Dienstag, 12. Februar 2013

Kreuzworträtselmord: Der Jäger

Siegfried Schwarz leitete die Fahndung nach dem Mörder von Lars B. Doch ein anderer Fall beschäftigt ihn bis heute viel mehr - und der ist bis heute ungelöst. Er hat diesen einen Fall nie vergessen können. Immer wenn der frühere Kripo-Hauptmann Siegfried Schwarz zurückdenkt an seine Zeit als Chef der Morduntersuchungskommission des Bezirkes Halle, hat er dieses Gesicht vor Augen: Ein Junge mit fröhlichem Blick, sieben Jahre alt, das Leben vor sich. Und dann plötzlich nichts mehr. Ende. Schluss. Aus. Der kleine Maik, sieben Jahre alt, verschwindet in jenem Sommer 1981 spurlos. Er ist mit seinem Vater im Freibad, doch als der ihn zum Nachhausegehen ruft, taucht er nicht auf. Der Vater wartet eine Nacht und meldet den Jungen dann als vermisst. Die Kripo fahndet. Wochenlang.

 "Wir haben wirklich jeden Stein herumgedreht", sagt Siegfried Schwarz. Eigentlich alles ganz genau so wie bei dem Fall, der die Fahnder damals sowieso schon seit Monaten in Atem hielt. Am 15. Januar um 20.30 Uhr war eine Frau auf dem Polizeirevier in Halle-Neustadt erschienen, um ihren Sohn Lars als vermisst zu melden. Ins Kino hatte der Siebenjährige gewollt. Nun war die Vorstellung längst beendet. Alle Freunde waren wieder daheim. Nur Lars nicht, obwohl der Junge vorher noch nie zu spät gekommen war.

Siegfried Schwarz hat die Zeitabläufe auch drei Jahrzehnte danach noch ganz im Kopf. "Um 20.46 Uhr wurde die Fahndung eingeleitet", sagt der Mann, der wenig später als Leiter der Morduntersuchungskommission mit dem berühmtesten Tötungsverbrechen der DDR-Geschichte betraut werden wird. Denn der kleine Lars bleibt verschwunden, spurlos verschwunden sogar. Niemand hat ihn gesehen, keiner weiß, wo er ist. Die Polizei sucht nach dem Kind, sogar öffentlich, was in der DDR nicht alltäglich ist. Doch das hier ist kein Fall wie die meisten der rund 1 250 Vermisstenfälle, die die Kripo im ehemaligen Bezirk Halle jedes Jahr bearbeitet.

"Wir hatten anfangs nichts in der Hand", beschreibt Schwarz, "also haben wir Lautsprecherdurchsagen gemacht und die Zeitung eingeschaltet." Dennoch dauert es noch lange zehn Tage, bis die Sonderkommission Lars weiß, womit sie es zu tun hat. Ein Streckenläufer der Reichsbahn entdeckt einen herrenlosen Koffer an der Bahnstrecke Halle-Leipzig. Als er die Verschlüsse öffnet, findet er den toten Körper des vermissten Jungen. Siegfried Schwarz, der Mitte der 50er Jahre Polizist geworden war und seit Mitte der 60er als Kriminalist in die tiefsten Abgründe menschlicher Seelen geschaut hatte, muss bei der Erinnerung immer noch schwer schlucken. Die Bilder verblassen wie die alten Kopien von Briefen und Akten, die er bis heute aufgehoben hat. Aber sie gehen nicht weg. "Wir wussten von diesem Moment an, dass wir keinen vermissten Jungen suchen, sondern einen Mörder", sagt der 76-Jährige. Zugleich ist dem erfahrenen Kriminalisten klar, dass die Ermittlungen jetzt Anhaltspunkte haben: Da ist der Koffer aus Hartpappe, da sind drei Plastiksäcke, da eine sechs Millimeter starke Schnur, vor allem aber sind das zerknüllte Zeitungen und Zeitschriften, darunter zwei Exemplare der "Freiheit", Ausgabe Halle-Neustadt. Und in diesen Zeitungen sechs ausgefüllte Kreuzworträtsel.

