Mittwoch, 26. November 2014

Das späte Glück der Queen of Rock

In ihren ganz großen Jahren, als sie Stadien füllte und die Hitparaden anführte, bestand Anna Mae Bullock vor allem aus Haar. Viel Haar, langes Haar, wallendes Haar, kombiniert mit kurzen, engen Röcken und einer Stimme, für die der Begriff „Rockröhre“ erfunden worden war, so fegte die Frau aus Nutbush, Tennessee, über die Bühnen. Tina Turner, der Name, unter dem Anna Mae unterwegs war, unterschied vor allem eins von ihren Konkurrentinnen: Die Tochter eines Baptisten-Predigers und einer indianischstämmigen Mutter war bereits Mitte 40 und sie hatte bereits eine Karriere hinter sich, die anderen Künstlern für zwei Leben gereicht hätte.

Begonnen hatte alles Anfang der 60er Jahre, als die bei dem Bandleader Ike Turner angestellte Background-Sängerin für den Song „A Fool in Love“ kurzfristig am Hauptmikrophon einsprang. Das Lied wurde ein Hit, aus Anna wurde Tina und aus Tina und Ike ein Paar.

Doch kein glückliches. Ike trank und misshandelte seine Frau, beruflichen Erfolgen folgten private Fehden, in denen der drogensüchtige Pianist und Gitarrist seine Frau schlug. 1976 hatte Tina Turner genug: Noch blutend von einer Auseinandersetzung mit ihrem Mann verließ sie das gemeinsame Haus, um nie zurückzukehren. Acht Jahre lang schlug sie sich dann durch, mit mittelprächtigen Bands und nachgesungenen Hits. Erst mit dem Album „Private Dancer“ gelang ihr 1984 der ganz große Durchbruch. Mark Knopfler von den Dire Straits hatte ihr den Titelsong geschrieben, Terry Britten lieferte „What’s Love Got to Do with It“ und mit Mel Gibson stand sie im Hollywood-Reißer „Mad Max“ vor der Kamera - das Mädchen aus Nutbush war nun die „Queen of Rock“.

Ihre Erfolge hat Tina Turner danach klug verwaltet, eine neue Liebe fand sie im deutschen Musikmanager Erwin Bach, eine neue Heimat in der Schweiz. 2010 war sie sogar noch einmal Platz 1: Mit „The Best“ schaffte sie es in Schottland an die Spitze der Charts, 44 Jahre nach ihrem Hit-Debüt. Heute wird Tina Turner 75 Jahre alt.

Freitag, 7. November 2014

Wolf Biermann: An der Rampe der Weltgeschichte

Wallraff dreht das Autoradio lauter. Biermann schiebt den Kopf nach vorn. Lauscht. Die Stimme des Nachrichtensprechers verkündet gerade das Todesurteil, mitten auf der Autobahn Köln - Bochum: Die Regierung der DDR habe beschlossen, dem Sänger Wolf Biermann die Wiedereinreise nicht zu gestatten. "Mir war", das Erschrecken ist dem Liedermacher eingebrannt ins Hirn, "als würde ich meiner eigenen Hinrichtung zuhören." Gewundert habe ihn nur, "dass mein Kopf weiter dachte."

Wolf Biermann hat nichts vergessen in den 25 Jahren seitdem. Entspannt sitzt er auf der Ledercouch im großen, hellen Wohnzimmer seines Hamburger Hauses, rezitiert plattdeutsche Verse vom kleinen Johann und der großen Welt im halleschen Dialekt seiner Oma Meume. Und rekapituliert nebenher Geschichte in winzigen Details.

Das Auto damals war zum Beispiel der 200er Mercedes irgendeines Gewerkschaftsmannes, die Reifen runderneuert. Die Besatzung unterwegs vom Kölner Konzert des DDR-Dissidenten zum zweiten Tour-Termin in Bochum. Und Biermann, Sohn einer Maschinenstrickerin und eines in Auschwitz ermordeten Hafenarbeiters, trug Steine in der Tasche, die er mit Günther Wallraff gesammelt hatte, um sie Freunden daheim in Ost-Berlin zu schenken. "Wunderbare Kiesel, schöner als jeder Diamant", sagt er, "denn es waren Steine vom Rheinufer - von einem Ort, an den ich nie zu gelangen hoffen durfte."

