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Donnerstag, 12. Juni 2025

Kunstrasen: Abriss nach Aktenlage


Normalerweise wären sie jetzt alle hier: Saleh, Mohammed, Fabi und all die anderen Kinder und Jugendlichen aus der Neustadt, die auf diesem Platz ihre zweite Heimat gefunden hatten. Auf dem ehemaligen Trainingsgelände des Halleschen Fußballclubs blieb ein schöner Kunstrasenplatz zurück, als der Viertligist seine Zelte ab-, und zu neuen Ufern aufbrach.

Ein Glücksfall für Dutzende Kinder und Jugendliche aus Halle-Neustadt, die keine 300 Meter entfernt leben. Jeden Nachmittag, vor allem aber am Wochenende war der Platz voll. Es wurde trainiert. Es wurde gespielt. Um die Goldene Ananas, aber mit Einsatz und Spaß.

Doch dann endete die kurze, glückliche Episode des Platzes. Bagger und Bauarbeiter rückten an. Innerhalb weniger Tage war der Kunstrasen Geschichte. Im Moment stehen noch ein paar Begrenzungen, daneben große Container mit sauber getrenntem Abfall. Holzreste, die Ballnetze, ein Tor, noch ein zweites – aber alles ist vorbei. Für immer. 

Von der Erfolgsgeschichte zum Abriss


Für die Jugendlichen ist es eine Tragödie. Für die Stadt der Vollzug einer notwendigen Pflichtaufgabe. Was sich hinter der Zerstörung des einzigen öffentlichen Kunstrasenplatzes der Stadt verbirgt, ist allerdings eine Geschichte, die viel Deutschland im Jahr 2025 erzählt, als auf den ersten Blick zu sehen ist. 

Die Fakten sind schnell aufgezählt: Gebaut wurde der Platz vom Halleschen Fußballclub, damals schon mit viel Unterstützung durch Fördermittel aus allerlei Töpfen. Die Spielfläche war das Herz des Leistungszentrums des Vereines, es wurden Ligaspiele ausgetragen, tagtäglich trainierten Männer, Frauen und Kinder in verschiedenen Altersklassen

Tabula rasa.


Dann kam das Jahr 2013 – und mit ihm das Jahrhunderthochwasser. Auch der Kunstrasenplatz wurde überflutet. Für gewöhnlich wäre das kein großes Problem: Das Plastik wird gereinigt und schon kann wieder gespielt werden. Doch diesmal suchten Verein und Stadt nach einer anderen Lösung. Der Fußballclub wollte das Gelände am Sandanger verlassen – zu hohe Kosten, zu alt die Gebäude, zu groß die Flutgefahr. Ein neues, modernes Nachwuchsleistungszentrum sollte entstehen, allerdings an einem anderen Standort, der sich besser eignet.


Bürokratie schlägt Herz 

Nur der Kunstrasenplatz wurde plötzlich zum Problem. Um Fördermittel für das neue Leistungszentrum zu bekommen, musste das alte Gelände laut Flutrichtlinie als komplett zerstört und unbrauchbar gemeldet werden. Also war der Platz mit einem Mal offiziell unbespielbar – auch wenn weiterhin dort trainiert und gespielt wurde. Millionen Euro Fördermittel standen auf dem Spiel. Das fand in der Nachwuchsliga beinahe zehn Jahre lang weiter auf dem nach Aktenlage zerstörten Kunstrasengeläuf statt. Aber parallel dazu entstand das neue Leistungszentrum, das schließlich feierlich eingeweiht wurde. 

Doch damit alles ordnungsgemäß abgerechnet werden kann, musste nun nur noch der alte Kunstrasenplatz nicht nur angeblich, sondern auch faktisch verschwinden. Eine rein verwaltungstechnische Entscheidung: Wenn der Rückbau der Altanlage zur Förderbedingung gehört, muss er erfolgen – egal, wie gut der Platz noch ist und wie viele Jahre er Freizeitsportlern noch gute Dienste leisten könnte.


Der Rest vom Fußballfeld.


