Sonntag, 14. November 2021

Reise nach Sundevit: Stolpern durch die Sturmflut


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land. Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.

Die Ostsee im Sonnenschein ist immer ein schöner Anblick, noch schöner aber ist er, wenn man weiß, dass man seinen elend schweren Rucksack bald zum letzten Mal abwerfen kann. Und dann erstmal nicht mehr aufbuckeln muss.   Bis dahin sind es noch ein paar Schritte, immer am Ufer entlang, denn auch am letzten Abend wollen wir am Strand zelten. Dafür ist diese Gegend ideal, denn außer Sand und Meer und Wind und ein paar wenigen Spaziergängern und Strandbesuchern, gibt es hier ja nichts. 


Oder doch, Überraschung: Auf einmal taucht ein Kiosk auf, der auf keiner Karte eingezeichnet ist! Das ist für uns wie ein Zeichen, dass wir hier in der Nähe der "Strandnixe" bleiben sollen. Einige andere haben sich das auch gedacht und einen naheliegenden Parkplatz zum halblegalen Campingplatz für ihre Wohnmobile umfunktioniert.  

Wir essen ein Fischbrötchen, packen ein paar Bier ein und gehen zum Strand hinunter, um einen Platz für unser Zelt zu suchen. Der Sandstreifen ist hier nicht sehr breit, die Steilküste dahinter dafür aber sicher fünfzehn Meter hoch. Es gibt nur einen einzigen Weg hinunter - der Grund dafür, das ahnen wir aber noch nicht, dass unsere ganze Wandertour in der nächsten Nacht beinahe noch in einer Katastrophe endet.   Aber das passiert erst ein paar Stunden später, erstmal freuen wir uns über die schönste Zeltnische aller Zeiten, versteckt hinter ein paar alten Bäumen und sogar mit Sitzmöglichkeiten und einem alten Baumstamm, der wie ein Tisch aussieht.


Verwundert merken wir am Nachmittag, dass die Ostsee wohl doch so etwas wie Flut kennt: Der Strand, auf dem wir eine Decke ausgebreitet haben, wird immer schmaler, das Wasser rückt uns immer näher. Doch bis zum Zelt sind es noch mindestens fünf Meter und obwohl der Wind immer mehr auffrischt und die Wellen höher werden, wird der Zeltplatz sicherlich trocken bleiben, da bin ich sehr sicher. Nur gegen den Wind wollen wir etwas tun, weil der erfahrungsgemäß im Zelt immer klingt wie ein Orkan, der gleich alles wegfegen wird. Wir spannen also eine Plane als Windschutz auf. Sofort wird es still. 

 Bis es mitten in der Nacht mächtig kracht. Die Plane hat sich losgerissen - und während ich versuche, sie festzubinden, stelle ich fest, dass vom Strand fast nichts mehr übrig ist. Drei Meter unterhalb der Zeltleine steht das Meer, kurze Zeit später ist es schon auf zwei Meter herangerückt. Nach hinten können wir nicht, das ist die Steilküste. Und zur Seite geht nur noch vielleicht, denn auf den 600 Metern bis zum Aufgang ist der Strand an den meisten Stellen nicht halb so breit wie hier. 


Es ist drei Uhr früh, als wir hastig alles zusammenpacken, Stirnlampen aufschnallen und flüchten. Nur die ersten paar Meter trockenen Fußes. Dann erwischt uns die erste Welle dessen, was der Wetterbericht am nächsten Tag eine Sturmflut nennen wird.   Es ist stockdunkel, man sieht die vielen gefallenen Bäume nicht und der steinige Untergrund macht das Gehen zu einer gefährlichen Sache. Dann endlich haben wir es geschafft. 


Nass, aber glücklich kommen wir an der Treppe nach oben an, die - das bemerken wir erst jetzt - auf ein Stück Weg führt, dessen Musterung uns sehr bekannt vorkommt. Es ist das letzte Stückchen Kolonnenweg aus Betonkeksen aus dem kalten Krieg.  

