sein, und ein Hauch von Endzeit weht durch die zugewucherten Vorgärten: Die Spielplätze sind voll Unkraut, die Türen der Wohnblocks verschweißt, auch Gerhard Funkes Schule wird im Frühjahr geschlossen. „Trotzdem kann man hier abends auf die Straße“, sagt Maria Schneider, „da muss man keine Angst haben.“ „Aber am Ende erzählen sie die Geschichte ja doch wie immer“, vermutet ein Mädchen, das vor den TV-Teams auf die Bank hinter einem Block geflüchtet ist. Und immer geht die Geschichte so in Wolfen-Nord, glaubt sie: „Die Eltern arbeitslos und besoffen, die Kinder ständig verprügelt, und dann schlagen sie sich gegenseitig tot, das klingt ja auch logisch.“ Auch wenn es nicht wahr ist.

Mit einer Trauerfeier haben die Lehrer am Montag ihres Schülers gedacht. Schulleiter Funke sagte, „wir trauern tief bewegt“. Das Gedenken fand ohne Schüler statt. „Die Kinder sind nicht gewillt, öffentlich vor den Medien trauern“, sagte Funke. Zuvor hatten Schüler allerdings Blumen für das 16-jährige Opfer nieder gelegt. Tiefe Stille herrscht um das Schulhaus herum. Nur selten lassen sich Schüler oder Lehrer vor dem Gebäude blicken, wo noch immer die Kameras von Fernsehteams auf sie warten.

Eine lückenlose Aufklärung der Ereignisse verlangt Wolfens Oberbürgermeisterin Petra Wust (parteilos). An Wolfen solle nicht der Makel hängen bleiben, eine Gewalthochburg zu sein. „Das wäre völliger Quatsch. Die soziale Situation hier ist wie an anderen Städten Ostdeutschlands auch“, sagt Wust. Sie räumt allerdings ein, dass die Zahl der Einwohner von ehemals 45000 auf 26000 geschrumpft sei. „Wir haben den höchsten Leerstand in ganz Deutschland.“

Fundstück aus dem Tagesspiegel

Der König ist tot


Es war schon viel zu spät, es sich anders zu überlegen. Aber dann erwachte Steve Jobs, Chef des Computerkonzerns Apple, eines Morgens und er wusste, dass das iPhone ganz anders aussehen würde. Jobs, gesundheitlich nach der Entfernung eines Tumors schon lange angeschlagen, aber immer noch einer der härtesten Arbeiter in der Hightech-Brance, fuhr in die Firma. Und veranlasste, dass die iPhone-Designer noch einmal von vorn anfingen. 


Ohne diesen Morgen, der aus dem schmucken Handy einen Kultgegenstand machte, wäre die Geschichte vielleicht anders gelaufen. Vielleicht würde die Welt nicht für einen Moment den Atem anhalten, vielleicht würden nicht Börsenkurse rutschen, nicht Apple-Nutzer sorgenvoll die Stirn krausen. Nur weil Steve Jobs, der Apple vor 35 Jahren gründete, verkündet, dass er seinen Chefposten räumen wird.

 Doch Jobs, als Sohn eines Studentenpärchens in San Francisco geboren und kurze Zeit später von Paul und Clara Jobs aus dem nahen Mountain View adoptiert, verkörpert seine Firma wie kein anderer Unternehmenslenker. Jobs, ein schmaler, zuletzt sogar dürrer 56-Jähriger, der nur Turtleneck-Pullis, Jeans und eine Porsche-Armbanduhr für 2000 Dollar trägt, ist Apple. Und Apple ist Steve Jobs.

Dabei war der Mann, der nie studiert hat, Mitte der 80er in hohem Bogen bei Apple rausgeflogen. Jobs gründete daraufhin den Computerhersteller Next. Apple aber wurde im Zweikampf mit Microsoft zum Sanierungsfall: Gut, aber zu teuer, gefragt, aber nur bei wenigen.

In letzter Not kaufte Apple dem Ex-Chef seine neue Firma ab und Jobs damit wieder als Führungsfigur ein. Und Jobs, nie ein großer Computerfitzler, sondern eher der Experte für das große Ganze, war immer noch fest entschlossen, eine "Delle im Universum" zu hinterlassen, wie er einmal ankündigte. Mit dem iMac ließ der selbsternannte "Chef-Produkterfinder" seine Ingenieure erstmals einen Computer bauen, der nicht nur gut war, sondern auch gut aussah. Plötzlich war Apple zurück auf der Landkarte, plötzlich verlor der Gigant Microsoft Marktanteile.