Für die Verantwortlichen in den Büros ist der Unterschied zwischen kaputt und weg nicht groß. Aber für die Kinder und Jugendlichen, die hier Tag für Tag spielten, ist er riesig. Dieser Platz war nicht irgendein Fußballplatz. Es war der einzige Kunstrasenplatz der Stadt, der jederzeit für alle offenstand – ohne Vereinsmitgliedschaft, ohne Schließzeiten, ohne Nachbarn, die sich vom Lärm spielender Kinder gestört fühlen.

Als sie dann aber kamen, nichtsahnend, war alles weg. Der saubere Schnitt zwischen Neubau und Altanlage macht reinen Tisch und er hinterlässt eine Brache, auf die irgendwann Camper mit ihren Wohnmobilen ziehen sollen. Auf 50.000 Quadratmetern wäre Platz für etwa 500 Fahrzeuge, 70 sollen am Ende hinpassen.

Dass der Kunstrasenplatz fehlen wird, ist praktisch nur ein Gefühl der Betroffenen. Offiziell die Jugendlichen aus Halle-Neustadt den Platz nie nutzen dürfen. Dass die Spielfläche, einst mehr als eine halbe Million Euro teuer, die nächsten fünf, zehn oder 15 Jahre weiter hätte ihrem ursprünglichen Zweck dienen können, spielt auch keine Rolle. Verwaltungstechnisch war sie schließlich bereits seit zwölf Jahren abgeschrieben und unbenutzbar.

Am Wochenende war es immer voll.

Der Kunstrasen hätte noch Jahre seinem Zweck dienen können.

Der Abriss geht auf Halde.





Sonntag, 19. Mai 2024

Fall der letzten Maske: Abschied vom Ausnahmezustand

Die OP-Maske, die auf der Peißnitzinsel in einem Baum hing, hat sich vor wenigen Tagen verabschiedet.


Es ist vier Jahre her, dass die Welt sich von einem Tag auf den anderen veränderte. von einem Tag auf den anderen veränderte. Überall herrschte Maskenpflicht, Menschen verschwanden unter Schutzausrüstungen, ein kollektiver Gesichtsverlust trat ein. Damals, als die ersten Vorschrift zur sogenannten Gesichtsbedeckung den Blick der Deutschen auf sich selbst für immer veränderten, sollten alle diese Masken tragen. Aber anfangs gab es keine zu kaufen.

Umso auffälliger war eine Maske, die ein Unbekannter an einen kleinen Baum in einem Park gehängt hatte. So niedrig, dass jeder sie sehen konnte. So hoch, dass niemand in der Lage war, sie herunterzuholen.

Vier Jahre hing sie im Baum, die Maske.
Die blassblaue Maske überstand den ersten Sommer der Pandemie und den ersten Winter überstand sie auch. Unbeschadet hing sie an einem Zweig, vom Wind gebeutelt und vom Sturm zerzaust, nassgeregnet und anschließend wieder von der Sonne getrocknet. Es kam der Frühling und der nächste Sommer und sie war immer noch da, es kam der erste Ausnahmezustand namens "Lockdown" null und der zweite, die erste Impfkampagne und die mit den Boostern. Und sie baumelte weiter unerbittlich in ihrem Baum, als wollte sie alle verlachen, die vor lauter Angst und Unsicherheit und vor Hiobsbotschaften und Beruhigungsversuchen nicht mehr wussten, was sie nun glauben sollten und überhaupt noch konnten.

Die Maske war stabil, auch wenn sich alles rundherum änderte. Die Impfungen, die vor Ansteckungen schützten, taten das dann doch nicht, aber die Maske war noch da. Die neue Welle, die noch schlimmer werden würde, wie der Gesundheitsminister nicht müde wurde zu betonen, kam nicht. Doch die Maske war noch da. Corona wurde vom Sonderfall zum Alltag, wie die Maske, die ganz nah an einem beliebten Spazierweg hing. Und hing. Und hing. 


Vom Tag an, an dem der damalige deutsche Gesundheitsminister behauptete, dass „Mundschutz nicht notwendig ist, weil das Virus gar nicht über den Atem übertragbar ist“, bis zum Tag, an dem selbst im Freien Maske getragen werden musste, betrachtete sie die Veränderungen von höherer Position aus. Eine einfache OP-Maske, die auf dem Höhepunkt der Krise zwei Euro kostete - 100 Mal mehr als in gewöhnlichen Zeiten. Sie das alles durchgehalten. 