Dahinter liegt eine kleine Wiese, auf die wir unser Zelt stellen. Am nächsten Morgen weckt uns die Sonne, die auch dringend gebraucht wird, um all die nassen Sachen zu trocknen. Unsere Wanderstiefel schafft sie nicht, die bleiben noch eine ganze Woche nass - wie als Erinnerung an eine unvergessliche Wandertour.

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Freitag, 5. November 2021

Wandern nach Norden: Verloren in der Einsamkeit



Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land. Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.

Der nächste Tag führt uns nach Schönberg, wo wir schon wieder eine sterbende Stadt erleben. Der Ort, an dem Westdeutschland einst von der DDR seine Abfälle vergraben ließ, ist heute ein Gebiet unübersehbaren Niedergangs. Früher flossen hier zumindest ein paar der Abermillionen harter D-Mark hin, die der Westen dem Osten zahlte. Heute nichts mehr, wie es aussieht. Schönberg hatte mal eine Gaststätte. Aber die ist geschlossen. Es hatte auch mal ein Kino, und auch das ist seit Ewigkeiten zu. Der einzige Ort, an dem man etwas zu essen bekommt, ist ein freundlicher türkischer Döner-Grill, den ein ursprünglich aus Vietnam stammendes Ehepaar betreibt. 


Es sind nun die letzten Kilometer bis zum Meer. Aber unser Wasser-Problem wird wieder akut. Wenn wir dort oben an der Küste den ehemaligen Kolonnenweg entlanglaufen wollen, werden wir zwei ganze Tage lang kein frisches Wasser finden. Hinter Dassow liegt nur noch ein Imbiss namens "Seestern" am Weg. Und laut Landkarte keine Quellen, Toiletten oder andere Orte mit einem Wasserhahn. Das bedeutet, dass wir alles, was wir brauchen, in unseren Rucksäcken tragen müssen, die ohnehin schon 20 Kilogramm schwer sind, wenn wir nur zwei Liter Wasser für den Tag mitnehmen. Jetzt gehen wir mit sechseinhalb pro Kopf weiter.


Es fühlt sich ein bisschen an wie eine Ameise unter einem Berg. Nach zehn Minuten brauchen wir die erste Pause. Die Sonne ist wieder draußen und brennt, die Temperatur steigt. Das Gewicht zwingt uns, mehr zu trinken, als wir vorher gedacht haben. Ein Teufelskreis. Aber das Meer zu sehen, ist den ganzen Ärger wert. Und der Wegabschnitt, den wir jetzt gehen, ist auch einer der schönsten auf der ganzen Strecke. Die Harkenbäkniederung und das Salzhaff sind das Gegenteil vom Rest der deutschen Ostseeküste. Wo sonst überall Hotels, bewirtschaftete Strände und Geschäfte das Ostseegefühl monetarisieren, ist hier nichts davon zu sehen. Der Weg führt am Meer entlang, links ist ein schmaler Waldstreifen und rechts sind Felder. Und noch mehr Felder. Und noch viele weitere Felder. 


Die Touristen in dieser Gegend sind selbstverständlich auch alle auf Fahrrädern unterwegs. Sehr ärgerlich für uns Wanderer, weil sie ständig von hinten und vorne kommen. Klingel. Bimmel. Und kaum einer grüßt. Nur wenige Kilometer von unserem Start entfernt sehen wir dann ein riesiges Holzkreuz direkt am Weg: "Keine Zukunft ohne Erinnerung" erzählt eine Tafel in der Nähe des Kreuzes, das für die Opfer einer der größten Katastrophen in der Geschichte der Seefahrt errichtet wurde. Am Ende des Zweiten Weltkrieges versuchten die beiden Schiffe "Cap Arcona" und "ThieIbek" nach Lübeck zu gelangen, aber in der Nacht zum 3. Mai 1945 versanken beide nach einem Angriff britischer Bomber. 7.000 KZ-Häftlinge starben, ihre Leichen wurden monatelang an die Strände geschwemmt.