 "Damit waren wir nicht mehr auf den Zufall angewiesen", sagt Schwarz, dessen Interesse sich sofort auf die Kreuzworträtsel richtet. Natürlich, die Sonderkommission prüft penibel jeden Gegenstand, den sie im Koffer findet. Doch weder das Etikett einer Plastiktüte noch die Bodenproben aus den Stiefeln des Opfers noch ein Gutachten zur Schnur führen weiter. "Es war absehbar, dass wir den Schriftenverursacher aus den Kreuzworträtseln finden mussten", sagt Schwarz. Doch sein Vorschlag, Schriftproben in der Zeitung abzudrucken oder den gefunden Koffer mit einer Beschreibung der Tat öffentlich auszustellen, um dem Täter mit Hilfe der Bevölkerung auf die Spur zu kommen, wird abgelehnt. Der Koffer wird zwar in einem Schaufenster nahe des vermuteten Tatortes gezeigt. Aber nur mit dem Hinweis, er spiele eine Rolle bei einem schweren Verbrechen. "Darauf springt keiner an."

Bleibt den Ermittlern um Schwarz und seinen Stellvertreter Manfred Löser nur die mühsame Tour. Über Preisausschreiben und aus dem Altpapier, vom Amt für Arbeit und der Deutschen Post, aus Kaderakten und Autoanmeldungen besorgt sich die um zahlreiche Mitarbeiter erweitere Mordkommission mehr als 550 000 Schriftproben, die mit den recht prägnanten Buchstaben in den verdächtigen Kreuzworträtseln verglichen werden. "Es war offensichtlich, dass uns Aufwand und Mühe irgendwann zum Täter führen mussten", beschreibt Siegfried Schwarz, "aber niemand ahnte, wie viel Aufwand und Mühe wir am Ende wirklich brauchen würden." Siegfried Schwarz weiß, dass in jedem Fall, der nicht nach ein, zwei Tagen gelöst ist, der Zeitpunkt kommt, an dem man zu zweifeln beginnt. Hat man etwas übersehen? Ist man zu nah dran? Doch dass er, der junge Polizist, überhaupt bei der Mordkommission gelandet ist, hat mit einem Fahnder zu tun, der genau solche Zweifel nicht zu kennen schien. "Ich war noch ein ganz junger Kriminalist in Merseburg", sagt Schwarz, "und dieser erfahrene Kollege kam in einem Fall von Totschlag aus Halle: Ledermantel, Seidenschal, souverän, ruhig, selbstbewusst, ein Künstler im Vernehmungszimmer und ein Menschenkenner, der genau wusste, was er tat."

Die Männer von Schwarz´ MUK sind nicht anders. Zwischen 98 und 99 Prozent liegt ihre Aufklärungsquote, immer wieder werden sie auch in andere Bezirke geholt, um dort Gewaltverbrechen aufzuklären. "Ich habe der Mutter von Lars versprochen, dass wir den Mörder ihres Sohnes kriegen", sagt er, "und ich war überzeugt, dass wir das schaffen." Selbst als der Sommer kommt, ohne dass ein passender Schriftvergleich auftaucht. Selbst als die Ausweitung der Suche bis in die großen Chemiewerke keinen Durchbruch bringt. Selbst als Schwarz nach Dessau gerufen wird, um Licht in das Verschwinden des kleinen Maik zu bringen. Die Ausgangslage dort ist ganz anders. Der Siebenjährige ist schon mehrmals von zu haue fortgelaufen, allerdings immer schnell wiedergefunden worden. Nur diesmal vernehmen die Kriminalisten vergebens reihenweise zeugen im Waldbad "Freundschaft" und im Wohnumfeld des Jungen. "Der See wurde abgetaucht, eine Schrebergartenanlage abgesucht - nichts" erinnert sich Siegfried Schwarz. Drei Dutzend Mitarbeiter suchen derweil unter Leitung von Schwarz´ Stellvertreter Manfred Löser in Halle weiter nach dem Kreuzworträtsel-Mörder.

