Sechs Jahrzehnte, vier Währungen, drei Systeme: Der Abgangsjahrgang 1949 der Dorfschule Holleben trifft sich regelmäßig.
In welchem Jahr das war, das weiß Renate Andreß auch nicht mehr so genau. Kann sein, damals beim allerersten Mal, als sie alle noch nicht richtig wussten, wie das überhaupt werden würde. Kann sein, es war später, als die Stasi schon nicht mehr vom Nachbarzimmer lauschte, was im Saal nebenan gesprochen wurde. In dem Jahr jedenfalls erzählte Gerhard Demigkeit, den sie ganz zuletzt gefunden hatten, dass ihm beim Lesen eine Träne auf den Brief mit der Einladung gefallen sei. Renate Andreß, eine Frau mit entschiedenem Auftreten, muss beim Erzählen schlucken. Der Gerhard, das ist doch so ein großer Kerl, sagt sie. Aber das hier ist
ja auch so eine große Geschichte.
Die Geschichte der Schüler einer ganz normalen deutschen Schulklasse, Jahrgang 1941. Eine deutsche Geschichte. Als Hitler gerade an die Macht gekommen war, wurden sie geboren. Als der Führer die Welt in Brand setzte, feierten sie Einschulung. Über die nächsten Jahre, die Renate, Horst, Albert, Gretchen und die anderen in der Dorfschule in Holleben verbrachten, wurden die Klassen immer größer, weil der Lehrkörper mit jeder Schlacht im Osten schrumpfte. Der Krieg brauchte auch Lehrer als Futter für die Front. "Zu Kriegsende waren wir 47 in einer Klasse", erinnert sich Stefan Baumgärtner, der in Serbien geboren wurde und 1944 als Flüchtlingskind in den Saalkreis kam. Fünf Jahre später, als die Bundesrepublik und die DDR gegründet wurden, feierten die Achtklässler aus Deutschlands zweitältester Dorfschule Kommunion. Und Abschied vom Klassenzimmer neben der alten Dorfkirche.
Für die meisten war es auch ein Abschied von den Freundinnen und Freunden der Kinderjahre. "Nur acht von uns", zählt Renate Andreß, "sind hier geblieben". Wie unter dem Brennglas zeigen die Lebensläufe des Abschlussjahrgangs 49 deutsche Geschichte. Sieben Mitschüler gingen in den Westen. Eine verschlug es nach Übersee. Die meisten anderen verstreuten sich über die ganze DDR.
Es sind die in der alten Heimat Zurückgebliebenen, die Anfang der 80er Jahre beginnen, nach den Spuren der Freunde von früher zu suchen, um zum nächsten Jubiläum der letzten Zeugnisausgabe ein Klassentreffen zu organisieren. Es gibt kein Internet, keine Adressbücher und keine Telefonauskunft, die weiterhelfen kann. "Also haben wir einfach überlegt, wer noch Verwandtschaft hier in der Nähe hat", erinnert sich Renate Andreß. Holleben ist ein kleines Dorf, in dem die Menschen einander traditionell nicht wie anderswo Siegfried Stedtel, sondern "Stedtel-Siegfried" nennen. Jeder hier kennt jeden, und jeder weiß von irgendwem irgendetwas. "Die Jungs hatten ja auch alle noch denselben Namen, da war es eigentlich einfach."
Auch die meisten Mädchen, damals schon Frauen um die 50, sind nach monatelangen Recherchen gefunden. Verwandte in der DDR haben die Adressen derer, die in den Westen gezogenen sind. Die wissen dann manchmal die von denen, die keine Verwandten mehr in der DDR haben. Und Gerhard Demigkeit, von dem monatelang einfach keine Spur auftauchen will, wird durch ein Missverständnis doch noch gefunden: Weitläufige Verwandte des Verschollenen berichten, dass "der Gerhard doch im ZDF Reklame für Persil" mache. Renate Andreß muss sich im Büro der BHG einschließen, um beim Westfernsehen in Mainz anrufen zu können. Dort ist kein Gerhard Demigkeit bekannt, der Persil-Werbung macht. Nur ein Herbert. Der Bruder. Geschafft. Der zweite Anruf, diesmal beim Gesuchten selbst, dauert nur ein paar Sekunden: "Renate, ich komme", sagt Gerhard Demigkeit, dann ist der Draht von Ost nach West auch schon wieder tot.