Der zweite Corona-Winter kam, der zweite Frühling, Sommer, Herbst und noch ein Winter. Als bleibe sie ewig jung, baumelte sie da oben, ein angeblich wirksames Viren-Abwehrmittel, das zum Denkmal einer verrückten Zeit wurde. Die Maske, im März 2020 auf den Baum geraten, hing dort noch im März vier Jahre später, etwas zerzaust, ein wenig fusselig, aber störrisch, als wollte sie ihren Platz nie mehr räumen.

Dann aber ist es doch passiert. Eines Tages war sie verschwunden, von einem kleinen Frühjahrssturm herabgeweht. Das Band war gerissen, der Mundschutz auf den Boden gefallen. Nach genau vier Jahren und zwei Monate, also 1520 Tagen, bestehend aus 217 Wochen, ist die Geschichte der letzten Maske vorbei.

Da liegt sie nun im Dreck.


Sonntag, 7. April 2024

Peter Sodann: Peter der Große


Er war Arbeiter, Theaterchef und Fernsehkommissar - noch mit 80 begann Peter Sodann in Sachsen mit dem Bau einer Bibliothek - und noch einem neuen Theater.


Morgens ist er immer mit dem Hund gegangen, jeden Morgen. Der Hund war ein Dackel, die Strecke immer ähnlich, die Aufgabe stets die gleiche. Peter Sodann, seit heute 80 Jahre alt, zog los, eine gute Tat zu vollbringen. "Ich mache meine Runde", sagte er, "und wo ich Müll liegen sehe, sammle ich ihn auf."

Sodann wusste natürlich, dass er belächelt wird. Die Gymnasiasten, die ihm entgegenkamen, schüttelten die Köpfe über den älteren Herren, der ihnen den Dreck nachräumte. Peter Sodann ist es egal gewesen. Er tue das ja nicht für die anderen, auch wenn er beharrlich hoffe, sein Beispiel werde irgendwann irgendetwas bewirken. Er tue das für sich, sagt er. "Ich fühle mich danach einfach besser."

Einsatz für sich selbst


Um anderes ist es nie gegangen in der langen, bunten Laufbahn von Halles größtem Prominenten. Sodann, im sächsischen Meißen geboren und früh mit dem DDR-Staat aneinandergeraten, hat schon bald nach Studium, Haft und Parteiausschluss begonnen, die eigene Nase als Kompass zu verwenden.


 Mit dem neuen theater in Halle, das er zusammen mit seinen Schauspielern aus einem alten Kino zimmerte, schuf sich der damals 45-Jährige ein richtiges Leben im falschen Sozialismus. Eine Insel, die Sodann auch so nannte: "Kulturinsel". Hier war er Herz und Seele, Motor und Steuermann, ein Impresario, der die Rollen als Pastor, Manager und Betreuer parallel spielen durfte.

Die gewitterhimmelblauen Augen werden heute noch eine Spur dunkler, wenn Sodann über seinen Abschied aus dem Haus spricht, das am Ende wie sein größerer Körper war. Rausgekantet hat er sich gefühlt, auf Grund gelaufen im Flachwasser der Kulturprovinz, in der ihm Stadtobere übel nahmen, dass er es war, der bei gemeinsamen Rundgängen durch die Straßen alle naselang gegrüßt wurde. "So klein ist manchmal das Denken", lächelte Peter Sodann, ehe er dem nächsten Passanten zunickte.

Ein Sachse in Halle


Er ist hier an der Saale, das sagt er freimütig, heimisch geworden. Aber kein Hallenser. Sodann, dem gelernten Werkzeugmacher aus Weinböhla, der an der Werkbank immer auf einem Fußbänkchen stand, eignet noch immer das sächsisch-verbindliche, die weiche, wortreiche Art des Mannes, dem Fremde im Zug einfach so ihr Leben erzählen und der seine eigenen Geschichten auch selbst gern hört. Vom Hundertsten ins Tausendste plaudert er sich da, sprudelt Gedichte und Lieder, große Namen, Loest, Weigel, Blüm, Geissler. Dazu Texte aus alten Rollen und philosophische Gedanken über die Welt und den Menschen, die Gesellschaft und die Geschichte.