Nächtelang sitzen die Fahnder zusammen und versuchen, ein Profil des Täters zu erstellen: Er ist männlich, schließen sie aus der Art der Verletzungen. Er hat kein Auto und musste deshalb den Zug benutzen. Er verfügt über eine Wohnung in Halle-Neustadt, in der er die Tat begehen konnte. Doch näher kommt die Soko in Halle ihrem Mann sowenig wie Siegfried Schwarz der Lösung seines Falles in Dessau. Bis einer der Schriftprobenprüfer in Halle seinen Augen nicht traut. Es ist der 17. November 1981, genau zehn Monate sind seit dem Verschwinden von Lars B. vergangen. Und hier ist sie nun, eine Schriftprobe mit mittelgroßen Buchstaben, sehr gewandt ausgeführt, das A einprägsam "in der gotischen Form dreizügig geschrieben", wie ein Sachverständiger festgestellt hatte. Die identische Vergleichsprobe stammt von einer Mieterin im Halle-Neustädter Wohnblock 398. Sie war all die Monate nicht entdeckt worden, weil sie an der Ostsee arbeitete.

 Eine Frau aber, da waren die Profiler der Polizei sicher , kommt als Täter nicht infrage, auch wenn sie schon bei der ersten Befragung zugibt, die Kreuzworträtsel ausgefüllt zu haben. Aber ihrer Tochter kommt der Koffer bekannt vor. Und ja, sagt sie, sie habe einen Freund. Der ist 18, heißt Matthias und, das ist ihr peinlich, er bitte sie beim Sex manchmal, ihm von kleinen Jungen zu erzählen. Die Männer von der Sonderkommission Lars wissen sofort, dass das ihr Mann sein muss. Sofort fahren Fahnder nach Friedrichroda, wo B. in einem Ferienheim arbeitet. Um 14 Uhr beginnt die Vernehmung des Verdächtigen, um 4.30 Uhr hat er gestanden. Er habe an jenem Januar auf Arbeit blaugemacht, den Jungen zufällig in der Stadt gesehen, aus einer Laune heraus angesprochen und in die Wohnung der Mutter seiner Freundin gelockt, von der er wusste, dass sie leer steht. Dort habe er Lars erst missbraucht und dann getötet.

"Ich überlegte mir, dass der Junge zu Hause alles erzählen kann, was ich mit ihm gemacht habe." Siegfried Schwarz; Manfred Löser und ihre Männer sind am Ziel. Sie haben ihn. Die Jagd ist beendet, Erleichterung kehrt ein. "Auch wenn da ein Häufchen Unglück sitzt, dem man die Tat weder ansieht noch zutraut." Es ist Schwarz´ Sternstunde als Kriminalist, später in Büchern besungen, verfilmt und heute längst eine Legende. Doch es ist nicht der Fall, an den der Fahnder, heute längst im Ruhestand , am häufigsten denkt. Nein, sagt er. "Das ist der Fall Maik T." Auch nach 30 Jahren ist nie eine Leiche des Siebenjährigen aufgetaucht. Die Vermisstensache steht immer noch als ungelöst in den Akten

