Donnerstag, 27. Oktober 2016

Nachruf: Manfred Krug, der Glatzkopf aus der Zone


Seinen letzten Hitparadenerfolg hatte Manfred Krug an der Seite von Charles Brauer mit einem Album voll gut abgehangener Oldies. Erst zu dieser Zeit entdeckte der Schauspieler den Sänger in sich wieder.

Popstars sehen anders aus. Popstars haben keine hohe Stirn bis in den Nacken. Nicht ein Delta aus Lachfältchen um die Augen. Keinen Schmerbauch unterm Doppelkinn, nicht diesen fatalen Hang zum Hosenträger, und meist tragen Popstars auch nicht gewienerte Halbschuhe zur scharf gebügelten Cordhose.

Nur zählt das alles nicht, weil Charles Brauer und Manfred Krug nicht mehr jung, hübsch oder modisch waren, also sie mit wohlig-warm gebrummten Weisen Marke "Stormy Weather" Teenie-Lieblinge wie Oli P., Weltstars wie Bryan Adams und Jazz-Legenden wie Al Jarreau in den deutschen Verkaufshitparaden hinter sich ließen.

Es war der letzte Aufruf für Manne Krug, wie ihn seine Fans und Bewunderer nannten. Als „Tatort“-Kommissar Stoever hatte er mit seinem Kollegen Brauer alias Brockmöller bei den Dreharbeiten auf einer kleine Vogelinsel in der Elbmündung Langeweile gehabt. "Ein Leuchtturm, zwei Bauernhöfe, zwei Kneipen", beschrieb Manfred Krug, "also keine Möglichkeit, den Drehtag mit ein bisschen guter Musik, einem schönen Wein und einer guten Zigarre ausklingen zu lassen."

Doch wie der Zufall wollte, stand im Gasthof, in dem er gemeinsam mit seinem Partner Charles Brauer untergebracht ist, ein Klavier: "Ja, und da haben wir halt abends davor gehockt und ganz spontan ein paar Lieder gesungen", erinnerte sich Charles Brauer, "wir hatten in dem Moment wohl auch einen Kleinen sitzen."

Das Publikum der Premiere der beiden Brummbären ließ sich an zwei Fingern abzählen. "Manfred spielte, ich fing einfach an, das Ding zu singen", erzählt Brauer,"und Manfred sagte, Mensch Brocki, ist ja toll." Der Anfang einer Rückkehr des Manfred Krug zur Karriere des Sängers, die er in der DDR hatte.

"Als ich noch dort lebte", erzählt er, "war das ja auch eher eine dankbare Sache, denn da gab es keine amerikanischen Originale, da musste man das selber machen." Gemeinsam mit dem Musiker und Orchesterleiter Günther Fischer spielte Krug damals neun Schallplatten ein, auf ausverkauften Tourneen feierten die Menschen ihn und seine "Berliner Jazzoptimisten".

Krug, zu DDR-zeiten als Clemens Kerber auch Autor seiner eigenen Stücke, war unter der Käseglocke der DDR-Kultur alles auf einmal: Blood, Sweat & Tears, Ray Charles und Frank Sinatra.

Seine komödiantischen Kabinettstückchen wie "Der Hase im Rausch" und "Die Kuh im Propeller" können nicht nur beinharte Fans bis heute in exakter Manne-Manier rezitieren.

Nach der Ausreise des Superstars des DDR-Soul blieb von der Herrlichkeit nicht viel. "Als ich rüber kam, bin ich noch einmal ins Plattenstudio", sagt Krug, "aber da kamen kaum die Kosten wieder herein." Im Westen habe ihn niemand gekannt, meint er, "die Leute haben zu Recht alle auf Milva geguckt, nicht auf diesen Glatzkopf aus der Zone."

Krug, der sich über die Rolle des Fernfahrers Franz Meersdonk in der Vorabend-Serie "Auf Achse", wieder ins große Geschäft kämpfte, hat das Singen nicht vermisst. Das Publikum vermisste ihn auch nicht. Zwanzig Jahre blieb es bei gelegentlichem Brummeln vorm Badezimmerspiegel, ohne dass ihm etwas fehlte. "Ich habe mich wieder auf meine eigentliche Arbeit kapriziert", sagt der 63-Jährige, der seine Liebe zum "antiken endgültigen Schlager" nur noch als Schallplattensammler pflegte.

Doch je älter er wurde, desto mehr zog es ihn zurück auf die Bühne. Kleine Bühne, gern mit Uschi Brüning, volle Säle, aber meist in der Provinz. Krug, der immer in der ersten Reihe stand, ließ sein Leben im wahrsten Sinne ausklingen. Er sang "Alright, Okay, You Win" und „On the sunny side oft he street“, dünner geworden, aber immer noch ein Charakterkopf, der sich lange Touren zumutete, die mancher halb so alte Künstler abgelehnt hätte.Aber Krug war ein Zirkuspferd, eine der Bühnenmaschinen, die raus müssen und Publikum brauchen, weil sie sonst eingehen.