Eine Tragödie, die ohne das Holzkreuz keine Spuren hinterlassen hätte, so wie der ehemalige Eiserne Vorhang auch. Der Kolonnenweg, dem wir seit Salzwedel folgen, ist der gleiche Weg, den wir jetzt gehen, aber nur auf wenigen und kurzen Abschnitten sieht man noch die typischen Kekse aus Beton, aus denen der Grenzweg gemacht war. Am Abend suchen wir nach einem schönen Platz am Strand, um unser Zelt direkt am Wasser aufzuschlagen. 

Es ist ein sehr leerer Platz, unsere Nachbarn sind nur Vögel und einige späte Gäste, die nach Bernstein und Hühnergöttern suchen. Die Wellen rauschen leise und die Sonne geht im Westen unter, wo die Skyline von Timmendorfer Strand blinkt. Ein Traum, den wir noch mal mit unserem besonderen Gesundheitscocktail bejubeln. Am nächsten Tag geht es entspannt auf die letzten paar Kilometer unserer Trekking-Tour auf dem Kolonnenweg. Fast 250 Kilometer liegen schon hinter uns und vor uns liegt das Meer.




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Samstag, 5. Juni 2021

Vergessene Pfade: Wandern auf dem Mond


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.

Entlang des Kuhlrader Moores wandern wir auf vergessenen Wegen durch ehemalige Sperrgebiete. Noch eine Zone, aus der die Bewohner mit Gewalt und Drohungen vertrieben wurden, um die Grenze sicher zu machen. Wir laufen stundenlang und sehen keinen einzigen Menschen. Die 15 Kilometer nach Carlow, einem kleinen Dorf mit einer Kirche und einer winzigen Kneipe, wo wir hoffen, frisches Wasser zu bekommen, bestehen nur aus verwitterten Feldwegen und Maisfeldern. 


Die Einheimischen, die wir nicht sehen können, scheinen aber kluge Leute zu sein: Sie bremsen den gelegentlich wohl scharfen Westwind aus, indem sie Haselnusshecken entlang der Felder pflanzen, so dass wir unseren Weg wie in einem endlosen grünen Tunnel gehen.   Das ist schön, aber als wir Carlow erreichen, lösen sich alle unsere Hoffnungen in Wohlgefallen auf. Der Carlower Hof, das Gasthaus, in dem wir hofften, etwas zu essen und etwas zu trinken zu finden, ist geschlossen. Nicht wegen Corona und der Pandemie, nein. Der Wirt hat offenbar den Preis für den Niedergang der Grenzregion bezahlt. "Geschlossen seit Juli 2019" steht auf einem Schild im staubigen Fenster. 


Es ist gerade wieder ein sehr heißer Tag und unsere Wasserflaschen sind so leer wie die Straßen des Dorfes. Wir versuchen es in den halbwegs bewohnt wirkenden Häusern. Und wirklich - eine freundliche junge Frau hat Mitleid mit uns und füllt unsere Flaschen.   Aber die Probleme sind damit nicht am Ende. Wie immer hatten wir eigentlich geplant, abends außerhalb der Stadt nach einer schönen Wiese zu suchen, um unser Zelt aufzubauen. Aber hinter Carlow gibt es keinen solchen Ort. 


Wir gehen Kilometer für Kilometer, überall sind nur Pferde- oder Schafweiden hinter Zäunen, Maisfelder, die die Haselnusshecke erreichen, oder Waldstreifen mit dichtem Unterholz. Wir brauchen eigentlich nur ein paar Meter Platz, aber nicht einmal das existiert hier.   Wir sind verzweifelt, denn selbst die Wiese an einer alten Mühle, den wir auf der Karte gesehen hatten, entpuppt sich als Garten einer alten Frau, die hier ganz allein im Wald lebt. Sie schaut ängstlich über den Zaun, also stiefeln wir lieber schnell vorbei.


Erst ein paar weitere Kilometer weiter stranden wir in einem dunklen Wald, aus dem im Abendlicht eine kleine Lichtung unter einem alten Baum leuchtet. In der Nähe zerfällt eine Ruine, wie es scheint, einst ein Zollhaus, aber das ist alles. Keine anderen Häuser in Reichweite, keine Straßen, keine Nachbarn. Doch gerade als wir unsere köstliche Tomatensuppe mit frischem Carlow-Wasser kochen wollen, bellt ein Hund und Peter und seine Freundin Gabriele stehen vor unserem nicht ganz so legalen Campingplatz. 