Freitag, 25. Januar 2013

Verloren im Empire

Wie viele Nackenschläge kann eine Band vertragen? Wie viele dumme Zufälle können sich zwischen den großen Erfolg und die Knochentour durch kleine Säle stellen? Tim Brownlow, Bassist Duff Battye und Drummer Bill Cartledge wären geeignete Kandidaten für eine brauchbare Antwort. Die drei Engländer, die vor elf Jahren die Band Belasco gründeten, hatten auf dem langen Weg seitdem alles, was das Rock-Leben bietet: grandiose Alben und schlechte Verträge, Auftritte in angesagten Hollywood-Filmen und Gastspiele auf verregneten Kleinstadt-Festivals. Offenbar eine Mischung, die zu gesteigerter musikalischer Überzeugungskraft führt. Denn "Transmuting", Album Nummer vier seit dem famosen Debüt "Simplicity", zeigt das Trio auf einem neuen Höhepunkt: Elf Songs spannen den Bogen vom muskulösen Alternativ-Rock bis zu fein ziselierten Balladen wie sie Coldplay oder Snow Patrol nicht schöner hinbekämen. War das Vorgängeralbum "61" noch geprägt von geraden, flotten Stücken wie "On The Wire" und ehrgeizigen Hymnen wie "The Earth", ergänzen sich die Teile im neuen Werk zu einem perfekten Bild. Gitarre, Bass und Schlagzeug spielen mit unglaublicher Dynamik zusammen, Tim Brownlow singt sich die Seele aus dem Leib und die stürmischen Melodien von Stücken wie "Moves Like Water" oder "Home" setzen sich schon mit dem ersten Hören unwiderstehlich im Ohr fest. Es ist beileibe kein fröhliches Album, das die drei Mittdreißiger da mit Richie Kayan (Oasis, Supergrass) in den Chapel-Studios in Lincolnshire eingespielt haben. Es geht um Enttäuschungen, um verlorene Liebesmüh' und um das Gefühl, verloren zu sein in einer Welt, die sich immer schneller dreht. Das sechs Minuten lange "Empire" beginnt wie vor zehn Jahren das erfolgreichste Belasco-Stück "15 Seconds" mit einem pumpenden Gitarrenriff und steigert sich ganz allmählich in einen Wirbel aus Akkorden, Rhythmen und Bassläufen, wie sie im aktuellen Rock-Geschäft nur Duff Battye spielen kann. Geht es in diesem Mammutstück fast schon in Richtung Led Zeppelin, schleicht sich das folgende "Who do you love" auf Samtpfötchen an wie ein Lied von Mumford & Sons. Nur dass Tim Brownlow besser singt als sein angesagter Landsmann Marcus Mumford. Noch besser ist das zu hören, wenn sie die Lautstärke dimmen und aus dem Tempo-Rock von "Open up" und "Home" ins Akustische schwenken. "Rosa" zeigt einen Tim Brownlow, der zu einer scheppernden E-Gitarre ironisch den Billy Bragg macht: Rosa ist die Chefin, aber das ist völlig okay. Brownlow, Battye und Cartledge, die vor einigen Jahren Geld spendeten, um die Abraumhalde von Klobikau im Saalekreis begrünen zu helfen, sind nicht mehr unterwegs, um Coldplay vom Thron zu stoßen oder Muse zu beerben. "Time is running out", stellt Brownlow in "What it is" fest, klingt aber gar nicht traurig dabei. Alle drei bei Belasco haben Frauen, Kinder und machen Musik, nicht weil die Plattenfirma auf das nächste Album drängt - sondern aus Freude daran, sie machen zu können.

Freitag, 21. Dezember 2012

Große sind manchmal so doof

Sie gehören zu den letzten Kindern der DDR und zur ersten gesamtdeutschen Generation - Fünf Neunjährige erzählten von Wünschen, Träumen und Hoffnungen - das war vor 15 Jahren. Was die Jungs wohl heute machen?

An der Wand vom Kinderzimmer hängt das Prinzen-Poster neben dem von Wrestling-Kämpfer Tatanka. Ihre Sportidole heißen Klinsmann und Kahn, ihr liebster Filmheld ist Schwarzenegger. Gelacht wird zu Otto und dem Komiker Mr. Bean. "Und den Hulk dürfen wir nicht vergessen", meint Sebastian. Hulk ist ein Superheld, der grün und riesig wird, wenn man ihn reizt. Sowas gefällt nicht jedem. "Weil, Hulk ist blöd."