Als er starb, 20 Jahre nach seinem letzten Film und nur zwei nach seiner letzten CD, zudem direkt aus einer laufenden Tournee gerissen, wurde er als Schauspieler betrauert. Und als "ostdeutscher Schauspieler" sowie - obwohl er gerademal 20 seiner 60 Karrierejahre in der DDR verbachte.



Samstag, 22. Oktober 2016

Harald Welzer: Im digitalen Heuhaufen


Der Zukunftsforscher Harald Welzer sieht die Gesellschaft vom Internet bedroht.

Alles auf einmal, alles gleich und am besten alles auch noch überall und jederzeit - die Versprechen der digitalen Zukunft haben die Gesellschaft im letzten Jahrzehnt stärker verändert als Mauerfall und Ende des Staatssozialismus. Die Welt ist offener geworden, kleiner und gleicher, neue Firmen wuchsen zu Giganten, alte Wirtschaftszweige brachen zusammen. Technologie löste Menschen ab, der Handel mit digitalen Gütern den mit echter Ware.

Und doch meldet der Zukunftsforscher Harald Welzer, im Hauptberuf Professor für Transformationsdesign an der Uni in Flensburg, Zweifel an. Die frohe Zukunft aus selbstdenkenden Maschinen, riesigen Cloudspeichern mit eigenem Lernvermögen und allmächtigen Großunternehmen wie Google, Apple und Amazon als Profiteuren sieht der 63-Jährige als "Angriff auf unsere Freiheit", wie es im Untertitel seines neuen Buches "Die smarte Diktatur" heißt.

Welzer, der zuletzt mit "Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand" Konsumwahn und "politisches Illusionstheater" (Welzer) gleichermaßen - und gemessen an Verkaufszahlen sehr erfolgreich - kritisiert hatte, schlägt diesmal einen großen Bogen von der Verfolgung im Nationalsozialismus zum Datentracking durch kommerzielle Unternehmen und staatliche Behörden. "Diese Formation macht die totale Überwachung von Menschen perfekt umsetzbar wie noch nie in der Geschichte", urteilt er.

Selbst im Kleinen, auf der äußersten Benutzeroberfläche, zeigten sich die Folgen. Daten aus sozialen Netzwerken dienen als Futter für sogenannte Shit Storms, Menschen werden aufgrund ihrer öffentlich geäußerten Meinung zu einem bestimmten Thema als ganze Person angegriffen und zuweilen richtiggehend vernichtet.

Eine Gesellschaft lernt daraus, sie verändert sich.


Sie spricht irgendwann nicht mehr offen aus, was sie im Inneren bewegt.

Freiheit, eigentlich die Abwesenheit von Zwang, wird subtil neu zugeteilt. Der moderne Mensch nimmt sie sich selbst. Und verliert sie gleichzeitig dabei, ohne es zu spüren. Harald Welzer beschreibt das nachvollziehbar, bleibt aber hier nicht stehen. Nach und nach entblößt er die tieferen Strukturen des digitalen Heuhaufens: die im Elend gründenden Lieferketten der glänzenden Smartphone-Wirtschaft, die allein in Deutschland die Energieproduktion von vier Atomkraftwerke verzehrenden Serverfarmen, die globalisierte Billigproduktion von Lifestyle-Artikeln. Und das alles nur, schließt Harald Welzer messerscharf, um "Probleme zu lösen, die wir zuvor nicht hatten".

Zu drastisch, aber nötig, um die Grundanklage des Neokolonialismus zu begründen, die er schließlich erhebt. An den habe die Menschheit ihre Zukunft verloren, es sei Zeit, sie von der "smarten Diktatur" zurückzuholen. Wenn es denn nicht schon zu spät ist.




Donnerstag, 20. Oktober 2016

So gründlich hätte ein Atomkrieg die DDR vernichtet


Als es frostig wurde im Kalten Krieg, spielten die USA die Möglichkeit durch, die Sowjetunion mit einer Serie von massiven Atomschlägen nuklear zu enthaupten. Nicht nur die UdSSR selbst war dabei im Visier, sondern auch deren verbündete Staaten in Osteuropa. Allein zwischen Erfurt und Peking zählt die geheime Liste mit der Identifikationsnummer 32006765 genau 948 Orte, die als Ziele ausgemacht waren. Gemeinsam ist allen Städten, dass es sie nicht mehr geben würde, wären die Pläne aus einer Atomkriegsstudie des US-Militärs jemals zum Einsatz gekommen. Das Strategic Air Command (SAC) der US-Luftwaffe hätte sie förmlich ausgelöscht, wie sich mit Hilfe der Online-Simulation Nukemap simulieren lässt.

Auch Halle wäre im Fall einer Eskalation der Auseinandersetzungen mit dem Warschauer Pakt nach den Vorgaben des SAC-Chefs General Curtis LeMay komplett zerstört worden. Mit zwischen 36.000 und mehr als 100.000 Toten und 50.000 bis 100.000 Verletzten hätte es die Stadt nach einem Besuch der US-Atombomberflotte mit B-47-Bombern aus Großbritannien, Marokko und Spanien und B-52 aus den USA nicht mehr gegeben.