Im ersten Moment befürchten wir, dass sie uns ihrem Dorf-Sheriff melden könnten, weil wir illegal campen. Aber die beiden sind sehr freundlich und freuen sich sogar ein wenig, zwei Wanderer zu treffen. "Hier ist nichts los", sagt Peter, "es gibt keine Kneipe und überhaupt nichts."   Wenn man hier etwas erleben wolle, müsse man mit seinem Hund rausgehen. "Aber normalerweise gibt es hier draußen auch nichts Besonderes." Wir sprechen über den Niedergang von fast allem von der Sekunde an, als alle glaubten, dass nach dem Ende der kommunistischen Ära endlich alles besser werden würde. Ist es besser? Ja, Peter schwört es. Aber gut? Nein, nein. Nicht einmal fast.


Je später am Abend, desto besser schmecken zumindest unsere privaten Wandercocktails. Dabei handelt es sich um eine hochgesunde Mischung aus Carlow-Wasser, Absolut-Wodka und Vitamintabletten mit Grapefruitgeschmack. Das ist zweifellos die beste Methode, ein geistiges Getränk dabeizuhaben, wenn das Gepäck mehr wiegt als man selbst.


Ein Viertel Literchen davon, und der warme Abend in der Einsamkeit zwischen dem kleinen Bach Maurine und dem Stover Mühlenbach ist noch mal doppelt so schön. Im Westen geht die Sonne unter, hinter dem Zelt weiden die Schafe und ein Himmel voller funkelnder Sterne hängt über uns. Prost! 
 

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Samstag, 17. April 2021

Zeitreise zu Fuß: Wo der Rost für immer schläft



Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.


Der Eiserne Vorhang, in unserer Zeit eine unsichtbare Mauer zwischen Freunden, Familienangehörigen und Klassenkameraden, hat tiefe Spuren hinterlassen - nicht so sehr in der Landschaft, aber in den Köpfen.   Und in einer Kleingartenanlage in der kleinen Stadt Boizenburg, in die wir uns nach einmal Falschabbiegen verirrt haben. Hier gibt es viele Zäune zwischen den Gärten - und wer den Grenzweg wandert, erkennt in Sekundenschnelle, woher das Geflecht zwischen den Pfählen stammt: Es ist der gute alte Chrom-Nickel-Stahl aus Westdeutschland, der verhindert hat, dass die Ostdeutschen in den Westen stürmten.   


  Nichtrostender Stahl, beste Ware. Ja, ohne Zweifel der haltbarste Zaun, den man bekommen kann, aber sehr teuer, wie Jens uns sagt. Für einen Kilometer Zaun zahlte die DDR 120.000 Mark, der gesamte Zaun kostete sie mehr als 165 Millionen. Und nun ist es ein Gartenzaun in einer Anlage, in der die ehemaligen Boizenburger Werftarbeiter ihre viele Freizeit verbringen, weil sie alle ihre Arbeit verloren haben.   Boizenburg ist nicht mehr die Industriestadt des Kalten Krieges. Die ganze Industrie ist weg, die Werften sind geschlossen. Was seit der Auswanderung der Elbdeutschen und der Ansiedlung anderer Stämme hier ab dem 8. Jahrhundert immer und immer weiter gewachsen war, schrumpft seit Jahren. Mittlerweile liegt schwere Apathie über der Szenerie. Alte Männer und alte Frauen sind auf den Straßen unterwegs, eine heißt „Straße der Jugend“. Sie sehen zu, wie Geschäfte und Fabriken leerstehen, während eine goldene Sonne sich im Wasser der beiden Flüsse Elbe und Boize spiegelt.