Und doch hatte die DDR ihren Staatsfeind Nummer eins ziehen lassen. Nach zwölf Jahren Hausarrest. Nach zwölf Jahren, in denen Biermann Auftritte nur in den eigenen vier Wänden absolvieren und Schallplatten nur im Westen veröffentlichen konnte. Biermann war glücklich. "Es waren die schönsten Tage meines Lebens", sagt er über jene Novemberwoche des Jahres 1976 nach seinem Kölner Konzert. "Schließlich hatte ich diese unglaubliche Balanciernummer wohlbehalten überstanden." Das Publikum gut unterhalten, die Freunde daheim nicht enttäuscht und die SED-Bonzen kritisiert, ohne sie zu sehr zu schmähen. "Ich war wirklich der Meinung, ich käme gut wieder nach Hause."

Welch ein Irrtum. Mit der Ausweisung ist Wolf Biermann "verwirrt, eingeschüchtert, voller Lebensangst." Die blassen Augen schauen blicklos auf den abgewetzten braunen Ledersessel in der Ecke, auf dem früher Robert Havemann und Margot Honecker saßen, wenn sie zu Besuch waren. Das T-Shirt spannt über muskulösen Oberarmen. Biermann, Sohn des von den Nazis ermordeten Dagobert Biermann, als Feind vertrieben aus dem gelobten Land des Kommunismus! In das er doch im Sommer 1953 gezogen war, um mitzuhelfen, eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Es streicht kein Lächeln um die Mundwinkel, schwingt kein verspätetes Klugsein mit. "Ich glühte ja nicht einmal für die Weltrevolution, nein, sie war für mich eine Aufgabe wie Luftholen." Ein Vermächtnis des Vaters, den er ein einziges Mal gesehen hat bei einem Besuch im Lager. Ein Auftrag der Mutter, die in der Pause in der Fabrik Marx las und in der DDR die Erfüllung eines Traums sah.

Kurz nach Stalins Tod geht Biermann in die DDR. "Zum Glück schickten sie mich dort aufs Internat in die Ackerbauernstadt Gadebusch, so dass ich von den Arbeiteraufständen nichts mitbekam." Ein Glück, denn, jetzt senkt der Sänger die Stimme, "hätte ich gesehen, wie sie in Berlin streikende Arbeiter niederwalzen, hätte ich mich damals schon auf die Seite der Ermordeten gestellt, nicht auf die Seite der Mörder."

So aber hockt er am Ende der Welt, der Heimleiter allein stellt das Radio ein, und der 17-Jährige "ist so schön dumm, dass er nicht dumm bleiben muss". Ein bloßer Zufall, aber einer, ohne den aus dem kleinen Wolf nicht der böse Biermann geworden wäre, der Sänger, Dissident und Nationalpreisträger, ganz sicher. "Ungebildet, schlecht ausgerüstet wäre ich gewesen."

Darüber lässt sich lange sinnen. Wie über all die Momente, in denen Weichen gestellt und Wege beschritten wurden, an deren Ende der Mann mit dem ergrauenden Seehundsbart steht: 1,67 Meter Formulierungslust in schwarzen Jeans, mit schmalen Hüften und kurzen, festen Fingern.

Halb sechs morgens sei seine Mutter in die Fabrik gegangen. "Da saß ich kleiner Kerl allein in der Wohnung, bis meine Tante Lotte mich um sieben abholte." Der kleine Wolf sitzt nicht nur, er singt sich die Seele aus dem Leib: "Ich weiß heute nicht mehr, ob aus Angst oder Freude." Die Begabung ist entdeckt, den "kleinen Sänger" nennt ihn bald die ganze Nachbarschaft. Dass er aber später lernt, Klavier zu spielen, sagt Biermann, hatte nur mit diesen Lucky Strikes zu tun. Die Stimme, mit der Biermann seinen Geschichten zuweilen freudig krähend Pointen aufsetzt, wird dunkel und schwer, als er die Geschichte vom Onkel erzählt, der im Freihafen einen ganzen Sack Zigaretten dieser Marke stiehlt, um seinem Neffen ein Klavier kaufen zu können. "Und das in der größten Elendszeit - ich bekomme noch heute einen Glücksstich ins Herz, wenn ich irgendwo eine Packung Lucky Strikes liegen sehe."

