Montag, 16. September 2013

Halle-Neustadt anno 1963


Das habe ich gern: alter Hallenser sein wollen, sich vor sieben Jahren aus dem Staube machen, plötzlich durch Zeitungsnotizen aufmerksam werden und nun schneller als schnell Antwort auf brennende Fragen haben wollen.

Ich weiß, ihr seid damals nach dem Norden gegangen, weil dort dringend gut ausgebildete Agronomen gebraucht wurden. Das war sicher auch ein richtiger Entschluß, ober daß Ihr Euch seitdem in Eurer alten Vaterstadt nicht mehr habt sehen lassen, das kann man Euch so leicht nicht verzeihen. Also: das Beste, um sich richtig zu informieren, ist: setzt Euch in Euren motorisierten Untersatz und nichts wie her. . .

Dennoch will ich Eurem Wunsche nachkommen und ein bißchen über unsere tausend Jahre alte, aber doch so junge und moderne Stadt berichten. Es ist ja auch ein guter Anlaß, ein bißchen zu bilanzieren - schließlich ist heute der 21. Jahrestag der Republik. Ich sitze hier im Cafe am Hochhaus und lasse mir einen Mokka munden. Ein schöner Sonnentag ist heute, aber doch schon recht kühl. Am Vormittag hatten wir hier auf dem großen, mit Steinplatten belegten Platz die traditionelle Kundgebung, die früher immer auf dem Markt in der Altstadt stattfand. Mein' Junge war auch mit. Ihr wißt ja, daß er die Sportschule besucht. Jetzt ist er mit seinen Freunden hier gleich nebenan auf dem Sportforum. Das Mädel ist übrigens Lehrerin geworden, was immer ihr Wunsch war. Noch dazu an einer der drei neuen Oberschulen hier in der Chemiearbeiterstadt.

Doch halt, ich wollte Euch ja schildern, wie es jetzt hier aussieht. Ihr werdet es ja noch kennen; wir fuhren damals Immer an den Graebsee zum Baden. Und dieser See ist eigentlich das einzige, was noch an selige Zeiten erinnert. Freilich, er sieht heute viel gepflegter aus - mit Rasenteppichen umsäumt und modernen Parkanlagen. Ich erinnere mich noch recht gut, damals sollte hier ein Campinglager für die Jugend errichtet werden - aber es kam nicht zustande. Dafür steht jetzt direkt an den Ufern ein Hochhaus mit 22 Stockwerken, das "Haus der Chemie", eine Symphonie aus Glas und Beton. Ich muß mich fast zur Erde beugen, um von meinem Platz im Cafe durch die Glaswände das oberste Stockwerk zu erblicken. Von' dort oben hat man vielleicht eine Ausschau!

Anders als von den Hausmannstürmen, die wir mal zusammen bestiegen hatten, um einen Blick auf das damalige Halle zu werfen, Ich weiß nur, daß uns "Turf"-Konsumenten - oder wie die Zigaretten damals hießen - die Lunge ob der 226 Stufen fast zum Halse-heraushin. Zu Mittag war ich auf dem Dach des Hochhauses. Mit dem Schnelllift ging es rasend schnell aufwärts. Ich glaube, es war nicht einmal eine Minute. Was sieht das Auge alles von dort oben? In östlicher Richtung der Blick auf die tausendjährige Stadt mit dem Markt und dem Roten Turm, südöstlich das Panorama der Bunawerke und noch weiter die immer noch wie ein Wahrzeichen in die Luft ragen, den Schlote der Leuna-Werke.

An der 70 Meter hohen Fassade hinunterzuschauen, traut man sich kaum. Der Blick geht die breite Autostraße hinunter, die sich durch den neuen Stadtteil zieht. Ihr wißt ja, die Straße, die von Eisleben kommend, früher in einer Rechtskurve bergab nach Nietleben hineinführte.

Jetzt geht sie von jenem Knick gerade weiter durch die Chemiearbeiterstadt, über die Saale, bis sie am ehemaligen Keglerheim Paradies" auf den Waisenhausring einmündet. Für den, der per Auto oder Autobus in die Stadt will, gibt es keine Schlängelei mehr durch die Mansfelder Straße.

 Aber zurück zum Ausgangspunkt. Links dieser Straße wird zur Zeit noch gebaut, aber rechts bietet sich bietet dem Auge ein herrliches Ensemble fünf-, zehn-, ja sogar 20.-geschossiger Wohnbauten. 15000 Wohnungen wurden hier bis jetzt geschaffen. 11000 allein für Chemiearbeiter. Insgesamt wohnen jetzt. 45000 Menschen hier. Sie haben  von hier aus eine viel bessere Verbindung zu ihren Arbeitsstätten in Buna und Leuna als von der Altstadt.