Laut der „Air Power & Systematic Destruction List“ stand Halle nicht direkt auf der Zielliste. Doch um einen nuklearen Schlagabtausch zu verhindern, wollten die USA Städte mit sowjetischen Truppenstützpunkten wie Merseburg, Aken, Bernburg, Tröglitz, Dessau, Merseburg, Wittstock oder Zerbst so massiv angreifen, dass die Saalestadt ebenfalls zum Ground Zero geworden wäre. Eine zweite Liste sogenannter Delta-Targets enthielt dann weichere Ziele wie Verkehrsknotenpunkte, Städte und Industriezentren. Spätestens jetzt wäre nach einem 800-seitigen Papier, das nach einer Klage des Journalisten Michael Dobbs im Dezember 2015 vom Nationalarchiv freigegeben werden musste, ganz Ostdeutschland zu einer atomaren Wüste geworden.

Weil überwiegend Explosionen auf dem Boden vorgesehen waren, um die Infrastruktur möglichst gründlich zu zerstören, rechnete die Air Force zudem mit einem viel höheren nuklearen Fallout als bei gleich großen Nuklearexplosionen in der Luft, wie sie Hiroshima und Nagasaki zerstört hatten. Diese Phase der „systematischen Zerstörung“ des sogenannten „kriegsfähigen Potentials“ des Ostblocks hätte den Abwurf von Atombomben mit einer Sprengkraft von nur 0,16 Megatonnen vorgesehen. Auch das ist aber immerhin noch acht Mal mehr als die Nagasaki-Bombe hatte.



Freitag, 14. Oktober 2016

Bob Dylan in der DDR: Muffliger Gott mit Gießkannenstimme

Ein warmer Tag. Und die ganze Republik ist auf den Beinen. Keiner, der nicht gut drauf zu sein scheint. Wochenlang war das Ereignis ausgiebig diskutiert und minutiös vorbereitet worden. Abfahrt dann, dort und dort, Fahrt, Halt zum Bierholen an dieser und jener Stelle, Weiterfahrt und Treff mit den anderen, wer immer das im Einzelfall war. Irgendwie bedeutete Dylan ja plötzlich selbst denen was, die sonst nur Van Halen und Genesis hörten.

Hätte es, was damals nicht der Fall war, die verunglückten Spätwerke des Meisters in den "Plattenläden" genannten staatlichen Verteilstationen gegeben und wären, was bis zuallerletzt nicht erlaubt wurde, außerdem richtige Hitparaden zugelassen gewesen, niemand hätte dem altgewordenen zornigen jungen Zimmermann die Nummer eins streitig machen können. Dylan war, wenigstens, bevor er dann wirklich auf die Bühne kam und grußlos ein Lied namens "When The Night Comes Falling Down" zu nölen begann, mehr als irgendein Sänger sonst in irgendeinem Konzert. Mit ihm zog die neue Zeit, er kündete unübersehbar vom Ende der ostdeutschen Popprovinz.

* * *

So wenigstens hatten es sich die Hunderttausend auf der Wiese vor der Parkbühne in Treptow ausgedacht, die ihm wie auf einer verfrühten Republiksgeburtstags-Kundgebung seltsame Losungen wie "Fürstenwalde grüßt Bob Dylan" entgegenreckten. Ein bißchen Anbiederung, ein paar warme Worte und ein klein wenig "Sing-with-me" und Dylan hätte als Erlöser enden können. Das wurde dann allerdings doch nichts.

* * *

Nachmittags hatten noch alle Nachwuchs-Bobs der Republik an allen Straßenecken Berlins ein "Like A Rolling Stone" genäselt. Abends dann war Gott nur ein fusselbärtiger Mann im Bauernhemd, der mit Gieskannenstimme uninspiriert vor sich hinmummelte. Dazu konnte man weder besonders gut tanzen noch im Takt klatschen. Das zweifellos Bemerkenswerteste an seinem Konzert war die ratlose Begeisterung der Massen, das grußlose Ende nach kaum mehr als neunzig Minuten und der anschließende Versuch der Heimfahrt, bei dem sich zehntausend Menschen in die sieben Waggons des einzigen Reichsbahn-Nachtzuges Richtung Süden zu zwängen versuchten. Es klappte nicht. Das war die DDR.

* * *

So groß die Enttäuschung am Tag danach - geträumt wurde weiter unverdrossen. Was hat er wohl sagen wollen, indem er gar nichts sagte? Geübt im Lesen zwischen den Zeilen, versuchten sich Stammtischrunden an der Dechiffrierung der Dylan`schen Botschaft. Es gab Bier, 56 Pfennige das Glas, und es gab "Goldbrand" dazu und die Kneipen machten Schluß, wenn es am Schönsten war. Das war mitten in der Nacht und die Lösung von "how does it feel" stand in den trüben Sternen über Halle-Neustadt.

Sonntag, 9. Oktober 2016

Die DDR im Rückspiegel: Es war nicht alles, vieles ist auch noch


Zweieinhalb Jahrzehnte nach dem Mauerfall sind die Schatten der DDR verblichen, verschwunden aber sind sie nicht. Ein Blick zurück zeigt nach Meinung mancher, "wieviel DDR in der heutigen Bundesrepublik steckt". Nein, es war nicht alles. Manches ist immer noch.