So ist es immer gewesen, in diesem Leben "nah an der Rampe der Weltgeschichte", wie er es nennt. Eine winzige Wendung, eine andere Zeit, ein anderer Ort. Biermann, als polternder Querkopf gefürchtet, ist ein nachdenklicher Mensch, der sich über eines sehr sicher ist: Es hätte gut auch alles ganz anders kommen können. Etwa damals, als ihn die Stasi in Gadebusch als Spitzel werben will. Und er dem Führungsoffizier an die Kehle geht, weil "der mich einen Agenten genannt und mich damit schwer in meiner bolschewistischen Ritterehre gekränkt hatte." Agent! Er! Dagoberts Sohn! "Wenn der mir erzählt hätte, Genosse Wolf, die Revolution braucht dich, Mensch, da hätte ich sofort unterschrieben."

Biermann, der gern Stalin und Churchill zitiert, ist sich im Klaren, dass er häufig Glück gehabt hat. Etwa als er beginnt, Wirtschaftswissenschaften zu studieren und nicht auf die Hochschule nach Magdeburg, sondern nach Berlin geschickt wird. "Nur dort konnte ich in den Sog des Brecht-Theaters geraten." Oder als er - längst mit einem Bann belegt - immer wieder "lebende Freunde und tote Götter" findet, die ihm Kraft geben, "wenn nicht mehr ich die Angst hatte, sondern die Angst mich".

Das Bild vom harten preußischen Ikarus, der Stasi-Spitzeln ausdauernd zürnt und unbeirrt von Zweifeln einen eigensinnigen Weg geht, es klirrt auseinander vor der Realität in der freundlichen Stube ohne Gardinen, nur ein paar Straßen entfernt von dem Kanal, durch den seine Mutter ihn kurz vor Kriegsende schwimmend vor den Bomben rettete. Es komme ihm mehr denn je darauf an, lebendige Widersprüche darzustellen, "einfach das Wenige, was ich wirklich rausgekriegt habe, weiterzusagen." Die kleinen "eindimensionalen Piesel", das Parteiengezänk, die meisten schnellschäumenden Diskussionen dieser Tage, sie bewegen ihn kaum. Ebenso wenig die Typen, die ihm seine eigene Geschichte erzählen wollen, samt Affäre mit Margot und Mauscheln mit der SED.

Biermann, ein begeisterter Tischtennisspieler mit starker Rückhand, hat kurz vor seinem 65. mal eben 14 Kilo abgenommen. Mit den überflüssigen Pfunden scheint seine Figur auch von der furchterregenden Wuchtigkeit früherer Tage verloren zu haben. Keine Flügel aus Eisenguss halten ihn. Der vermeintlich ewig polternde Gerechtigkeitsfanatiker entpuppt sich als milder Denker, der ganz ohne Zorn zurückschaut, gelehnt ins abgeschabte Ledersofa. Wie es war, war es gut. Alles andere zu sagen, hieße "klüger sein zu wollen als ich bin". Oder, Biermann kann auch poltrig-proletarisch: "Ich kann nicht höher springen als der Arsch kommt."

Der Gedanke amüsiert ihn nun doch. Er lässt ein kockerndes Lachen hören. "Wenn sie mich damals nach Magdeburg geschickt hätten", bläst er die Backen auf. Keine Bekanntschaft mit Brecht, mit Helene Weigel, mit dem Berliner Ensemble und Havemann. Keine Liedermacherei. Keine Chauseestraße 65. Kein Hausarrest. "Vielleicht wäre ich ein Kombinatsdirektor geworden!" Oder ein mittlerer Wirtschaftsfunktionär mit wutgeballter Faust in der Tasche. "Ich würde heute ein bisschen Gitarre für den Hausgebrauch spielen, das war's." Mit drei Akkorden durchs ganze Leben, das Lied vom kleinen Johann und der großen Welt auf den Lippen, plattdeutsch, ein bisschen hallesch eingefärbt. Jeder Mensch ist ein Roman, an dessen Seiten viele schreiben. Wolf Biermann sächselt fröhlich: "Fehlte nicht viel", sagt er.


Sonntag, 2. November 2014

Der DDR-Planungschef war froh, nicht mehr regieren zu müssen

Sechshundert Namen. Sechshundert! Gerhard Schürer schiebt den Porzellanhumpen auf der Anrichte im Flur zurecht. "Die wusste ich alle auswendig." Anders wäre es auch gar nicht gegangen, die ganze Geschichte aufzuschreiben. "Als Planungschef", der Mann mit den schmalen Lippen muss es wissen, "hat man ja keine Zeit, ein Tagebuch zu führen."