Nicht wenige von ihnen waren vor Jahren vier und fünf Stunden unterwegs, um an ihren Arbeitsplatz und von dort wieder nach Hause zu kommen. Da blieb wenig Zeit für Qualifizierung oder einen Theaterbesuch. Heute steigen sie hier draußen in die Schnellbahn und in 25 Minuten sind sie in Buna und etwas später vielleicht in Leuna. Für die Motorisierten unter ihnen ist die Schnellstraße nach Schkopau und Leuna übrigens Sechsbahnenverkehr der kürzeste Weg. Das ist einer der großen Vorteile des Aufbaus dieser Stadt: nach allen Richtungen hin gute Verkehrsverbindungen.

In nordwestlicher Richtung saugt sich das Auge dann im Grün der Dölauer Heide fest d. h. zu dieser Jahreszeit bietet sich mir eine Palette bunter. Herbstfarben. Östlich, entlang der Saale, das wunderschöne Auegebiet. Das ist ein weiterer Vorteil: hier herrscht frische Luft, hier reicht der Chemiedunst nicht her. ..

Da oben weht ein ganz schön kühles Lüftchen, und so habe ich mich auch bald wieder verzogen. Hier im Cafe ist es wohltemperiert Fernheizung, von der alle Wohn- und Geschäftshäuser versorgt werden. Nachher wird mich mein Weg zur Bushaltestelle zur Straße hinabführen. Dort unten soll noch ein 'großer kombinierter Baukomplex entstehen: Ladenstraße, Kaufhaus, Hotel u. a. m. Zur gleichen Zeit wird oben am Hochhaus die Mehrzweckhalle gebaut, ich glaube für. 6000 Besucher.

Also, Halle hat jetzt eine alte und eine neue City oder man kann auch sagen, die Altstadt ist zum Vorort geworden. 70 000 Menschen sollen ja hier in der Chemiearbeiterstadt mal insgesamt wohnen. Doch wie gesagt, kommt recht bald und schaut Euch alles mit eigenen Augen an. Aber nach dem alten Stadtplan werdet Ihr Euch nicht mehr zurechtfinden, denn auch in den Euch bekannten Mauern hat sich einiges verändert. Ihr werdet ja von Magdeburg kommen. Haltet Euch links und fahrt  in Richtung Leuna. Die Straße führt am ehemaligen Bahnhof Trotha vorbei, entlang der Halberstädter. Bahn und kommt etwa an der Albert-Richter-Kampfbahn heraus.

Gleich hinter dem einstigen Wasserturm am Platz der Thälmann-Pioniere beginnt dann eine Hochstraße, die am Haus der Einheit vorbei etwa 6 Meter hoch - über den Marx-Engels-Platz in Richtung Thälmannplatz führt. Wollt Ihr In die Stadt, müßt ihr hier abfahren; ansonsten geht es von hier wie auch früher geradewegs zum Thälmannplatz.

Nur daß heute die Straßenbahn unter der Autostraße verkehrt! Mit das Imposanteste das in den letzten Jahren entstand, ist übrigens das Verkehrskreuz der Hochstraße am Thälmannplatz. Die Straße nach Leuna führt gerade über ihn hinweg, vorbei am Hotel "Berlin", das ja bereits 1965 fertig wurde.

Wer in Richtung Chemiearbeiterstadt will, begibt sich von hier aus auf die unter der Hochstraße hinwegführende Ost-West-Achse. Sie führt dann am Stadtkulturhaus vorbei über den Franckeplatz nach Eisleben. Die Klement-Gottwald- Straße ist nur noch Fußgängerboulevard. Sicher werdet ihr auch darüber staunen, wie sich das Bild am ehemaligen Rummelplatz verändert hat: einen schöneren Park haben die mecklenburgischen Gutsbesitzer nicht gehabt!

Und überhaupt: Wißt Ihr noch, wie wir vor zehn Jahren unsere Witze darüber machten, daß Halle ein Dorf mit Straßenbahnen sei? Nebenbei gesagt: die Straßenbahn ist aus dem Kern der Stadt verschwunden, es gibt nur noch Ringverkehr - und das geht wunderbar. Heute läßt sich darüber kaum noch frotzeln, wir werden nämlich wirklich eine Großstadt. Das ist der endgültig letzte Brief bis zum Wiedersehen!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen