Samstag, 17. April 2021

Zeitreise zu Fuß: Wo der Rost für immer schläft



Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.


Der Eiserne Vorhang, in unserer Zeit eine unsichtbare Mauer zwischen Freunden, Familienangehörigen und Klassenkameraden, hat tiefe Spuren hinterlassen - nicht so sehr in der Landschaft, aber in den Köpfen.   Und in einer Kleingartenanlage in der kleinen Stadt Boizenburg, in die wir uns nach einmal Falschabbiegen verirrt haben. Hier gibt es viele Zäune zwischen den Gärten - und wer den Grenzweg wandert, erkennt in Sekundenschnelle, woher das Geflecht zwischen den Pfählen stammt: Es ist der gute alte Chrom-Nickel-Stahl aus Westdeutschland, der verhindert hat, dass die Ostdeutschen in den Westen stürmten.   


  Nichtrostender Stahl, beste Ware. Ja, ohne Zweifel der haltbarste Zaun, den man bekommen kann, aber sehr teuer, wie Jens uns sagt. Für einen Kilometer Zaun zahlte die DDR 120.000 Mark, der gesamte Zaun kostete sie mehr als 165 Millionen. Und nun ist es ein Gartenzaun in einer Anlage, in der die ehemaligen Boizenburger Werftarbeiter ihre viele Freizeit verbringen, weil sie alle ihre Arbeit verloren haben.   Boizenburg ist nicht mehr die Industriestadt des Kalten Krieges. Die ganze Industrie ist weg, die Werften sind geschlossen. Was seit der Auswanderung der Elbdeutschen und der Ansiedlung anderer Stämme hier ab dem 8. Jahrhundert immer und immer weiter gewachsen war, schrumpft seit Jahren. Mittlerweile liegt schwere Apathie über der Szenerie. Alte Männer und alte Frauen sind auf den Straßen unterwegs, eine heißt „Straße der Jugend“. Sie sehen zu, wie Geschäfte und Fabriken leerstehen, während eine goldene Sonne sich im Wasser der beiden Flüsse Elbe und Boize spiegelt.

     Bis in die 1970er Jahre befand sich auch Boizenburg im direkten Sperrgebiet entlang der innerdeutschen Grenze, nach 1990 war es wieder frei, jetzt hätte es richtig losgehen können. 30 Jahre später hat die Stadt trotzdem tausend Einwohner weniger als 1950. Wir verabschieden uns mit einem Stück knochentrockenem Kuchen vom Salzbäcker an der Bahnhofstraße. Wir müssen jetzt wieder auf den Kolonnenweg. Es sind ja nur noch 100 Kilometer bis zu den Stränden der Ostsee. 


  Im Norden von Zarrenthin, einer kleinen, aber schönen Touristenstadt am Schaalsees, in der wir zur Halbzeit der Tour in einem Edelhotel übernachtet haben, endet jede Zivilisation ziemlich abrupt. Die Stadt hat einige alte Kirchen, ein kleines Kloster und am See ein paar schicke Segelclubs. Abends marschieren Scharen von Touristen über den Puppenstubenmarktplatz.  


 Aber wenn nicht weit außerhalb stolpern wir wieder in ein echtes Outback. 20 Kilometer ist da niemand, kein Dorf, kein Wanderer, nichts. Mitten in Deutschland, einem der am dichtesten besiedelten Länder Europas. Der ehemalige Eiserne Vorhang ist weg, aber irgendwie ist er doch noch da. Denn die Grenze befand sich hier einst in der Mitte des schönen Sees. Der vollkommen unzugänglich ist: Wir planen ein kühles Bad - aber es ist einfach vollkommen unmöglich, irgendwo ans Ufer zu gelangen.     Kein Strand, keine Uferpromenade, nur Dschungel. Erst nach zwei Stunden finden wir endlich den einzigen winzigen Ort, an dem es zum Wasser geht. Leider passiert das, als die Wolken sich dunkel färben und ein kalter Sturmwind aufzieht. 

 

  Also gehen wir so trocken weiter, wie wir gekommen sind. Unser heutiges Ziel ist ein weiterer kleiner Ort namens Kneese, den wir nach fünf oder sechs Stunden erreichen wollen. Unterwegs kommen wir durch Dörfer wie Lassahn und Techin, die im Kalten Krieg natürlich auch ein schweres Schicksal hatten, denn direkt nach dem Weltkrieg beschlossen die Russen und Briten bei einem Treffen in einem kleinen Pub in Gadebusch auch hier, einige Teile ihrer Besatzungszonen auszutauschen. 


Seen, Wälder und schlechte Straßen machten es einfach schwer, die Dörfer in ihrer jeweiligen Zone zu erreichen. Warum also nicht tauschen? Der Kommandeur der britischen Rheinarmee, ein Generalmajor Colin Muir Barber, und der der Roten Armee, ein Generalmajor Nikolaj Lyaschenko, einigten sich bei einem Treff in der Kneipe kurzerhand auf den Austausch von Ländereien und Dörfern.  

 

  Die Menschen, die hier lebten, mussten die Rechnung bezahlen. Die mehr als 650 Jahre alte Grenze zwischen Lauenburg und Mecklenburg wurde am 13. November 1945 im Gadebuscher Restaurant "Goldener Löwe" neu gezogen. Es gab keine Diskussion. Die Leute wurden kurz darüber informiert, dass die Neuaufteilung "endgültig und irreversibel" wäre. Familien, die nicht bereit waren, auf der kommunistischen Seite der Grenze zu leben, hatten 48 Stunden Zeit, um ihre Häuser zu verlassen.Und so wurde gepackt und geladen, Getreide gedroschen und Vieh geschlachtet, Tag und Nacht. Alles musste dann über den Schaalsee transportiert werden, denn die Straßen rund um den See waren russisch besetzt. 

 

  Mit einer Fähre, einem Amphibienauto der Briten und Fischerbooten wurden 309 Pferde und Fohlen, 1.130 Rinder, Schafe und Schweine, landwirtschaftliche Maschinen und Geräte, Getreide- und Tierfutter, Kartoffeln, Rüben und andere Lebensmittel, Möbel, Einrichtungsgegenstände und andere große Gegenstände wegtransportiert. 209 von 238 Einwohnern von Techin verließen ihre Heimat, nur 29 blieben zu Hause.   75 Jahre später wirkt das Gebiet immer noch gähnend leer. Aber immerhin, so sagt ein Schild, gibt es hier eine Feenschule!   Nach einem gewaltigen Marsch, wieder viel länger als gedacht, erreichen wir Kneese, ein Dorf mitten im Nirgendwo, wo unsere Gastgeberin Anke eine vegane Pension namens Forsthof betreibt. 500 Meter von der ehemaligen Todeszone und einer Gedenktafel für den Flüchtling Henry Weltzin entfernt, der 1983 hier erschossen wurde, genießen wir veganes Chili und ein paar Belohnungsbier und legen nach dem Duschen den Kopf auf ein paar schöne, saubere Kissen für die Nacht. 

  Am nächsten Morgen macht Anke Frühstück, dann geht es wieder raus auf den Gegenentwurf zum berühmten "Jakobsweg". Hier trifft man wenig Menschen, es ist eher eine Reise in die Einsamkeit, auf der man leeren Orten, der Natur und vielen Bäumen und Tieren begegnet. Niemand geht diesen Weg, nur wir. Und hinter Kneese wird es noch leerer. Die Landschaft ist nun nicht mehr nur einsam. Sie scheint leer wie die dunkle Seite des Mondes.