Es ist der Ketchup, der am meisten fehlt. "Meine Oma hat den so genial gemacht", schwärmt Christian Vetter bis heute nach dem Mauerfall. Der überspülte das Gebiet der ehemaligen DDR mit einer Welle aus echter Tomatensauce. Doch Vetter hat noch immer den Geschmack der selbstgemachten Soße auf der Zunge. Mitte 30 ist er, arbeitet beim ADAC und denkt nur noch selten an die DDR, die das Land seiner Kindheit war. Nur manchmal überkommt ihn die Sehnsucht nach dem Eigenbau-Ketchup so heftig, dass Vetter, eher der Typ für den schnellen Bissen im Restaurant, sich sein Ketchup sogar selber kochen würde. "Leider weiß Oma das Rezept nicht mehr."

Wo statt der Rezepte nur Erinnerungen sind, ist die Entscheidung leicht, was gut war und was schlecht in und an der DDR. Die Kinder waren betreut, alle hatten Arbeit und man half einander, so schwingen die Grundakkorde, zu denen die Hälfte der Ostdeutschen heute ein von positiven Erinnerungen komponiertes Hohelied des DDR-Sozialismus singt.

So leicht aber ist es nicht immer, denn es war ja nicht alles und ist nun vergangen und vorbei. Vieles ist bis heute - in den Städten und in den Menschen. "Diese alte DDR-Kunst etwa, die an ein paar Fassaden klebt", sagt Christian Vetter, "man guckt, und sofort ist der Gedanke an die DDR wieder da."

Ein Gedanke, mit dem Mandy Wachtel stets zuerst "zu Hause" assoziiert. 14 war sie, als das SED-Regime zusammenbrach, das ihren Bruder aus der Familie hatte zwangsweise wegadoptieren lassen. "Die DDR hat mich geprägt", glaubt die Köthenerin, die in Mecklenburg lebt und bei einer Internetfirma arbeitet. Denke sie an früher zurück, sehe sie trotz der Erfahrungen ihrer Familie nicht Parolen und Paraden vor sich. "Sondern unser altes Haus, in dem ich mit meiner Oma wohnte." Das existiert fort in ihrem Kopf, nicht in der richtigen Welt. Als sie das letzte Mal dort gewesen sei, habe sie vergebens versucht, sich zu erinnern, wie früher alles aussah. "Mir kam alles seltsam fremd vor."

Wie ein anderer Planet, auf den man sich nicht zurückwünscht, selbst wenn man ihm zugesteht, "dass es eine Alternative zu der Gesellschaft war, in der wir jetzt leben", wie es Sven Moelke tut. Der Hallenser, der das Ende aller Gewissheiten als Pionier erlebte, hat sich sein DDR-Bild aus "Selbsterlebtem und Überliefertem zusammengepuzzelt" und ist überzeugt: So wie damals nicht alles schlecht gewesen sein könne, ist heute nicht alles gut. Die DDR spukt in ihren Kindern, die sie wiedererkennen, wo sie Schatten von ähnlicher Form sehen. "Heute erinnert mich die Subventionierung großer Konzerne an das Versagen eines Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells", sagt der Theatertechniker.

Ilko-Sascha Kowalczuk hält das allerdings so wenig für eine zulässige Parallele wie "gut" oder "schlecht" für nützliche Fragen. "Meine Kategorien lauten frei oder unfrei", sagt der Historiker, der zu DDR-Zeiten als Pförtner arbeitete, erst nach der Wende studieren konnte und mit dem Buch "Endspiel" eine minutiöse Beschreibung der letzten DDR-Monate vorgelegt hat. Richtige Fragen geben sich selbst die Antwort: "Wer will bestreiten, dass die DDR ein extrem unfreies Gebilde darstellte?" Als die Mauer fiel, war das für Kowalczuk dennoch kein Moment des Triumphes, sondern einer des Aufatmens. Er hält bis heute an: "Ich bin unendlich froh, dass es die DDR nicht mehr gibt."

Vom System selbst ist nichts mehr übrig als ein paar Worte an verblichenen Wänden. Die letzten Verfechter des vermeintlich besseren Deutschland haben sich in obskure Internetforen zurückgezogen, in denen sie Vor- und Nachteile der Planwirtschaft diskutieren. Hier gilt das Scheitern der DDR als Betriebsunfall. Gut gedacht, falsch gemacht! Die Realität geht, die Sehnsucht bleibt, wenn Freiheit selbstverständlich scheint, konstatiert Kowalczuk. "Viele Menschen träumen von Gleichheitsutopien und glauben, Geschichte könnte einen Endpunkt haben."

Hat sie nicht, da ist Rüdiger Thieme ziemlich sicher. "Alles geht immer weiter", sagt der 44-Jährige, "und der kleine Mann ist der Gekniffene." Längst sei der Anpassungsdruck in seinem Job als Kraftfahrer wieder "mindestens so groß wie früher", nur die Gründe seien andere. "Früher hieß es, wer muckt, kriegt Dresche, heute wer muckt, der fliegt." Der Unterschied: In der DDR habe man ihn wegen seiner großen Klappe auf dem Kieker gehabt, er aber habe wie seine Chefs immer gewusst: "Wenn´s mir zu bunt wird, bin ich weg".