     Bis in die 1970er Jahre befand sich auch Boizenburg im direkten Sperrgebiet entlang der innerdeutschen Grenze, nach 1990 war es wieder frei, jetzt hätte es richtig losgehen können. 30 Jahre später hat die Stadt trotzdem tausend Einwohner weniger als 1950. Wir verabschieden uns mit einem Stück knochentrockenem Kuchen vom Salzbäcker an der Bahnhofstraße. Wir müssen jetzt wieder auf den Kolonnenweg. Es sind ja nur noch 100 Kilometer bis zu den Stränden der Ostsee. 


  Im Norden von Zarrenthin, einer kleinen, aber schönen Touristenstadt am Schaalsees, in der wir zur Halbzeit der Tour in einem Edelhotel übernachtet haben, endet jede Zivilisation ziemlich abrupt. Die Stadt hat einige alte Kirchen, ein kleines Kloster und am See ein paar schicke Segelclubs. Abends marschieren Scharen von Touristen über den Puppenstubenmarktplatz.  


 Aber wenn nicht weit außerhalb stolpern wir wieder in ein echtes Outback. 20 Kilometer ist da niemand, kein Dorf, kein Wanderer, nichts. Mitten in Deutschland, einem der am dichtesten besiedelten Länder Europas. Der ehemalige Eiserne Vorhang ist weg, aber irgendwie ist er doch noch da. Denn die Grenze befand sich hier einst in der Mitte des schönen Sees. Der vollkommen unzugänglich ist: Wir planen ein kühles Bad - aber es ist einfach vollkommen unmöglich, irgendwo ans Ufer zu gelangen.     Kein Strand, keine Uferpromenade, nur Dschungel. Erst nach zwei Stunden finden wir endlich den einzigen winzigen Ort, an dem es zum Wasser geht. Leider passiert das, als die Wolken sich dunkel färben und ein kalter Sturmwind aufzieht. 

 

  Also gehen wir so trocken weiter, wie wir gekommen sind. Unser heutiges Ziel ist ein weiterer kleiner Ort namens Kneese, den wir nach fünf oder sechs Stunden erreichen wollen. Unterwegs kommen wir durch Dörfer wie Lassahn und Techin, die im Kalten Krieg natürlich auch ein schweres Schicksal hatten, denn direkt nach dem Weltkrieg beschlossen die Russen und Briten bei einem Treffen in einem kleinen Pub in Gadebusch auch hier, einige Teile ihrer Besatzungszonen auszutauschen. 


Seen, Wälder und schlechte Straßen machten es einfach schwer, die Dörfer in ihrer jeweiligen Zone zu erreichen. Warum also nicht tauschen? Der Kommandeur der britischen Rheinarmee, ein Generalmajor Colin Muir Barber, und der der Roten Armee, ein Generalmajor Nikolaj Lyaschenko, einigten sich bei einem Treff in der Kneipe kurzerhand auf den Austausch von Ländereien und Dörfern.  

 

  Die Menschen, die hier lebten, mussten die Rechnung bezahlen. Die mehr als 650 Jahre alte Grenze zwischen Lauenburg und Mecklenburg wurde am 13. November 1945 im Gadebuscher Restaurant "Goldener Löwe" neu gezogen. Es gab keine Diskussion. Die Leute wurden kurz darüber informiert, dass die Neuaufteilung "endgültig und irreversibel" wäre. Familien, die nicht bereit waren, auf der kommunistischen Seite der Grenze zu leben, hatten 48 Stunden Zeit, um ihre Häuser zu verlassen.Und so wurde gepackt und geladen, Getreide gedroschen und Vieh geschlachtet, Tag und Nacht. Alles musste dann über den Schaalsee transportiert werden, denn die Straßen rund um den See waren russisch besetzt. 