Steve Jobs Rezept ist denkbar einfach. "Er ahnt die Benutzer-Erfahrung voraus", glaubt Jay Elliott, der lange für Jobs arbeitete. Alles soll einfach sein und auch von Laien zu verstehen. Im Streit um eine Gebrauchsanleitung, an dem der Multi-Milliardär ebenso teilnahm wie an jeder Diskussion um jedes Detail an jedem Apple-Produkt, plädierten andere dafür, die Bedienungsanleitung so zu schreiben, dass ein Zwölftklässler sie kapiere. Jobs, der seit seiner Rückkehr zu Apple einen symbolischen Dollar im Jahr als Gehalt erhält, widersprach: Nein, Erstklässler.


Bei iPod, iPad und iPhone braucht es nicht einmal mehr die. Zweijährige schaffen es, Märchen auf dem iPod zu hören und Trickfilme auf dem iPad anzuschauen. Männer loben, dass hier endlich mal alles funktioniere, Frauen sehen nicht Hightech, sondern elektrische Accessoires.
Aus dem Anbieter für die Hightech-Elite wurde mit iPod, mit iPhone, iPad und iTunes-Store eine Lifestyle-Marke. Und dabei tat der "iGott", wie ihn die Fans nennen, nicht viel mehr, als vorhandene Technologien mit Gespür für die Wünsche eines großen Publikums zu neuen Produkten zu kombinieren. Sexy müsse ein Apple-Produkt sein, beschwor er immer wieder.

Als Jobs vor vier Jahren das erste iPhone ankündigte, nannte er das Handy mit dem Touch-Bildschirm unbescheiden eine "Revolution" - und selbst die, die damals lächelten, geben nun zu, dass er Recht behalten hat. Inzwischen sehen alle Handys aus wie iPhones, alle Firmen haben App-Stores, alle Hersteller bauen Laptops ohne Tastatur.

Steve Jobs, Vater von vier Kindern und seit 20 Jahren mit derselben Frau verheiratet, hat sie geschaffen, die Delle im Universum. Am Donnerstag verabschiedete er sich von seiner Gemeinde, zu schwer krank, um noch weiterzumachen: "Ich habe immer gesagt, ich bin der erste, der Bescheid sagt, wenn der Tag kommt, an dem ich meine Aufgabe nicht mehr erfüllen kann. Leider ist dieser Tag nun da." 

Dienstag, 4. Oktober 2011

Tief in der Vergangenheit

Zeit, die nie vergeht, weil sie tief unter der Erde konserviert ist. Nahezu naturbelassen warten in Biesenthal und Freudenberg nahe Berlin zwei Bauwerke aus dem kalten Krieg, die auch und gerade für viele Menschen im Süden Sachsen-Anhalts ein Stück eigener Lebensgeschichte sind: Die Führungsbunker der Staatssicherheit und des Innenministers mussten zu DDR-Zeiten von zahlreichen Wehrpflichtigen aus dem Bezirk Halle erbaut und bewacht werden. Sprechen durften die Soldaten nicht über die Geheimobjekte, abgesehen davon war die Geheimhaltung so groß, dass kein Grundwehrdienstler je in den inneren Kreis oder gar in das unter einer tarnenden Halle versteckteBunkerbauwerk gelangte. Auch nach dem Mauerfall blieben die „5005“ und „7001“ genannten Schutzbauwerke unzugänglich. Die weiträumige Anlage in Freudenberg wurde zugemauert, die für MfS-Chef Erich Mielke gedachte Nummer 5005 verschwand hinter einer Kompostieranlage. „Dabei ist die Bunkeranlage des MfS einzigartig“, beschreibt Paul Bergner, Autor des Standardwerkes „Atombunker“. Die 5005 bestehe aus zwei Etagen, die 7001 dagegen umfasse gleich vier Bunker, die durch ein über 200 Meter langes Tunnelsystem verbunden seien. Sehenswert - und Grund genug für Bergner, immer wieder sogenannte Kontrollbegehungen durch beide Bauwerke anzubieten. Interessenten haben dann Gelegenheit, die Bunker in Biesenthal und Freudenberg zu besichtigen. Angeraten seien festes Schuhwerk, warme Kleidung und eine Taschenlampe, empfiehlt Paul Bergner. Mehr Informationen: www.ddr-bunker.de