 Marcus und Marian; Stefan, Sebastian und Benjamin sind neun Jahre alt. Sie sind nicht mehr richtig klein, aber noch lange nicht richtig groß. Schule finden sie "nervig, aber man lernt was", Mädchen nennen sie abfällig "Weiber", weil "die immer nur knutschen wollen". In Sachen Sex macht ihnen keiner mehr was vor, seit sie das Thema in Heimatkunde hatten: "Hier ein Glied und da ein Glied", beschreibt Stefan das große Mysterium zwischen Mann und Frau, "und dann jupps." Sie können sich durchaus noch Spannenderes vorstellen.

 Die letzten Kinder der alten DDR sind zugleich auch die erste gesamtdeutsche Generation - geboren Mitte der 80er Jahre, haben sie kaum noch Erinnerungen an die alte Zeit. Vati kam damals immer spät nach Hause, erinnert sich einer. Und man konnte nicht hinfahren, wo man wollte, glaubt ein anderer. Schwer vorzustellen. In Deutschland geboren Heute, fünf Jahre nach der Stunde Null, glauben die Jungen fest daran, in "Deutschland" geboren zu sein. Im Sommer fahren sie mit ihren Eltern zum Urlaub nach Mallorca, in die Türkei oder nach Tunesien. Sie kommen zurück und verstehen nicht, "weshalb solche Asis und Neonazis was gegen Ausländer haben".

"Asi" ist quasi das Gegenteil von Held. Asis, sagt Stefan, seien "Typen mit Glatze, die saufen und keine Ahnung haben". Keine Ahnung zum Beispiel, daß Türken nett sind. Und Tschechen auch. Sie wissen das. Als wäre es nie anders gewesen, wachsen die heute Neunjährigen in den westlichen Wohlstand hinein. Fast jede Familie hat ein Auto, fast jede besitzt Computer, Videorecorder, CD-Player. Und sie können sie bedienen. Sie sind, was Marketing-Experten "Kids" nennen: selbstbewußt wie Große und zapplig wie Kleine, die Köpfe voller Werbesprüche, Markennamen und Fußballergebnisse. Sie haben feste Vorstellungen davon, wie sie später mal leben wollen. Sebastian wird Magier werden, Marian Schauspieler oder Zeichentrickzeichner. Benny orientiert sich mehr in Richtung Stuntman. Stefan und Marcus erwägen eine Karriere als Fußballer oder bei der Feuerwehr. Später werden sie sich alle einen Lamborghini kaufen. Oder einen Porsche.

 In vielen Dingen kennen sie sich heute schon besser aus als ihre Eltern. Sie wissen, welche Rückennummer Klinsmann trägt, wieviel Millionen Matthäus wert ist und daß die Einheit "PS" bei Automotoren angibt, "wie schnell der Schlitten rasen kann". Lädt man sie zum Eis ein, bestellen sie den größten Becher. Und wenn der nicht gleich kommt, fallen spitze Bemerkungen über "schlechten Service". Aber so laut, daß es die Kellnerin hört. Disney kommt ihnen nicht mehr ins Haus. "Nöö, Duck ist schnulz", sind die fünf Jungen sich einig. Als "total affig" gelten auch Schlümpfe und Mickey Mouse. Babyhaft. Kinderkram.

Was Erwachsene pädagogisch wertvoll und lobenswert gewaltfrei finden, hält die Zielgruppe für langweilig. "Richtig gute Filme müssen mit action sein", meint Benjamin, "sonst ist einfach keine Spannung dabei." Als beispielhaft gelten Serien wie "Captain Planet" oder "Batman". "Blöd ist bloß", ärgert sich Sebastian, "daß am Ende immer die Guten gewinnen." Auch Benny leidet daran: "In echt gewinnen ja auch manchmal die Bösen", weiß er aus der Tagesschau. Alle nicken. Würden einmal die Bösen siegen, das wäre was. Hoho! "Man könnte dann eine neue Folge machen und dann würden die Schufte echt vernichtet." Mit der von Erwachsenen mißtrauisch beäugten Gewalt n den Comic-Strips haben die Kids keine Probleme. Trotzdem kommen die X-Men, bisher Pflichttermin an jedem Samstag, einfach nicht mehr.