Also hat sich Gerhard Schürer erinnert. Die Jahre durchgekramt, die er an der Spitze des DDR-Planungswesens stand, jener Behörde, die alles wissen und jedes Problem lösen können sollte. Nach seiner Arbeit als Berater beim Dienstleistungsunternehmer Dussmann hat er sich bei seiner Frau Steffy und der 13-jährigen Tochter Christina entschuldigt. Und sich zurückgezogen an den Computer im Schlafzimmer, aus dessen Fenstern man dorthin sieht, wo früher die Mauer stand.

Schürer denkt pragmatisch. "Man muss lernen, mit dem zu leben, was man kriegen kann", sagt er. Eine Einstellung, die dem 79-Jährigen geholfen hat, 25 Jahre an der Spitze des Planungsapparates der DDR zu überstehen. Ein einsamer Weltrekord: "Länger war niemand auf so einem Posten", weiß Schürer.

Dabei geriet der gelernte Schlosser eher zufällig in die DDR-Nomenklatura: "Nach dem Krieg hieß es ,Arbeiter in die Regierung', also ging ich zum Lehrgang." Drei Jahre später ist der ehemalige Fluglehrer schon Regierungsoberinspektor in Sachsen. Und als ihm die Partei ein Ökonomie-Fernstudium anträgt, weiß Gerhard Schürer, "dass ich für Höheres vorgesehen war".

An den Tag, an dem er in die oberste Etage der DDR-Führung aufrückt, entsinnt er sich noch heute genau. "Die Sekretärin vom Planungsminister Apel rief an und sagte, Gerhard, der Erich hat sich was angetan." Verbittert, weil die Parteiführung seine Wirtschaftskonzepte nicht förderte, hatte sich Erich Apel erschossen. "Das war ein Schock", sagt Schürer.

Erich Honecker ist es, der ihn bei Staats- und Parteichef Walter Ulbricht als Nachfolger durchkämpft. "Honecker sagte zu mir: Gerhard, wir brauchen einen im Politbüro, der was von Ökonomie versteht." Schürer antwortet: "Wenn du meinst, Erich." Und bezieht Apels Büro mit dem verspachtelten Einschussloch in der Wand.


Schürer ist sich sicher, in der richtigen Mannschaft zu stehen. Die Genossen sind Kumpeltypen, die Zukunft ist licht und der Sozialismus auf dem Siegeszug. Dass Honecker "ein Mann ohne Ohren" werden wird, "der nur noch auf seinen Wirtschaftssekretär Günter Mittag hört", und die Parteiführung das Land in den Untergang steuert -wer hätte das ahnen sollen?

Gerhard Schürer, geschult in der Nachkriegs-SED, ist ein loyaler Klassenkämpfer. Er sieht die falschen Entscheidungen. Und zweifelt seine richtigen Berechnungen an. "Steht die ganze Front schief, und nur ich bin gerade?" Mit den Jahren hat er dann gelernt, Dinge zu vertreten, "die ich selbst anders gemacht hätte". Schürer ist ein Gefolgsmann, kein Anführer; ein Planer, aber kein Politiker. Er verwaltet den Mangel und stopft die Löcher, jongliert mit dem stets zu kleinen Angebot, um die stets zu große Nachfrage im Zaum zu halten. Geholfen habe ihm immer, was er selbst "meine eisernen Pilotennerven" nennt: "Je aufgeregter alle sind, desto ruhiger werde ich."

Einmal nur ist der freundliche Herr mit dem dünnen Weißhaar, der sich 1981 "als alter Mann von 60 Jahren" in seine damalige Sekretärin und jetzige Frau verliebte, in all den Jahren außer sich gewesen. Das war, als der Staatsanwalt, mit dem er immer zusammen Mittag aß, ihn verhaften kam. "Der sagte zu mir, tut mir leid, Gerhard, aber ich stehe unter Druck." Fast wäre ihm da die Hand ausgerutscht: "Wenn du schon deine Genossen verhaftest, dann steh' wenigstens dazu", hat Schürer gezischt.

Es seien dies die schwersten Stunden gewesen für ihn. "Als es gegen die Familie ging." Denn zu den Selbstvorwürfen, den Untergang der DDR vorausgesehen zu haben, kommt nun die pure Existenzangst. "Als uns ein paar Stasi-Damen über Nacht aus Wandlitz verjagt haben, war ich am Ende", sagt er, und der freundliche sächsische Akzent ist sengende Salzsäure.