Kein einfacher Mann war er, dieser Sodann. Schlägt Haken. Weicht aus. Provoziert. Verwirrt Feind, Freund und zuweilen sogar sich selbst. So hatte er einmal seine Bundestagskandidatur für die PDS angekündigt. Sie dann aber zurückgezogen, weil der MDR drohte, ihm seine geliebte Rolle als Tatort-Kommissar fortzunehmen, bei der er es geschafft hatte, den Fernsehfahnder nach seinem eigenen Ebenbild zu formen. Später trat er bei der Wahl zum Bundespräsidenten an. Erschreckte die Partei, die ihn nominiert hatte, aber gleich mit der Ansage, dass er den Chef der Deutschen Bank ja doch am liebsten verhaften würde.

Im Schlagzeilenorkan


Peter Sodann schmunzelte dann. Diese "Dinger", wie er sie nannte, die passierten ihm nicht so einfach, die baldowerte er vorher aus. Dann sagte er, dass es in Deutschland keine Demokratie gibt. Oder eben, dass er Herrn Ackermann verhaften möchte. Kann sein, dass ein Schlagzeilenorkan ihm für ein paar Minuten die Luft nimmt. Kann sein, dass man Freunde verliert. Sodann zuckt die Achseln. "Aber von denen hat man am Ende sowieso nur ein paar."


Es ist wie mit dem Papier aufheben und mit dem Müll sammeln. Das ist sein Peter-Prinzip: Er muss das nicht tun, aber er tut es gern. Er weiß, er fühlt sich besser danach. "Wohltun, wo man kann", sagt Sodann, "Freiheit über alles lieben und Wahrheit auch sogar vorm Throne nicht verleugnen." Den Spruch hat er zu Haus an der Wand hängen, noch nicht mal so ganz lange. "Aber das war auch schon vorher genau das, was ich leben wollte", sagte er.

Es ist ein Leben inmitten von Klassikersprüchen, tapeziert mit Zitaten, Gedichten, uralten Liedzeilen, das Peter Sodann führt. Schon zu DDR-Zeiten hat er an "der Dummheit der Herrschenden" gelitten, wie er sagt. Damals aber konnte er sich noch zurückziehen in das kleine, grenzenlose Theater in der eng umgrenzten Republik. Heute muss das Land die Bühne sein, auf der er für Gerechtigkeit und eine bessere Welt streitet, ohne direkt sagen zu können, wie die sein müsste. Klar, gerechter. Ohne Arm und Reich. Und ohne Dummheit am besten. Gegen die habe sein Theater ja immer angespielt.

Der "betende Kommunist"


Mit Zitaten kittet Sodann zusammen, was nicht zusammen geht: Einen betenden Kommunisten nennt er sich dann und er ist "im Nachhinein nicht böse, dass ich zu DDR-Zeiten eingesperrt war". Das habe ihm Gelegenheit verschafft, über sich und die Welt nachzudenken. Weggehen in den Westen? Nie ein Gedanke. "Ein Arzt verlässt seine Patienten nicht." Lange hat er sein Helfersyndrom an einen drogensüchtigen Jungen ausprobiert. Lars, blond, kindlich und zumindest optisch unschuldig, bekam von Sodann Essen und einen Job und Geld, das ihm stets mit der Ermahnung "aber nicht für Drogen" übergeben wurde. Lars hat seinen Beschützer immer wieder enttäuscht. Aber Peter Sodann gab nicht auf.


Es gehe ja gar nicht um das große Ganze. Es geht um den Einzelnen, rief Peter Sodann und die Blauaugen blitzten. Während seine Frau immer mal sage, er solle ein bisschen ruhiger machen, auch mal was auslassen, ziehe es ihn immer weiter. "Ich bin immer gefragt worden", beschrieb er, "willst Du in den Kindergarten, willst Du Werkzeugmacher lernen, willst Du Theaterchef werden, willst Du als Präsident kandidieren." Warum nicht, habe er jedes Mal gedacht. Was auch immer passiert, dümmer werde man nicht davon.