Sonntag, 2. Oktober 2011

Grönemeyer kann doch tanzen

Dem Stachel auf der Spur

Das war damals reiner Zufall. Michael Hesse, Krankenpfleger-Azubi aus dem kleinen Örtchen Lengenfeld, stand im Leipziger Konzert seines Idols Sting und als der einen Fan suchte, der mit ihm zusammen "I'm So Happy, I Can't Stop Crying" singen wollte, reckte er seinen Arm ganz hoch in die Luft. Dann ging alles ganz schnell. Ein paar Stufen hoch, und schon stand der Amateurmusiker aus Mitteldeutschland vor Gordon Matthew Sumner und 7000 Zuschauern in der riesigen Leipziger Messehalle, die natürlich glaubten, der angebliche Sänger aus dem Publikum sei irgendein hochbezahlter Spezialeffekt der Show.

"Nice to meet you, Meikel", sagte der Weltstar zum kleinen Amateurmusiker , der schon als Kind auf jedem Familienfest gesungen hatte. Nein, kein Lampenfieber. „Ich wusste, dass ich das singen kann“, sagt Hesse, der damals mit seiner Band schon Auftritte im Vorprogramm von Karussell und City absolviert hatte. Sting sagte noch höflich "gütten Abend, wir wollen zusammen singen", und erläuterte knapp: „your part is in the middle." Kurzer Test und großes Staunen beim Superstar: Sting, solo und mit seiner Band The Police einer der stilprägenden Künstler der letzten 30 Jahre, zog anerkennend die Augenbrauen hoch. „What's that?“, dachte er wohl – denn sein Duettpartner klang haargenau wie er selbst. "A brillant voice" lobt der Meister den Schüler aus Mitteldeutschland - für die Verhältnisse eines britischen Pop-Aristokraten ein geradezu euphorischer Gefühlsausbruch.

Sowas passiert auch einer welterfahrenen Rocklegende nicht alle Tage, weshalb Sting seinen Auftritt in Leipzig bis heute in guter Erinnerung behalten haben dürfte. Einmal war er seitdem noch in Mitteldeutschland, um das kurzzeitige Comeback von The Police zu feiern. Jetzt aber kommt er wieder, diesmal mit sinfonischer Verstärkung und seinen größten Hits im Gepäck. Bei “Every Breath You Take”, “Roxanne”, “Englishman In New York” und “Desert Rose” wird Sting vom Philharmonischen Orchester und einem Quartett bestehend aus Stings langjährigem Gitarristen Dominic Miller, Multi-Percussionist Rhani Krija, Bassist Ira Coleman und Vokalist Jo Lawry begleitet.




Eigentlich ein Pflichttermin für Michael Hesse, doch den hat es inzwischen dorthin verschlagen, wo Sting herkommt. Mittelengland statt Mitteldeutschland, heißt es für ihn. "Meine Frau schreibt in Leicester ihre Doktorarbeit in Human-Genetik, ich arbeite als Krankenpfleger." Seine musikalische Karriere, nach dem gemeinsamen Auftritt mit Sting mit den Bands "Room Four" und Digital Pimp fortgesetzt, verfolgt Michael Hesse aber trotz der Doppelbelastung durch seine Arbeit und ein Studium als Texter und Konzeptionierer auch im Mutterland des Rock. „Mit der Gruppe Replica spiele ich mindestens einem Pub-Gig pro Woche und mehreren Wedding-Gigs im Monat“, erzählt er. Obwohl er musikalisch mittlerweile in einer anderen Richtung unterwegs sei und seine großen Helden heute eher Eddie Vedder oder Foo Fighters heißen, stehe Sting als Musiker immer noch hoch in seinem Ansehen. „Er ist und bleibt einer der talentiertesten Musiker unserer Zeit.“ Ihn noch einmal zu treffen, wäre ein Traum, sagt er. Aber leider wird Michael Hesse das Konzert des 59-Jährigen in Leipzig (23. Juni, Arena) knapp verpassen: Erst im Herbst kehrt der mitteldeutsche Sting nach Leipzig zurück. „Ich hoffe natürlich, dass ich nach dem Umzug dort bei einer guten Band einsteigen kann.“ Dürfte nicht schwer werden – die richtigen Referenzen bringt Hesse ja allemal mit zurück nach Hause.