Die Geschichte der Suche der Kinder von einst nacheinander ist so ein Spiegelbild der deutschen Geschichte mit all ihren Wirrnissen und Irrwitzigkeiten. Es ist der Beginn der 80er Jahre, die Zeit von Nachrüstung und Atomangst. Der Kalte Krieg bläst einen letzten eisigen Hauch übers Land. Das erste Wiedersehen nach 35 Jahren wird ein tränenfeuchter Tag unter einem drückenden deutsch-deutschen Himmel. Horst ist da, der als Tischler arbeitet. Hans, der Landwirt. Hilmar, der Seemann. Der andere Horst von der Feuerwehr, Albert, ein Gerüstbauer, Inge, die Schneiderin und Renate von der BHG. Die einen kommen im Trabi, die anderen im Mercedes. Der Kofferraum des letzteren ist voller Apfelsinen. "Jeder Mann bekam einen Schlips, jede Frau eine Strumpfhose", amüsiert sich Renate Andreß.
Deutsche Lebensläufe, die von einem gemeinsamen Punkt auseinanderstreben, um sich am Ende doch wiederzubegegnen. "Wir hatten damals Auflage, dass die Westautos nicht vor der ,Friedenstaube´ stehen dürfen", erzählt Dieter Andreß, der seiner Frau bei der Organisation hilft, "und es durfte keine Heino-Musik gespielt werden."
Aber es ist egal. Sogar Christa, die schon so lange in den USA lebt, ist gekommen. Der Pfarrer feiert einen Gottesdienst mit den Kindern, die zum Konfirmandenunterricht immer eine Kohle hatten mitbringen müssen, damit es ein bisschen warm wurde im Zimmer. "So ein glücklicher Tag", sagt Renate Andreß, und ihre Augen sind feucht.
Seitdem sind sie einander nicht mehr verlorengegangen. Regelmäßig feiert der Hollebener Abgangsjahrgang 1949 Wiedersehen, während die Zeit vorüberzieht. Im letzten Jahr der DDR forderte schon niemand mehr, dass sie sich eine Bescheinigung beim Schuldirektor holen, damit bestätigt ist, dass sie wirklich eine ehemalige Schulklasse und kein Ost-West-Fluchthilfeverein sind. 1994, als die Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse auch die Abgangsjahrgänge 48 und 50 dazubitten, sitzen dann endlich auch keine Stasi-Männer mit Fasslimogläsern mehr lauschend in der Kneipe. Später waren ein paar Mitschüler sogar drüben bei Christa in Michigan. Und die Neu-Amerikanerin hat ihre Enkeltochter mit nach Holleben gebracht. Die spricht zwar nur Englisch, so dass Renate Andreß eigentlich kein Wort versteht. Aber inzwischen sagt sie trotzdem Tante zur Schulfreundin ihrer Oma.
Nur die "Friedenstaube", in der früher gefeiert wurde, ist zum 60. Jahrestag des Schulabschlusses, nicht mehr da. Eine zerfallene Ruine der Dorfkneipe nur ist übrig, wie ein Symbol von allem, was unterwegs zum diamantenen Jubiläum des Klassentreffens auf der Strecke bleiben musste. Da waren vier Systeme und vier Währungen. Da war ein heißer und ein kalter Krieg, da waren Mauerbau und Mauerfall. Nach alledem stehen hier nun drei Dutzend 75-Jährige mit weißem Haar, mit Stöcken und Falten, neben ihrer alten Schule, aus der längst ein Wohnhaus geworden ist. Und sie sind Freunde immer noch und immer wieder, und sie herzen und scherzen miteinander, als hätte die Schulglocke eben erst zur großen Hofpause geklingelt.