Donnerstag, 9. April 2015

Stephen Kings "Revival": Alles fängt mit E an

Gitarre spielt Stephen King eigentlich nur für den Hausgebrauch. Aber mit den Rock Bottom Remainders ist der Altmeister des Horror tatsächlich schon öffentlich aufgetreten. Die Klampfe hatte er hoch unter die Achsel geschnallt, das T-Shirt verschwand im Hosenbund und die Stimme krähte auf halb acht.

So ähnlich muss Jamie Morton aussehen, der Erzähler und Held von Kings neuem Roman "Revival". Ein abgewrackter Rock-Gitarrist ohne Illusionen, dafür aber mit einem Riesenrucksack aus Traumata auf dem Buckel, so beschreibt der 67-jährige Auflagenmillionär die Figur, die den Nachfolger des hochgelobten letzten Buches "Mr. Mercedes" beinahe allein wegträgt.

Das kommt, weil Stephen King sich auf seine Stärken besinnt. Statt Monster und Gespenster zu bemühen, verlegt er sich wie zuletzt häufiger darauf, einen untergründigen, unausgesprochenen Schrecken heraufzubeschwören. Furcht kommt nicht von außen, Furcht kommt von innen, das Grauen wartet nicht in der Kanalisation wie noch bei "Es", sondern hinter der Straßenbiegung, wo der Traktor steht, den deine Frau und dein kleines Kind gleich mit voller Geschwindigkeit rammen werden.

Jamie Morton ist sechs, als das Buch beginnt und der Kleinstadtjunge dem Priester Charles Jacobs zum ersten Mal begegnet. Jamie weiß nicht, dass der begeisterte Hobby-Elektroniker sein großer Gegenspieler werden wird. Er ahnt nicht, dass er eines Tages seinetwegen vom Glauben abfallen muss. Er liebt den Mann, und er liebt ihn noch viel mehr, nachdem er seinem Bruder mit einem kleinen Trick die verlorene Sprache zurückgegeben hat.

Die großen Momente von Kings Schreiben kommen hier zusammen. "Stand by me" ist das, die mit River Phoenix und Kiefer Sutherland verfilmte Novelle, die der Mann aus Maine heute für eine seiner besten Arbeiten hält. Der "Friedhof der Kuscheltiere", der für eine Idylle mit Schatten steht. Und "Shining" natürlich, die klaustrophobische Studie eines in den Wahnsinn abgleitenden Autors. Geschütteltes Grauen, gewürzt mit Prisen aus Werken von Mary Shelley, Ray Bradbury und H.P. Lovecraft, so wird aus "Revival" ein Comeback für den Erzähler King.

Der lässt hier Zeit, er fesselt seine Leser ohne vordergründige Effekte. "Revival" ist anfangs das Porträt einer Kleinstadt in den amerikanischen Baby-Boomer-Jahren, das zum Porträt einer Kleinstadtjugend in den 70ern wird. Die Welt ist gut hier, die Zukunft offen, die Menschen mögen einander.

Das Böse schwebt wie ein Nebel durch die Straßen, während Jamie Morton erwachsen wird und die Bluesmusik für sich entdeckt. Reverend Charles Jacobs aber, nach dem Unfalltod von Frau und Kind kein Mann Gottes mehr, zieht umher und tut Gutes, auch seinem früheren Schützling Jamie, den er, inzwischen Chefscharlatan einer eigenen bizarren Kirche der Elektrizität, von seiner Heroinsucht heilt.

Es wimmelt hier von Anspielungen und Querverweisen, von Zeitsprüngen und liebenswerten Nebenfiguren. Stephen King, ein großer Zitierer schon immer, baut auf Bruce Springsteen und Edgar Allen Poe auf, doch im Grunde sucht er nach dem Sinn des Lebens, das seinem Protagonisten mit zunehmendem Alter scheint wie das Experiment mit dem Frosch im Kochtopf: Je langsamer die Temperatur steigt, desto weniger spürt der Lurch, dass er gekocht wird.

Die Geschichte atmet hier seitenlang für ihre Leser, King spielt mit der Erwartung seines auf Spuk konditionierten Publikums. Aber er erfüllt sie nicht: Trotzig dreht er ab, wechselt die Richtung, legt falsche Fährten und lässt die elektrisch aufgeladene Atmosphäre so je mehr knistern, je näher er dem unausweichlichen Finale kommt.

Das erlebt Jamie Morton als alter Mann, von einer Aufgabe nicht weniger erfüllt als sein Gegenüber. Die letzten großen Fragen stehen zur Debatte, die Rätsel des Jenseits, der Blick über den Horizont. "Revival" endet, wie Stephen King seine Bücher so gern enden lässt: Der Leser bleibt zurück mit roten Ohren und offenem Mund.

Stephen King: "Revival", Heyne Verlag, 512 Seiten, 22,99 Euro


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