Vocmaster UK
Vocmaster
mthesse

Die beste Halbzeit aller Zeiten

Zwei Stunden vor Spielbeginn.

Es ist ein gutes Jahr bis dahin, dieses 1979. Vor dem Republikgeburtstag, wie der 7. Oktober in der DDR offiziell heißt, steht der HFC Chemie auf Tabellenplatz 3. Sensationell, denn die Truppe von Trainer Peter Kohl ist eigentlich auf die Rolle als graue Maus im Ligamittelfeld festgelegt. Plötzlich aber wächst Großes im Kurt-Wabbel-Stadion, in das die Leute strömen wie schon lange nicht mehr, weil hier neuerdings gewonnen wird.
Eine Stunde vor Spielbeginn.

Die Fans aus Halle-Neustadt kommen wie immer zu Fuß. Zwei Stunden vor Spielbeginn ist Treffen, dann geht es vorbei an dem Punkthochhaus, in dem HFC-Spieler Jürgen Schliebe wohnt. Wie stets steht Hausmeister Werner Lohs auf dem Balkon und ätzt sein "na, geht ihr wieder verlieren" herunter. Davon lässt sich niemand aus der Ruhe bringen, schon gar nicht, so lange noch Bier da ist. Über die alte Bahnlinie wandern die Fans Richtung Böllberger Weg, von dort aus geht es in die Straße der Republik. Unterwegs wird der Zug lang und länger, Bekannte begrüßen sich, Flaschen und Spekulationen machen die Runde. Es geht heute gegen Magdeburg, wie Dresden, Jena, Erfurt, der BFC, Lok Leipzig und Union Berlin einer der Erzfeinde. Wieviel Anhang haben die mitgebracht? Wieviel Polizisten, die hier durchweg "Bullen" genannt werden, wird der Staat aufbieten? Im Stadion läuft schon der Vergleich der beiden Nachwuchs-Vertretungen. Interessiert aber keinen, denn man muss auf dem kleinen Schwarzmarkt vor dem Stadion noch schnell Programme, Anstecker und aus Westzeitungen abfotografierte Poster von westlichen Rockbands kaufen.
Halbe Stunde vor Spielbeginn.

Fußball ist in der DDR Ende der 70er Jahre ein Ersatzschlachtfeld. Jedes Wochenende prügeln sich Hunderte um Schals und Fahnen, die Stadien sind exterritoriales Gebiet, hier darf gerufen werden, was in Schulen und Lehre nicht einmal gedacht werden soll. Im Wabbel blasen Spielleute des DTSB heute zur Beruhigung ihre Tröten. "Bullen raus", schallt es eine halbe Stunde vor Spielbeginn trotzdem aus der Fankurve im Wabbel, die zu dieser Zeit noch keine Kurve ist, sondern die Gegengerade. Beste Plätze für die Fans, die in der Liga gleich hinter Chemie Leipzig, Lok, Union und Dresden als die Schlimmsten gelten. Typen wie Hörle, ein berüchtigter Schläger, sehen allerdings aus der Nähe ganz nett aus. Zwar nehmen sich die Älteren gern mal ungefragt eine Zigarette aus der Schachtel der Jüngeren. Aber wenns hart auf hart kommt, sind sie auch die, die das Schlachtfeld erst verlassen, wenn der letzte rot-weiße Schal zurückerobert ist.
Anpfiff.

Zum Kampf wird es heute nicht kommen. Magdeburg ist schwach vertreten unter den 25.000 im proppevollen Stadion, das dem ehemaligen HFC-Spieler und jetzigen FCM-Trainer Klaus Urbanczyk höflich applaudiert, als der anläßlich des Geburtstages der Republik mit einem großen Strauß Blumen geehrt wird. Dann ist es 14.30 Uhr und Schiedsrichter Prokop, einer der DDR-Schiris, denen der Ruf des notorischen Betrügers vorauseilt, pfeift an. Auf dem Platz stehen der Tabellendritte und der Tabellenvierte, "wir wollen auch diesmal den Heimvorteil nutzen", hat Trainer Kohl vorher angekündigt. Zwar dominiert der Favorit aus dem Nachbarbezirk die erste Viertelstunde. Doch nach von Streich und Mewes ausgelassenen Torchancen schlägt der HFC zurück.
15. Minute.