Heute hingegen gebe es kein Land, in das man ausreisen könne.

Den Mann bekommt man aus dem Land heraus, aber nicht das Land aus dem Mann, sang der DDR-Liedermacher Gerhard Gundermann. Christiane Kühr, die aus Merseburg stammt und seit Ende der 90er in Bayern lebt, würde das auch als Frau sofort unterschreiben. "Ich fühle mich im Westen daheim", sagt sie, "aber ein Westler bin ich deshalb nicht." Die Erfahrungen aus 27 DDR-Jahren hat die Mitarbeiterin eines Ingenieurbüros "wie einen Rucksack immer dabei". Kein lästiges Gepäck, wie sie findet: "Ich kenne Muster im Verhalten von Menschen von damals und ich erkenne sie heute wieder."

Das geht auch dem in Eisleben geborenen Musiker Thomas Schoppe so. Erinnere er sich an die DDR, dann an "eine sich selbst in den Ruin stürzende Gesellschaft voller Lügen", sagt der Sänger der einst verbotenen Band Renft. Christiane Kühr wählt weniger drastische Worte, um gefühlte Ähnlichkeiten zu beschreiben: "Die Sprache der Politik in Phrasen erstarrt, der Kalender voller Rituale und im Fernsehen wird heile Welt gespielt." Lebendige Schatten der Gegenwart, die in den Farben der DDR schimmern. Bei den Freunden in Nürnberg freilich komme ihre Diagnose "einfach nicht an". Um zu sehen, was ganz anders so ähnlich funktioniere, müsse man die DDR wohl selbst erlebt haben. "Wer nur darüber gelesen hat, kann nicht mitreden."

Thomas Schoppe nickt. "Die Vielfalt der Meinungen schafft nur ein scheinbar objektives Bild", hat der Autor von Songs wie "Als ich wie ein Vogel war" in seinen drei Jahrzehnten DDR, 14 Jahren BRD und den Jahren im vereinigten Deutschland seitdem bemerkt. "Es gibt heute jede Menge Leute, die sich ein Urteil über die DDR anmaßen", sagt er, "und nur wenige, die den Mut haben, zur Beseitigung gesellschaftlich verordneter Verdummung im Westen aufzurufen."

Umso mehr "nervt es einfach, wenn mir solche Leute erklären wollen, wie mein Leben in der DDR war", sagt Matthias Gärtner. Der Hallenser saß früher für die PDS im Landtag von Sachsen-Anhalt und leistet heute als Mitarbeiter der Linken-Fraktion in Niedersachsen Aufbauhilfe West. Wo Gleichaltrige in Speyer und Siegen an die Barbiepuppen und Playmobil-Figuren ihrer Kindheit denken, fallen ihm "Intershop, FDGB-Heim, die furchtbare chemiegetränkte Luft in Bitterfeld und Brötchen für fünf Pfennig" ein. Mandy Wachtel dagegen denkt an "weniger Arbeitslose und weniger Gewalt" und gelegentliche DDR-Déjà-vus: "Manchmal lässt mich der Duft einer Schokolade innehalten". Auch Lieder versetzten sie zuweilen zurück in die Zeit, als Musik mehr war als eine Tapete aus Tönen. Das geht Thieme und Moelke genauso. "Manches berührt noch, anderes klingen hohl", sagt Rüdiger Thieme. "Das meiste schmeckt auch nicht mehr so wie früher", zuckt Mandy Wachtel die Achseln.

Die DDR liefert den Menschen, die in ihr lebten, bis heute manchmal Grund zum Schenkelklatschen, manchmal auch Gelegenheit, an der Gegenwart zu zweifeln. Es war nicht alles, einiges ist immer noch. Die Vergangenheit trägt nicht mehr Fleischerhemd, sie trinkt nicht mehr Rosenthaler Kadarka und schimpft über das Politbüro. Aber sie steckt in den Menschen und prägt ihren Blick auf die Welt.

"Der Umgangston auf Ämtern oder in Restaurants etwa", sagt Heidi Bohley, die vor der Wende zu den Köpfen der Opposition in Halle gehörte, "ist bis heute relativ häufig DDR". Neulich sei ihr in einer Gaststätte untersagt worden, sich eine Speisekarte selbst zu holen - die werde gebracht, Punkt! Ein eisiges Erziehungsrelikt aus dem volkseigenen Restaurant, in dem der DDR-Mensch fürsorglich platziert wurde, ob er wollte oder nicht. Und eine Frequenz, die denen, die sie schon einmal gehört haben, bekannt vorkommt: Veggie-Day und Rauchverbot, korrektes Sprechen und verbotenes Denken. "Manchmal ist die Wahrheit noch recht abenteuerlich", singt Reinhard "Oschek" Huth von der Leipziger Gruppe Karussell im alten Hit "Ehrlich will ich bleiben", "ruhiger lebt der noch, der sie schön behält für sich."