Das Leben ein Experiment


Das Leben ein Experiment, das immer wunderbar beginnt und öfter mal im Zwist endet. Peter Sodann weiß Bescheid. "Das erste Mal haben sie mich ja schon im Kindergarten rausgeschmissen."
Kein Grund, sich nicht immer wieder auf Dinge und Leute einzulassen. Peter bleibt bei seinem Prinzip. Hat er seinem neuen theater nach der Wende eine Bibliothek der bedrohten DDR-Bücher bauen wollen, so baut er seiner Bibliothek, die jetzt im sächsischen Staucha entsteht, nun ein Theater. 


Es sei so viel Platz da, schwärmte Peter Sodann, genug für Leseräume, Studierzimmer, eine Kneipe und vielleicht sogar für einen Golfplatz für die Armen. "Ich träume gern", sagte Peter Sodann, "träumen ist ja auch nicht gefährlich." Das Elternhaus in Meißen hatte er eingetauscht gegen ein neues Heim gleich neben der Bibliothek. 

Peter Sodann geriet mit 80 noch ins Schwärmen angesichts der Aussichten, die sich ihm boten. 

Ja, wenn alles fertig sein würde, wäre es fast wieder wie auf einer Insel.

Jetzt ist Peter Sodann mit 87 Jahren gestorben.

Zur Peter-Sodann-Bibliothek


Sonntag, 24. März 2024

Ende einer Ära: Die Geburt eines Zukunftsortes

Es ist nur selten möglich, einen Lost Place wirklich beim Entstehen beobachten zu können. Meist werden die Gebäude, aus denen sich der Mensch zurückzieht, eher unbemerkt aufgegeben. Fabriken geben auf, Labors oder Schulen, Kasernen und Kirchen schließen ihre Pforten, ohne dass es jemand bemerkt. 

Doch in Deutschland gab es nun schon zum zweiten Mal die Gelegenheit, einen großen Konzern beim Sterben zuzuschauen die letzten Tage seiner viele Jahrzehnte währenden Existenz direkt vor Ort mitzuerleben.
Nach dem langsamen Sterben der letzten und größten deutschen Kaufhauskette Kaufhof war es diesmal der Einzelhandelsriese Real, der seine Pforten mit Ansage schloss. Die gewaltigen Verkaufshallen leerten sich langsam, dann immer schneller. Die Regale gähnten ohne Waren, die Reste des Bestandes gingen aus Kisten und Boxen in den Verkauf, aber meist immer noch zu stolzen Preisen. 

Die Bilder, die am Ende einer ganzen Ära entstanden, erzählen vom leisen Tod eines Unternehmens, das über viele Jahre hinweg stets zur falschen Zeit das falsche tat, das aber mit einem untrüglichen Gefühl fütr den richtigen Moment. Für nachwachsende Generationen bleiben noch ein paar stadiongroße Hallen mehr, vielleicht dann bald für eine Cannabis-Zucht oder als bloße, aber sehr stabile Träger für die Paneele eines neuen Solarparks.


Sonntag, 14. November 2021

Reise nach Sundevit: Stolpern durch die Sturmflut


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land. Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.

Die Ostsee im Sonnenschein ist immer ein schöner Anblick, noch schöner aber ist er, wenn man weiß, dass man seinen elend schweren Rucksack bald zum letzten Mal abwerfen kann. Und dann erstmal nicht mehr aufbuckeln muss.   Bis dahin sind es noch ein paar Schritte, immer am Ufer entlang, denn auch am letzten Abend wollen wir am Strand zelten. Dafür ist diese Gegend ideal, denn außer Sand und Meer und Wind und ein paar wenigen Spaziergängern und Strandbesuchern, gibt es hier ja nichts. 


Oder doch, Überraschung: Auf einmal taucht ein Kiosk auf, der auf keiner Karte eingezeichnet ist! Das ist für uns wie ein Zeichen, dass wir hier in der Nähe der "Strandnixe" bleiben sollen. Einige andere haben sich das auch gedacht und einen naheliegenden Parkplatz zum halblegalen Campingplatz für ihre Wohnmobile umfunktioniert.  