 

  Mit einer Fähre, einem Amphibienauto der Briten und Fischerbooten wurden 309 Pferde und Fohlen, 1.130 Rinder, Schafe und Schweine, landwirtschaftliche Maschinen und Geräte, Getreide- und Tierfutter, Kartoffeln, Rüben und andere Lebensmittel, Möbel, Einrichtungsgegenstände und andere große Gegenstände wegtransportiert. 209 von 238 Einwohnern von Techin verließen ihre Heimat, nur 29 blieben zu Hause.   75 Jahre später wirkt das Gebiet immer noch gähnend leer. Aber immerhin, so sagt ein Schild, gibt es hier eine Feenschule!   Nach einem gewaltigen Marsch, wieder viel länger als gedacht, erreichen wir Kneese, ein Dorf mitten im Nirgendwo, wo unsere Gastgeberin Anke eine vegane Pension namens Forsthof betreibt. 500 Meter von der ehemaligen Todeszone und einer Gedenktafel für den Flüchtling Henry Weltzin entfernt, der 1983 hier erschossen wurde, genießen wir veganes Chili und ein paar Belohnungsbier und legen nach dem Duschen den Kopf auf ein paar schöne, saubere Kissen für die Nacht. 

  Am nächsten Morgen macht Anke Frühstück, dann geht es wieder raus auf den Gegenentwurf zum berühmten "Jakobsweg". Hier trifft man wenig Menschen, es ist eher eine Reise in die Einsamkeit, auf der man leeren Orten, der Natur und vielen Bäumen und Tieren begegnet. Niemand geht diesen Weg, nur wir. Und hinter Kneese wird es noch leerer. Die Landschaft ist nun nicht mehr nur einsam. Sie scheint leer wie die dunkle Seite des Mondes. 


 

Mittwoch, 17. März 2021

Iron curtain trail: Unter der Last der Geschichte

 

Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.


Petra hat sich nach der Wende ein Stück Grenzzaun gekauft und es direkt neben ihrer Apfelplantage aufgestellt. Drei Pfeiler, zwei Zäune, ein Schild "Warnung, Grenze, Einreiseverbot" steht nun neben der alten Schule in Neu Wendischthun, nur wenige Steinwürfe vom Elbufer entfernt. "Ich will allen zeigen, wie es hier früher war", sagt die Frau, die ihr ganzes Leben im Sperrgebiet an der Grenze verbracht hat. Ein unglaubliches Leben: "Dreißig Jahre lang", sagt sie, "habe ich die Elbe selber nie gesehen". Erst als die DDR vor 30 Jahren zusammenbrach, konnte Petra zum Damm hinaufgehen und einen ersten Blick auf den Fluss werfen. "Das war so schön", sagt sie, "weil unsere ganze Familie all die Jahre dort drüben war und wir hier und nicht rüber konnten.“  


Viele weinten, als die ersten improvisierten Boote die Kluft zwischen Ost und West überbrückten. "Und es war klar, dass alle sehr schnell alle Zäune und Türme und Sicherheitssysteme loswerden wollten", sagt sie. Es ging einfach nicht mehr, glaubte Petra. Ehe man sich versah, war alles weg. Keine Wachtürme mehr, keine Zäune, keine Spuren der ehemaligen eisernen Grenze. Schade irgendwie, fand sie.   "Vor allem die Zaunpaneele waren die allerbeste Ware", klagt sie, "Franz Joseph Strauß hatte Honecker dafür einen Milliardenkredit gegeben". 


Petra ist keine Frau, die über den gefallenen Eisernen Vorhang traurig ist. Aber sie will sich und andere an die dunklen Zeiten erinnern. "Es ist vorbei", sagte sie, "aber wir sollten immer daran denken."    Weil Radfahrer und Wanderer fragten, warum denn vom Eisernen Vorhang überhaupt nichts mehr übrig sei, fuhr Petra eines Tages nach Bayern hinunter. "Ich hatte gehört, dass dort jemand Teile des alten Grenzzauns verkauft.“ Und tatsächlich - das fünf Meter breite Stück, das jetzt neben den Apfelbäumen und dem Kinderspielplatz steht, ist aus Süddeutschland importiert worden. 