Es stimmt alles noch. "Oh, ein Leben lang auf der ausgetretenen Bahn, täglich gleicher Trott und Tran", heißt es in einem anderen Karussell-Stück, "oh, ein Leben lang, alles fertig, alles klar, was noch sein wird, alles wahr." Der Osten, er wurde nicht gebraucht, um die Demokratie der alten Bundesrepublik mitzubauen. Alles war fertig, alles war verabredet und klar. Man musste nur noch mitmachen wie damals beim wissenschaftlichen Kommunismus.

Für manchen früheren DDR-Menschen erzeugt das ein Deja vú. Ein Leben wie in einem Wartesaal, über dem "dieses Gefühl der Vergeblichkeit", schwebte, "dass die Zeit still steht und sich nie etwas ändern wird", wie es Heidi Bohley beschreibt. Sie habe früher in der Gewissheit gelebt, "dass die Dummen die Macht haben, die Intelligenten zu zwingen, so zu tun, als ob sie nichts merken vom gesellschaftlichen Stillstand". Vor ihrem Haus in der halleschen Innenstadt aber habe sich damals der Dreck auf den Straßen getürmt. Die Erinnerung mag da golden malen, soviel sie will. Das "Graue, Vergammelte, die Trostlosigkeit der Sprüche und Schaufenster, das war die Wirklichkeit", ist die Bürgerrechtlerin sicher.

Wie sie, die 1984 Berufsverbot erhielt, hat auch Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer den größten Teil seines Lebens in der DDR verbracht. "Das waren 40 Jahre, die mich geprägt haben", sagt der gebürtige Sachse, der von 1974 an in einem Wittenberger Krankenhaus arbeitete. Denkt Böhmer zurück, verurteilt er nicht. Aber auch er erinnert vor allem "die vorsorgliche Reglementierung aller Lebensbereiche, wobei möglichst nichts dem Zufall überlassen bleiben sollte". Dass die DDR für andere dennoch anders gewesen sein könnte, ist Böhmer klar. "Erinnern ist immer subjektiv. Ich würde es keinem Betroffenen abnehmen, der von sich behauptet, in dieser Frage objektiv zu sein."

Darum gehe es aber gar nicht, glaubt Christian Vetter. "Sicher kennen externe Experten mehr Fakten - aber wenn man nie Trabbi gefahren ist oder in der Bananenschlange gestanden hat, ist alles Wissen Theorie." Gut oder schlecht, vergangen oder immer noch da - intellektuell könne die DDR begriffen werden, verstanden aber? Heidi Bohley winkt ab: "Wie soll man jemandem erklären, dass es existentiellen Mut brauchte, sich stumm mit einer Kerze auf den Marktplatz zu stellen."



Freitag, 7. Oktober 2016

Trump: Annäherung an eine Schreckensfigur

Michael D’Antonio schreibt über den Mann, der US-Präsident werden will. Seinem Buch Die Wahrheit über Donald Trump ist allerdings deutlich die Antipathie des Autor anzumerken: Trump wird hier zum miesen, fiesen Unmenschen. Ein Konzept, das dem Erfolg des Buches helfen dürfte.

Er kam als sonderbare Witzfigur, ein komischer, greller Mann mit Helge-Schneider-Gedächtnisschopf, der große Töne spuckte. Doch in Kürze könnte Donald Trump trotzdem Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sein: Letzte Meinungsumfragen sehen den Kandidaten der Republikanischen Partei fast gleichauf mit Hillary Clinton, seiner demokratischen Konkurrentin. Trump wäre die erste Witzfigur im Weißen Haus, zumindest wenn man den weitgehend übereinstimmenden Berichten in verschiedenen Medien glaubt.

Wie konnte es so weit kommen? Was ist es, das den groben, lauten 70-Jährigen zumindest bei einem Teil der Amerikaner so populär macht, dass er binnen eines Jahres vom krassen und belächelten Außenseiter zum ernsthaften Kandidaten auf das mächtigste Amt der Welt wurde?

Michael D’Antonio, erfahrener Autor historischer Sachbücher etwa zu den Skandalen der katholischen Kirche oder zur US-Atomrüstung, wollte es anfangs gemeinsam mit Donald Trump herausbekommen. Damals, als noch niemand glaubte, dass es Trump so weit bringen könnte.

Der frühere Journalist traf sich mit dem Milliardär, man beschnupperte sich, rieb sich aneinander. Und Trump sagte ihm korrekt voraus: Ehe wir fertig sind, werde ich sie verklagen. So kam es, denn Trump gefiel nicht, was D’Antonio schrieb. Und so kommt es nun, dass D’Antonios Buch - im Original „Nie genug“ überschrieben - in der deutschen Übersetzung nun „Die ganze Wahrheit über Donald Trump“ heißen kann.

Es ist ein Fleißwerk, das der Amerikaner, der auf Long Island lebt, da geschrieben hat. Detailverliebt bohrt er sich in die Trumpsche Familiengeschichte, er beleuchtet die Geschäfte von Opa und Vater und zeigt, wie und wo Junior Donald seine Grundeinstellungen erworben hat, die Kritiker mal „menschenfeindlich“, mal „erzkonservativ“ oder der Einfachheit halber gleich „irre“ und „wahnsinnig“ nennen. Welche Absichten und Ansichten das genau sind, bleibt meist verborgen. Ein paar Stichworte, knappe Zitate, fertig ist der Alptraumkandidat.

