Donnerstag, 4. März 2021

Weiter nach Norden: Wanderung durch ein geschlossenes Gebiet


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Dieser sogenannte Kolonnenweg ist insgesamt 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land.


Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten Einheit, danach, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft sagen.

Auf dem weiteren Weg zu einem kleinen Nest namens Wendischthun treffe ich dann meine Vorfahren. Direkt am Ufer der Elbe gibt es einen Ort namens "Konau", knapp vorbei, aber naja. Das Nest ist winzig, kleiner noch als jedes andere auf dem Weg. Nur ein paar Gehöfte, ein paar Scheunen, zwei Hunde. Niemand ist auf der Straße. Aber zumindest ist Konau fast ein Weltkulturerbe - ein Marschlanddorf, das vor Jahren sogar mal Teil der Weltausstellung "Expo" gewesen sein soll, weil hier im Sperrgebiet an der ehemaligen Grenze Blumen, Pflanzen und Tiere überlebt haben, die sonst nirgendwo zu finden sind. 


Es gibt auch eine Ausstellung darüber, die jedoch wegen Corona geschlossen ist. Ebenso wie das Hofcafé, auf das wir große Hoffnungen gesetzt hatten, weil wir unsere leeren Flaschen mit Wasser füllen müssen. So wird der Weg wieder lang und die nächste Pause findet am Elbufer statt, das wie immer verlockend aussieht, aber meist kaum zugänglich ist. Die Weiden sind fast überall abgesperrt, es gibt nie Wege nach unten. Nur hier kommen wir endlich doch mal runter zum Wasser, auf dem wie immer kein einziges Boot, Kanu oder gar Schiff vorbeifährt. Mit Ausnahme einiger Arbeiter mit einem Bagger ist die Elbwasserstraße leer, obwohl vom vielbeschworenen Niedrigwasser nichts zu sehen ist. 


Die Elbe ist aber wirklich idyllisch. Je weiter wir nach Norden kommen, desto mehr weiße Sandstrände gibt es am Ufer zwischen den Buhnen. Sie laden zum Landen, Verweilen und Schwimmen ein. Aber es ist niemand da, der den ruhig fließenden Fluss nutzt, um sich zu entspannen und den malerischen Himmel zu bewundern, der an die Weite des Himmelszeltes in Skandinavien erinnert. Nur leere Orte, niemand da, niemand um uns herum. Deutschlands längster Wanderweg ist einer ganz ohne Wanderer. 

Auf einmal spricht uns aber einer der Radfahrer an, Heinz von Zella-Mehlis, der nicht nur Kilometer sammelt, sondern auch Geschichten auf dem Weg. Er selbst ist auf dem Weg nach Schwerin, hat aber gerade ein bisschen die Richtung verloren. "Mal sehen, wohin es mich führt", sagt er. Heinz hat Zeit, Zeit genug, um sein Rad in einem Tempo neben uns herzuschieben, das er wahrscheinlich für sehr gemächlich hält. Aber Heinz trägt auch keinen Sack Zement als Rucksack, sondern nur ein Notizbuch, in das er auf dem Weg notiert, was am Ende ein Buches über seine Reise werden soll. 


"Habt ihr den Mann mit dem Kinderwagen über den Damm rennen sehen?", fragt er. Ja, das haben wir und wir nicken atemlos. Er sagte: "Da ist kein Kind drin, sondern das Gepäck." Ja wirklich? Atemloses Nicken. Ja! "Er rennt von Dresden nach Hamburg", beschreibt Heinz seine Begegnung mit dem Extremsportler, der an uns vorbeiflog, so dass wir dachten, er sei ein junger Vater, der sein Kind auf seiner morgendlichen Joggingrunde mitnimmt.   Wir erzählen Heinz von Elisabeth, der 70-jährigen Erfurterin, die allein von Travemünde nach Thüringen läuft und die einzige Wanderin gewesen ist, die wir bis dahin getroffen hatten. "Mist, die habe ich verpasst", beklagt sich Heinz und notiert, dass Elisabeth dank ihres kleinen Rucksacks und vieler vorgebuchter Übernachtungen in Pensionen mehr als 25 Kilometer pro Tag hinter sich bringt. Heinz scheint beeindruckt zu sein. Das fahre er etwa mit dem Rad, sagt er. 


Auf dem Deich weiden Schafe, Kühe und Pferde und als wir endlich die Räucherei in Stiepelse erreichen, hängt Kneiper Jürgen gerade das "Geschlossen"-Schild raus.   Das kannst du nicht machen!, beklage ich mich. Jürgen sieht die Rucksäcke und versteht. Natürlich, denn der große, dünne Mann im viel zu weiten Pullover hat eindeutig ein Herz für seltsame Vögel - Heinz ist ja auch schon da. Jürgen hat sein Leben als Musiker verbracht und unter anderem Bass für Udo Lindenberg und Gunter Gabriel gespielt. "Bis zu seinem Tod war Gunter immer wieder hier und trat bei mir auf", erzählt er stolz und Fotos von sich und allerhand Stars. Heinz zückt seine Kamera und staunt. "Sogar Prominente hier", lobt er - "und natürlich meine verrückten Wanderer." 


Die wenden sich nun Wendischthun zu, einem kleinen Flecken, in dem wir unser Zelt in einem Apfelgarten aufschlagen, der wie ein Paradies aussieht. Die Bäume sind grün, die Äpfel rot und Heike, die Chefin der „Alten Schule“, hat sogar kaltes Bier. Nur wenige Meter entfernt baut Kai sein kleines Zelt auf, ein Radfahrer, der aus Dresden kommt. Er ist erst seit drei Tagen unterwegs und hat schon 400 Kilometer weg. Weitere 400 braucht er noch bis Kopenhagen. Ein junger Sportler, sehr cool und trainiert. Bevor wir unser drittes Bier geöffnet haben, schläft er direkt vor uns ein.

Bericht auf Englisch



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