"Es ist genau die gleiche Art von Zaun, wie er hier bei uns stand", versichert Petra, die es wissen muss, denn sie hat unten im Haus ein kleines Museum eingerichtet. Man sieht Bilder von ostdeutschen Grenzsoldaten, vom Grenzzaun und von den glücklichen Momenten, als die Mauer fällt und die Leute aus der Gegend eine Party am Ufer feiern.   Danach geht es für uns zurück in die Spur, zurück unter die Last und zurück in die ehemalige tote Zone, die heute ein Ort des Lebens, der Natur und seltener Tiere ist. Den riesigen Rucksack hoch, Trekkingschuhe an und wieder geradeaus in den Norden.  


Die Sonne scheint wieder wunderbar und wir finden ein kleines Kaffeehaus direkt am Elbdamm mit einem leckeren Frühstück. Die Radfahrer sind wie immer in Jack-Wolfskin-Scharen unterwegs und die Tische alle voll. "Die Zeiten, in denen alle hier weggehen wollten, sind vorbei", erzählt der Chef des Ladens. Eher kämen Leute zurück. Und die seien jung, sie kauften die alten Bauernhöfe und modernisierten sie. "Es gibt genug Arbeit, aber die meisten fahren in den Westen.", sagt der Mann. Dort verdiene man doppelt so viel wie in Schwerin, der nächstgrößeren Stadt im Osten. "So viel zur deutschen Wiedervereinigung."  


Die Häuser am Wegesrand erzählen jede Menge Geschichten von genug Geld, um Dächer zu decken, Solaranlagen zu bauen und zwei Garagen zu benötigen. Die Natur ringsum sieht aus wie ein einziger Vorgarten, die Vögel zwitschern und die Bauern bieten Äpfel, Honig und Kartoffeln am Gartenzaun an. Seit das gottverlassene Gebiet zwischen Brandenburg, Niedersachsen und Mecklenburg von Touristen entdeckt wird, erlebt es eine  Blütezeit. Kein Gedanke mehr an die schlimmen Jahre, als die Weltmächte an einem Bartisch Poker spielten, wer in die Ostzone eingesperrt werden sollte und wer in Freiheit leben durfte. 


Wir laufen unterm Gewicht unserer Rucksäcke den Kolonnenweg entlang, und Henry, ein Mann, der in Popelau, einem kleinen Dorf am Flussufer, über seinen eigenen Zaun schaut, erzählt uns einen weiteren Teil der Geschichte. Es geschah 1945, als Ost und West zu einer Einigung kamen: Das gesamte Gebiet, das bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zum Landkreis Lüneburg am westlichen Elbufer gehörte, wurde russisch und in einen Teil des Landes Mecklenburg umgewandelt. Das geschah wieder nur aus praktischen Gründen – es gab hier keine Brücke über die Elbe und deshalb Versorgungsschwierigkeiten.

Für alle, die hier lebten, bedeutete das die Wahl zwischen Gefangenschaft und eiliger Flucht. Wer in den ersten 24 Stunden nach der Entscheidung zur Übergabe der Westecke im Osten an die sowjetische Besatzungszone im Juli 1945 nicht packte und ging, wurde bis 1989 zwangsweise in einen Bürger der DDR.   So schön die Natur, so grausam das Schicksal. Wenn die Bauern zu ihren Kühen gingen, passte die Grenzwache auf jeden LPG-Mitarbeiter auf. Wenn die Armee ein Manöver durchführte, waren keine Wachen verfügbar. Niemand durfte zu den Tieren gehen. „Und die Kühe schrien, weil sie nicht gemolken werden konnten“, erzählt uns ein Mann und er zeigt auf die Kühe, die jetzt friedlich auf der Weide stehen.  


Zeiten, von denen niemand etwas weiß, der heute mit seinem Elektro-Fahrrad über den Damm zischt und den frischen Wind, den blauen Himmel und die Natur genießt. Erst nach 40 Jahren fanden in den acht alten West-Gemeinden auf der Ostseite Gemeinderatswahlen statt, und nach der Volksabstimmung wurde der alte Landkreis Neuhaus neu gegründet. Sie alle seien entschlossen gewesen, wieder nach Niedersachsen zurückzuziehen. "Aber das ist auch nicht leicht", hatte Petra uns berichtet, "denn wir sind jetzt nicht hier, aber auch nicht richtig dort".