Wir essen ein Fischbrötchen, packen ein paar Bier ein und gehen zum Strand hinunter, um einen Platz für unser Zelt zu suchen. Der Sandstreifen ist hier nicht sehr breit, die Steilküste dahinter dafür aber sicher fünfzehn Meter hoch. Es gibt nur einen einzigen Weg hinunter - der Grund dafür, das ahnen wir aber noch nicht, dass unsere ganze Wandertour in der nächsten Nacht beinahe noch in einer Katastrophe endet.   Aber das passiert erst ein paar Stunden später, erstmal freuen wir uns über die schönste Zeltnische aller Zeiten, versteckt hinter ein paar alten Bäumen und sogar mit Sitzmöglichkeiten und einem alten Baumstamm, der wie ein Tisch aussieht.


Verwundert merken wir am Nachmittag, dass die Ostsee wohl doch so etwas wie Flut kennt: Der Strand, auf dem wir eine Decke ausgebreitet haben, wird immer schmaler, das Wasser rückt uns immer näher. Doch bis zum Zelt sind es noch mindestens fünf Meter und obwohl der Wind immer mehr auffrischt und die Wellen höher werden, wird der Zeltplatz sicherlich trocken bleiben, da bin ich sehr sicher. Nur gegen den Wind wollen wir etwas tun, weil der erfahrungsgemäß im Zelt immer klingt wie ein Orkan, der gleich alles wegfegen wird. Wir spannen also eine Plane als Windschutz auf. Sofort wird es still. 

 Bis es mitten in der Nacht mächtig kracht. Die Plane hat sich losgerissen - und während ich versuche, sie festzubinden, stelle ich fest, dass vom Strand fast nichts mehr übrig ist. Drei Meter unterhalb der Zeltleine steht das Meer, kurze Zeit später ist es schon auf zwei Meter herangerückt. Nach hinten können wir nicht, das ist die Steilküste. Und zur Seite geht nur noch vielleicht, denn auf den 600 Metern bis zum Aufgang ist der Strand an den meisten Stellen nicht halb so breit wie hier. 


Es ist drei Uhr früh, als wir hastig alles zusammenpacken, Stirnlampen aufschnallen und flüchten. Nur die ersten paar Meter trockenen Fußes. Dann erwischt uns die erste Welle dessen, was der Wetterbericht am nächsten Tag eine Sturmflut nennen wird.   Es ist stockdunkel, man sieht die vielen gefallenen Bäume nicht und der steinige Untergrund macht das Gehen zu einer gefährlichen Sache. Dann endlich haben wir es geschafft. 


Nass, aber glücklich kommen wir an der Treppe nach oben an, die - das bemerken wir erst jetzt - auf ein Stück Weg führt, dessen Musterung uns sehr bekannt vorkommt. Es ist das letzte Stückchen Kolonnenweg aus Betonkeksen aus dem kalten Krieg.  

Dahinter liegt eine kleine Wiese, auf die wir unser Zelt stellen. Am nächsten Morgen weckt uns die Sonne, die auch dringend gebraucht wird, um all die nassen Sachen zu trocknen. Unsere Wanderstiefel schafft sie nicht, die bleiben noch eine ganze Woche nass - wie als Erinnerung an eine unvergessliche Wandertour.

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Samstag, 5. Juni 2021

Vergessene Pfade: Wandern auf dem Mond


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.

Entlang des Kuhlrader Moores wandern wir auf vergessenen Wegen durch ehemalige Sperrgebiete. Noch eine Zone, aus der die Bewohner mit Gewalt und Drohungen vertrieben wurden, um die Grenze sicher zu machen. Wir laufen stundenlang und sehen keinen einzigen Menschen. Die 15 Kilometer nach Carlow, einem kleinen Dorf mit einer Kirche und einer winzigen Kneipe, wo wir hoffen, frisches Wasser zu bekommen, bestehen nur aus verwitterten Feldwegen und Maisfeldern. 


