Internet-Händler kennen ihre Kunden besser als die sich selbst - Psychogramm entsteht aus Netzwerk von Daten
Wie klingt Harry Potter? Welchen Sound hat Erich Fromm? Und was liest, wer Jennifer Lopez hört? Dass ausgerechnet Marius Müller Westernhagen Leute fasziniert, die Romane von Stephen King sammeln, läßt sich vielleicht noch denken. Doch dass auch Menschen, die Montak Chias Sex-Ratgeber "Öfter, länger, besser" lesen, dabei an des dünnen Barden Lippen hängen, hätte wohl niemand gewusst.
Gäbe es nicht Jeff Bezos, Chef und Gründer des weltgrößten Internet-Buchladens amazon.com. Der jedoch erkannte schon vor Jahren, dass ein Internet-Shop seine Kunden nicht einfach mit einem Angebot von ein paar hunderttausend Büchern und CDs allein lassen darf. Nein, wie der Händler vom Tante-Emma-Laden an der Ecke muss er seine Besucher und ihre Vorlieben kennen.
Wenn solches Wissen Macht ist, ist Bezos deutsche Dependance amazon.de unglaublich mächtig. In der Datenbank des eCommerce-Pioniers webt eine komplexe Software aus den Datenspuren von täglich zehntausenden Besuchern ein deutsches Psychogramm, das vielleicht mehr über den Gemütszustand der Nation verrät als mancher schlaue Aufsatz.
Denn Amazon weiß: Wer Harry Potter liest, liebt die Beatles. Wer sich für den neuen John Grisham vormerken läßt, verkürzt die Wartezeit bis zum Erscheinen mit dem Abhören des Albums "Black & Blue" von den Backstreet Boys. Und späte Interessenten für Karl Marx' "Kommunistisches Manifest" lesen zwar nebenbei hin und wieder beim Anarchisten Ernest Mandel. Musik aber hören sie dabei offenbar nicht.
Kein roter Faden durch die Daten. Zwischen den gesammelten Hits der US-Schauspielerin Ally McBeal, besonders ausdauernd gehört von den Leserinnen des Standardwerkes "Machiavelli für Frauen", und dem Wiso-Buch "Börseneinführung", dessen Käufer sich häufig gleich noch die Craig-David-CD mit dem feinen Titel "Born To Do It" einpacken lassen, schimmert ein weites und weitestgehend unentdecktes Reich, in dem Nachbarn leben, die wir nicht kennen, und Freunde, von denen wir so gut wie nichts wissen.
Oder wer ist das sonst, der Liebesromane von Marc Levy kauft, die "Solange Du da bist" heißen - und sich dazu die zuckersüße CD "It's only love" von Simply Red anhören mag? Der Christoph Ludewigs Existenzgründerbibel "eCommerce im Internet" schmökert und derweil Metallica samt Sinfonieorchester aus den Boxen ballern läßt? Der schließlich zu Erich Fromms Werk "Die Lust des Liebens" den gottesfürchtigen Soul der Söhne Mannheims auflegt? Die amazon-Datenbank, die sich aus Verkaufszahlen, zufälligen Übereinstimmungen und auffälligen Häufungen nährt, erzählt die Geschichte des Deutschland von heute als Geschichte deutscher Vorlieben. Nichts bleibt ihr verborgen.
Wer Bestseller-Bücher von Joanne K. Rowland oder Thomas Harris ("Hannibal") liest, ist empfänglich auch für Bestsellermusik von Madonna, U2 und Jennifer Lopez. Doch dem Individualisten, der mit Daniel Colemann auszieht, die "Emotionale Intelligenz" zu erforschen, gleicht er dennoch aufs Haar: Was dem einen Mark Knopflers unaufregendes Alterswerk "Sailing To Philadelphia", ist dem anderen das schummrige Summsen auf Jimmy Smiths traurigem Album "Dotcomblues".
Es gibt keinen persönlichen Geschmack mehr im Konsum, alles ist Mainstream, Kalkulation, Marktnische. Jede Kombination ist nur ein wiederkehrendes Muster, das verarbeitet, gespeichert und als Matrix bereitgehalten wird. Häufig aber ist die Empfehlungssoftware, die nichts von Stil und Geschmack ahnen kann, mutiger als es jeder menschliche Händler wäre. Sie deckt auf, was wir nie wissen wollten: Dass Freunde der samtenen Greatest Hits von Sting von Zeit zu Zeit mit Eugen Drewermann in der Sofaecke versinken, um in "Das Eigentliche ist unsichtbar" die Geschichte des "Kleinen Prinzen" tiefenpsychologisch zu deuten.
Wobei Drewermann-Leser gleichermaßen auch potentielle Santana-Hörer sind, die dieser Tage vergleichsweise häufig zu Patricia Cornells Thriller "Brandherd" greifen, dessen Käufer wiederum James Pattersons "Sonne, Mord und Sterne" längst im Regal stehen haben. Direkt neben dem schwülwarmen "Lovers Rock" von Sade und Enyas Säusel-Pop auf "A Day Without Rain" übrigens.
Solches Wissen verwirrt nur noch. Wenn einer Joachim Witts "Bayreuth II" besitzt, ist er dann wirklich ein potenzieller Leser von Jens Oliver Haas' Büchlein "101 Gründe, ohne Frauen zu leben"? Muss, wer Rainald Goetz liest, zwingend den Schrägrock von Tocotronic ertragen können? Und warum sind die Anhänger von Horrorautor Dean Koontz auch Bewunderer von Fräulein-Wunder Britney Spears?
Psychologie muss versagen vor der Vielzahl der Wege, die im Datendickicht von Harry Bloch zu Udo Lindenberg, von Akardi Strugatzki zu "Best of Deep Purple" und Radioheads "Kid A" führen. Die ganze Welt ein Geflecht aus Referenzen. Kunstgeschmack ein Gebäck aus sich überlagernden Links. Der Speicher weiß alles und verrät doch nichts. Laut Amazon.de bevorzugen die Leserinnen des "Machiavelli für Frauen" nicht nur die kratzbürstige Ally McBeal.
Sondern auch den Gleitcreme-Pop von Lionel Richie.