Was steckt aber nun tatsächlich hinter dem überraschenden Erfolg des zweifellos egozentrischen Milliardärs? D'Antonio zufolge sind es Wettbewerb und Ehrgeiz, die Trump antreiben. Der Mann will gewinnen, immer und überall und er sagt das laut. Eine Strategie, die im traditionell erfolgsneidischen Deutschland eher auf Ablehnung, in den mit Tellerwäscher-Stories großgewordenen USA aber für Achtung sorgt.

Trump ist ein Sonderfall. Der Sohn eines Baulöwen gilt dem Biografen als „extremes Beispiel für Obsession, Aggression und Unsicherheit“. Die überspiele er durch Schamlosigkeit, sei im Gespräch aber auch „schlagfertig, charmant und witzig“. Dass der „begnadete Provokateur“ mit seiner Kandidatur erfolgreich sein würde, verdanke sich weniger der Persönlichkeit Trumps als vielmehr seinem Gespür dafür, dass es gelingen könne, „Sorgen und Zorn verunsicherter Menschen auszunutzen, denen ein politisches System suspekt war, das von Menschen dominiert wurde, die den Parteien riesige Wahlkampfspenden zukommen ließen“.

Donald Trump gehört zweifellos selbst zu diesen System. Doch das auch von seinen Gegnern gepflegte Bild des Milliardärs mit der Moppfrisur als rücksichtslosem Querschläger hilft ihm bei der Selbstinszenierung als Rebell gegen das Establishment.

In Wirklichkeit, glaubt Michael D’Antonio, sei Trump nur eines: ein Narzisst, der es liebt, sich selbst im Spiegel der Öffentlichkeit zu bewundern. Ein Urteil, das einer Verurteilung nahekommt.

Mittwoch, 5. Oktober 2016

Steven Wilson: In seiner eigenen Zeit

Als Steven Wilson anfing, ernsthaft Musik zu hören, näherte sich das Zeitalter der Megabands gerade dem Ende. Genesis und Pink Floyd wurden vom Punk weggefegt, junge Bands ätzten alle Verzierungen aus der Rockmusik. Das änderte aber nichts an Wilsons Überzeugung, dass die später progressive Rock genannte Mischung aus Art-Rock, Metal und Klassik weiter Berechtigung haben wird.

Wilson gründete erst die anfangs nur aus ihm selbst bestehende Band Porcupine Tree, um seine Mission umzusetzen. Richtig erfolgreich im breiten Markt aber ist der stets barfüßig auftretende 46-Jährige, seit er unter eigenem Namen Musik macht. Vor allem das Monumentalwerk "The Raven That Refused to Sing" katapultierte den Soundbastler, Gitarristen, Sänger und Komponisten aus einer Nische der Populärmusik in die Charts.

Der Nachfolger des ehrgeizigen "Raven"-Albums, das sich bemüht hatte, keinerlei musikalische Grenzen mehr anzuerkennen, wurde inspiriert von der wahren Geschichte einer jungen Frau aus London, die drei Jahre lang tot in ihrer Londoner Wohnung gelegen hatte, ehe sie vermisst wurde. Wilson macht daraus ein Stück dramatisches Musiktheater um Vereinsamung und Anonymität. Acht Stücke, eingespielt mit allem, worauf sich Töne erzeugen lassen und teilweise überlang, entwickeln eine bedrohliche, klaustrophobische Atmosphäre. Manchmal klingt das nach den frühen Marillion, manchmal nach Dream Theater oder King Crimson.

Für Musik, die ganz kompromissloser Ausdruck der künstlerischen Vision eines Mannes ist, keine schlechte Bilanz.

Mit dem jetzt gerade veröffentlichten Album "Transience" geht Wilson noch einen Schritt weiter. Die Sammlung aus älteren Aufnahmen und Coverversionen, die der Multiinstrumentalist ursprünglich für eine Serie von Singles eingespielt hatte, ist kompakter und gefälliger als die Eigenkompositionen des vielbeschäftigten Produzenten und Labelchefs. Hier gibt es mehr akustisch orientierte Musik, darunter eine Interpretation von Porcupine Trees "Lazarus" und von Alanis Morisettes Superhit "Thank you", den Steven Wilson auf die reine Essenz eindampft.

Der produktionstechnische Größenwahn, der das Schaffen des Spezialisten für audiophile 5.1-Mixe sonst prägt, fehlt völlig. "Transience" schwebt zwischen Rock wie in "Harmony Korine" und klaviergestütztem Pop wie in "Insurgentes". Ein Album, das als Tor ins Universum eines der großen Musikgenies der Gegenwart funktionieren könnte.

Musik, die in sich selbst ruht, abseits aller digitalen Hektik, aller sozialen Netzwerk-Trends. Nicht aus der Zeit gefallen, sondern der Zeit so weit hinterher, dass sie ihr schon wieder weit voraus ist.