Die Einheimischen, die wir nicht sehen können, scheinen aber kluge Leute zu sein: Sie bremsen den gelegentlich wohl scharfen Westwind aus, indem sie Haselnusshecken entlang der Felder pflanzen, so dass wir unseren Weg wie in einem endlosen grünen Tunnel gehen.   Das ist schön, aber als wir Carlow erreichen, lösen sich alle unsere Hoffnungen in Wohlgefallen auf. Der Carlower Hof, das Gasthaus, in dem wir hofften, etwas zu essen und etwas zu trinken zu finden, ist geschlossen. Nicht wegen Corona und der Pandemie, nein. Der Wirt hat offenbar den Preis für den Niedergang der Grenzregion bezahlt. "Geschlossen seit Juli 2019" steht auf einem Schild im staubigen Fenster. 


Es ist gerade wieder ein sehr heißer Tag und unsere Wasserflaschen sind so leer wie die Straßen des Dorfes. Wir versuchen es in den halbwegs bewohnt wirkenden Häusern. Und wirklich - eine freundliche junge Frau hat Mitleid mit uns und füllt unsere Flaschen.   Aber die Probleme sind damit nicht am Ende. Wie immer hatten wir eigentlich geplant, abends außerhalb der Stadt nach einer schönen Wiese zu suchen, um unser Zelt aufzubauen. Aber hinter Carlow gibt es keinen solchen Ort. 


Wir gehen Kilometer für Kilometer, überall sind nur Pferde- oder Schafweiden hinter Zäunen, Maisfelder, die die Haselnusshecke erreichen, oder Waldstreifen mit dichtem Unterholz. Wir brauchen eigentlich nur ein paar Meter Platz, aber nicht einmal das existiert hier.   Wir sind verzweifelt, denn selbst die Wiese an einer alten Mühle, den wir auf der Karte gesehen hatten, entpuppt sich als Garten einer alten Frau, die hier ganz allein im Wald lebt. Sie schaut ängstlich über den Zaun, also stiefeln wir lieber schnell vorbei.


Erst ein paar weitere Kilometer weiter stranden wir in einem dunklen Wald, aus dem im Abendlicht eine kleine Lichtung unter einem alten Baum leuchtet. In der Nähe zerfällt eine Ruine, wie es scheint, einst ein Zollhaus, aber das ist alles. Keine anderen Häuser in Reichweite, keine Straßen, keine Nachbarn. Doch gerade als wir unsere köstliche Tomatensuppe mit frischem Carlow-Wasser kochen wollen, bellt ein Hund und Peter und seine Freundin Gabriele stehen vor unserem nicht ganz so legalen Campingplatz. 

Im ersten Moment befürchten wir, dass sie uns ihrem Dorf-Sheriff melden könnten, weil wir illegal campen. Aber die beiden sind sehr freundlich und freuen sich sogar ein wenig, zwei Wanderer zu treffen. "Hier ist nichts los", sagt Peter, "es gibt keine Kneipe und überhaupt nichts."   Wenn man hier etwas erleben wolle, müsse man mit seinem Hund rausgehen. "Aber normalerweise gibt es hier draußen auch nichts Besonderes." Wir sprechen über den Niedergang von fast allem von der Sekunde an, als alle glaubten, dass nach dem Ende der kommunistischen Ära endlich alles besser werden würde. Ist es besser? Ja, Peter schwört es. Aber gut? Nein, nein. Nicht einmal fast.


Je später am Abend, desto besser schmecken zumindest unsere privaten Wandercocktails. Dabei handelt es sich um eine hochgesunde Mischung aus Carlow-Wasser, Absolut-Wodka und Vitamintabletten mit Grapefruitgeschmack. Das ist zweifellos die beste Methode, ein geistiges Getränk dabeizuhaben, wenn das Gepäck mehr wiegt als man selbst.


Ein Viertel Literchen davon, und der warme Abend in der Einsamkeit zwischen dem kleinen Bach Maurine und dem Stover Mühlenbach ist noch mal doppelt so schön. Im Westen geht die Sonne unter, hinter dem Zelt weiden die Schafe und ein Himmel voller funkelnder Sterne hängt über uns. Prost! 
 

The first episode of our hike you can read here.This is the second one and here are thirdfour,fivesixseven, eightnine, ten11 and 12