"Wie ein Hund" lebt der Vater von sieben Kindern und Opa von zehn Enkeln. 40 000 DDR-Mark sind auf dem Sparbuch. "Und 44 000 mussten wir bezahlen, damit wir unsere Möbel mitnehmen durften."

Mit 69 steht Gerhard Schürer, eben noch Herr über die "zehntgrößte Industrienation der Welt", vor dem Nichts. Für das Nötigste muss er bei der Schwiegermutter borgen. "Am Anfang bin ich Gardinen waschen gegangen, und ich habe mich gefreut, wenn ich zehn Mark dafür kriegte." Pilotennerven! Sich arrangieren mit dem, was man kriegen kann. Schürer hat Übung im Mangel. Ungerecht behandelt habe er sich nie gefühlt. "Ich weiß, dass ich eine Verantwortung habe, und für die stehe ich ein."

Nur die Enttäuschung über Weggefährten, die nur noch schnell vergessen wollen, sitzt tief. Krolikowski, Schabowski. Schürers Stimme ätzt die Namen in die Wohnzimmerluft. Letzterer habe neulich mal ein Bier trinken gehen wollen mit ihm. "Da habe ich gesagt, nüscht, Günther, mein Bier trinke ich lieber alleine."


Schürer furcht die Stirn und spricht schneller. Das ist es, was er auf den Tod nicht ausstehen kann: Dieselben Genossen, die ihn zu DDR-Zeiten als "Feind der Mikroelektronik" kritisierten, warfen ihn nach der Wende aus der Partei. "Weil ich nicht verhindert hätte, dass Volksvermögen für die Mikroelektronik vergeudet wurde." Schürer kichert eckig: "Da konnte ich doch nur lachen."

Immerhin hat Gerhard Schürer es versucht. Als Erich Honecker Anfang der 70er Jahre die neue Politik der Hauptaufgabe verkündet, meldete er sich als einziger Kritiker. "Das Programm ist ausgezeichnet, habe ich gesagt, aber es ist nicht zu finanzieren." Honecker ist danach "obersauer": "Ich habe mich gewundert, dass ich zurückgehen durfte in mein Büro." Von heute aus betrachtet glaubt Gerhard Schürer, schon damals sei die letzte Chance verspielt worden. "Unter Ulbricht haben wir acht Milliarden für Subventionen ausgegeben, unter Honecker am Ende 58", rekapituliert er zahlensicher.


Nirgends war mehr Luft. "Eine neue Autobahn hätten wir nie bauen können, das Internet hätte ohne uns stattgefunden." Das konnte nicht gut gehen, und "das haben unsere Zahlen jeden Tag gesagt". Diese Zahlen aber, die die Computer der Planungskommission ausspuckten, wollte niemand sehen.

Der Pilot im Cockpit der DDR-Wirtschaft kannte sie. Doch als er das laut sagte, ist die DDR schon im Sturzflug. "Im Mai 1988 habe ich Honecker vorgeschlagen, was wir ändern können": Rüstungsausgaben kürzen, Bauarbeiter aus Berlin zurück in die Republik, Investitionen aus der Mikroelektronik umlenken. Honecker winkt ab. "Da war die Angst vor einem Aufstand viel zu groß."

Gemeinsam mit Alexander Schalck-Golodkowski diskutiert Schürer nach dieser Niederlage die Möglichkeit einer Konföderation mit der BRD, mit Egon Krenz berät er, wie ein Machtwechsel vollzogen werden könnte. "Schon der Gedanke war Hochverrat." Hochverrat an der verfehlten Politik, nicht an der Idee des Sozialismus, an die Gerhard Schürer bis heute glaubt. "Die Marktwirtschaft ist das überlegene System", sagt er, "das muss man einsehen."

Schürer ist Beobachter, nicht mehr Gestalter. Und froh darüber. Heute kocht er für die Familie, macht im Haushalt "alles außer Bügeln" und ist seiner Christina "der Vater, der ich meinen anderen Kinder nie sein konnte".

Gerhard Schürer hat seinen Frieden gefunden in der Dreiraum-Wohnung im Plattenbau, zwischen kahlem Mauerstreifen und der Pracht der neuen Regierungsbauten. Er plant nicht mehr viel. "Ich bin doch heute der glücklichste Mann."

Gerhard Schürer ist 2010 in Berlin gestorben