Montag, 3. Oktober 2016

Deutsche Einheit: Vergangenheit im Fleischerhemd


Einmal haben wir über die kleinen Atomkraftwerke gesprochen. Diese unendlich hässlichen Dinger, die in jeder Kneipe auf jedem Tisch standen, damals, als wir noch Kinder waren. Links Salz, rechts Pfeffer. Und in der Mitte unter einer bunten Plastekuppel etwas grün-grau Vertrocknetes, das einmal Senf gewesen war.

Komischerweise erinnerten wir uns alle an das drollige Löffelchen, das unter der Haube im hartgetrockneten Mostrich stak. "Das war der Spatel", sagte einer, und wir wussten noch, dass stets mindestens eine Zigarettenkippe genau da steckte, wo beim echten Atommeiler die Brennstäbe sind.

Wir haben daraufhin fast so laut gebrüllt vor Lachen wie dieses andere Mal, als wir uns über die Turnschuhe unserer Kindheit unterhalten haben, die "Botas" hießen und "Germina", in einem Laden verkauft wurden, der sich "Schnees" nannte, und die mit den Turnschuhen von heute soviel Ähnlichkeit hatten wie unsere farbechten Boxer-Hosen mit richtigen Jeans.

Zugegeben, es war Sonntagabend, wir saßen beim Bier und lachten vielleicht nicht nur, weil es komisch war, über Sachen zu reden, die längst vergessen gehört hätten. Aber gelacht haben wir. Gelacht über Einkaufsnetze von unglaublicher Dehnbarkeit. Über blau-weiß gestreifte Baumwollblusen, die aus Buna stammten, aus unerfindlichen Gründen jedoch "Fleischerhemden" genannt wurden. Gelacht auch über Handbewegungen wie die, mit der wir Bierflaschen aus dem Kasten nahmen, sie herumdrehten und schräg gegen das Licht hielten, um nach dem Anteil an Schwebteilchen die Wahrscheinlichkeit dauernder Gesundheitsschäden nach dem Genuss abzuschätzen. Oder den routinierten Griff, der den Plastik-Milchbeutel an einem Zipfel aus der Kiste hob und gemessen abtropfen ließ, um zu sehen, wie viele Lecks er wohl heute wieder habe.

Genauso gelacht haben wir früher, als wir uns in einer anderen Kaschemme treffen mussten, weil es die Kellnerschaft dort nicht so genau nahm mit dem Jugendschutz. Der Spaß damals war: Die Kneipe lag direkt gegenüber dem Hauptquartier der Staatssicherheit, und nicht nur der Brotfahrer, der für die MfS-Küche unterwegs war, trank am Nebentisch sein Feierabendbier, während wir uns amüsierten, wie seltsam das Land war, in das es uns verschlagen hatte.

So ist das gewesen in der Neubausiedlung, in der wir groß geworden sind. Es war grau und es war grässlich und wir hatten jede Menge Spaß. Es gab das Jahr, in dem alle AC/DC hörten. Dann kam der recht bizarre NVA-Jacken-Boom. Und schließlich begann die Zeit, in der jeder Gitarre spielen lernte und im Sommer nach Ungarn fuhr, um in Indien gepresste Platten von Queen und Levis-Jeans zu kaufen.

Eine Jugend in Deutschland, auch wenn die Gegend für den Moment anders hieß.  Einmal haben wir in einem seltsamen Anflug von Humor "Proletarier aller Länder, reinigt Euch!" riesengroß an eine Wand gesprüht, ein andermal den Durchgang an der Schule, in dem wir in der Pause unsere kratzigen "Karo" rauchten, mit flattrigen Fettstiftzeichnungen des Sängers Sting verziert. Es war eine Jugend in einem Land, das man Leuten, die nicht dort gelebt haben, nicht erklären kann.

Wir sind nie erwischt worden. Wir sind die glückliche Generation. Wir haben auch nicht wirklich in der DDR gelebt wie unsere Eltern. Wir hielten uns dort auf, ja, schon, natürlich. Allerdings waren wir in Gedanken bei der Hessenhitparade mit Werner Reinke, Udo Lindenberg war unser Held, Freddie Mercury eine Lichtgestalt und alle unsere Träume handelten von Mädchen und Musik, nicht von Mangelwirtschaft.

Daheim waren wir nicht in den Wohnblöcken, sondern auf den Bänken dahinter. Wir hätten immer noch weggehen können, wenn es eines Tages wirklich zu blöd geworden wäre.

Nicht einmal das mussten wir. Der Fettstift-Sting war noch nicht ganz verblasst, da war die DDR verschwunden. Einer ist dann nach Frankreich gezogen, eine nach England, eine nach Argentinien, ein anderer nach Bangkok. Ein paar wohnen heute im Westen, ein paar in Berlin und einer will in die Türkei auswandern.

Je größer die Welt wird, desto kleiner ist das Stückchen, das wir Zuhause nennen können. Durch Halle-Neustadt fahren wir mittlerweile selten, außer einem von damals wohnt dort auch keiner mehr. Ein paar von den anderen sieht man manchmal in der Kneipe oder bei Partys.

Die übrigen kommen hin und wieder zu Besuch in der Vergangenheit.