HFC-Kapitän Hartmut Meinert und Stürmer Holger Krostitz bereiten das erste Tor des Tages vor, Werner Peter erzielt es. Nun dreht der Gastgeber richtig auf, während der Europapokalsieger völlig von der Rolle gerät. Die Fangerade singt "Rot wie Blut, weiß wie Schnee, wir sind die Fans vom HFC" und den "Chemiewalzer", bei dem die Schals über den Köpfen tanzen. Hörle hat wie immer ein paar Flaschen Bier dabei. Er gibt ab, denn man sieht schon: Magdeburg ist müde, Halle steigert sich in einen Rausch.
46. Minute.

Der macht die zweite Halbzeit zur vielleicht besten, die jemals eine HFC-Elf gespielt hat. Zehn Minuten nach Wiederanpfiff fällt Frank Pastor im Strafraum, gefoult gleich von zwei Magdeburgern. Ein Aufschrei geht durch die Arena, dann noch einer, als Holger Krostitz zum 2:0 trifft. Nur zehn Minuten später macht der Blitz aus Hohenmölsen auch das 3:0, diesmal ein Schuß aus der Drehung. Und kaum sind noch einmal zehn Minuten rum, trifft er zum 4:0 - ein lupenreiner Hattrick nach Eingabe von rechts. Magdeburg ist stehend k.o., tot und begraben. Wie peinlich, dass nun auch noch der kleine Werner Peter die Demütigung vollendet: In der 82. Minute trifft er mit dem Kopf nach Flanke von Frank Pastor.
86. Minute.

Achim Streich macht noch das 5:1, ein verdeckter Schuß von der Strafraumgrenze. Macht nichts, Halle feiert. Die meisten Magdeburger sind unter höhnischem Gesang der Gastgeber schon abgefahren. Die üblichen Schlägereien auf dem langen Weg zum Bahnhof, den der HFC-Anhang rituell nach jedem Heimspiel absolviert, fallen diesmal aus. Der Marsch ist ein freudetrunkener, alle gehen ihn im Bewusstsein, Geschichte erlebt zu haben. Selbst Hausmeister Lohs, der die Rückkehr der Neustädter Fanfraktion wie immer am Balkon erwartet, hetzt diesmal nur leise, "na, doch mal gewonnen".
 

Abpfiff.

"Sturmtrio setzte Glanzlichter" wird die Fußballzeitschrift Fuwo schreiben, gleich fünf HFC-Akteure werden sich in der "Sportecho"-Elf-des-Tages wiederfinden. In den Wochen danach schlägt der HFC den Hauptstadtklub BFC noch mit 3:1 und den Angstgegner Jena mit 1.0. Das Ende des Traums vom Start in den Europapokal beginnt dann allerdings mit einer Niederlage gegen Dresden, die erst amtlich wird, nachdem der Schiedsrichter einen erfolgreich verwandelten Elfmeter für Halle in der letzten Minute wiederholen lässt. Diesmal geht der Ball nicht hinein. Es ist der Anfang vom Ende. Von Platz 3 stürzt Chemie bis Saisonende noch auf Platz 7, der übliche für die graue Maus. Dann folgt ein 8. Platz in der Saison 1980/1981 und zwei 11. Plätze in den Jahren 81/82 und 82/83. Anschließend ist es vorüber. Der HFC siegt ein ganz Jahr lang nur noch ein einziges mal und steigt ab - die Zuschauerzahl von 237.000 Zuschauer, die in der Saison 79/80 ins Kurt-Wabbel-Stadion kamen (durchschnittlich pro Spiel: 18.231), hat der Club in den 30 Jahren seitdem niemals wieder erreicht.
 

HFC gegen Magdeburg 1979, die Mannschaften:
HFC: Kühn; Fülle; Strozniak, Wawrzyniak, Schliebe; Robitzsch, Meinert, Amler, Peter, Pastor, Krostitz

FCM: Heyne; Pommerenke; Raugust Seguin, Decker; Tyll, Steinbach, Mewes; Thomas, Streich, Hoffmann.

Schiedsrichter: Prokop; Di Carlo, Bahrs