Die Absetzung der Serie wegen "jugendgefährdender Gewalt" trifft auf harte Proteste. "Da müssen die Eltern ihre Kinder eben belehren, daß es nur Trickfilm ist", schlägt Marian vor. Außerdem gebe es doch in jeder Nachrichtensendung "tausendmal mehr Krieg und Gekloppe" zu sehen. Glücklicherweise vergessen Kinder schnell. Längst sind an die Stelle der X-Men neue Superhelden getreten. Und mit neun sieht man echte Action ja sowieso viel lieber als Zeichentrick. Kids haben auch ihre Geheimnisse: "Wenn ich manchmal am Wochenende bei meinem Freund schlafe", beichtet einer, "gucken wir Horrorfilme und sowas." Er sagt "Horro". Den Gruselschocker "Es" nennt einer der anderen als "echten Klassefilm". Oder "Total Recall" mit Schwarzenegger. Bei dem ist Marian mal eingeschlafen. Nur das erzählt er jetzt lieber nicht.

 Viel bedeutet es ihnen, "cool" zu sein. Wichtig sind die Klamotten. "Du brauchst eine Sonnenbrille, orange Schlaghosen und ein Whitboy-Shirt", beschreibt Benjamin. Die Jacke drüber sollte möglichst lang sein und das Basecap muß verkehrt herum getragen werden. Erwachsene haben davon wenig Ahnung: "Ich sage, was ich haben will, und Mutti kauft dann." Doch Kind sein Mitte der neunziger Jahre ist nicht so leicht, wie die Erwachsenen glauben. Eine riesige Reklamemaschine ist rund um die Uhr damit beschäftigt, den Kindern neue Wünsche und Sehnsüchte einzuimpfen. Videospiele und Trickfilmfiguren, Fernsteuerautos und Borussia-Dortmund-Dresse. "Manchmal weiß ich gar nicht mehr, was ich eigentlich will", stöhnt Benny.

Eine Klage, in die alle einstimmen. Das Taschengeld reicht hinten und vorn nicht, verdient man sich mühsam etwas dazu, ist "die Kohle viel zu schade zum Ausgeben". Die Versuchung ist riesig. Im Supermarkt lange Finger gemacht haben alle schon mal. Tapfer bekennen sie ihre Taten: "Tätowierbilder von Ketchupflaschen gezogen" und "Mickey-Aufkleber von Jogurts eingesteckt". Einer von ihnen hat sogar mal versucht, eine X-Men-Figur mitgehen zu lassen. Sie haben ihn prompt erwischt. "Das war fürchterlich", gesteht er zerknirscht, "ich bereue heute noch." Nie mehr werde er klauen.

Doch auch in dieser Beziehung macht der Jahrgang "85 andere Erfahrungen als alle anderen zuvor. Der Stärkere bekommt, was er will - wie im Zeichentrick. Den Sebastian haben sie mal verprügelt und zehn Mark geklaut, Stefan wurde in eine Falle gelockt, weil größere Jungs sein Basecap haben wollte, und Marian ist auch schon von einer Clique Älterer überfallen worden. "Dagegen", finden sie, "sollte die Polizei mal was machen - die einsperren, die Verbrecher." Für einen mit neun Jahren, einsfünfzig hoch und Größe 37 an den Füßen, ist die Welt noch ganz einfach zu regieren. Hier die Bösen, da die Guten - ein großer Comic. Sie selbst sind natürlich die Guten. Batman und Robin oder Captain Planets Planetenteam, das auszieht, die Erde zu retten. Hätten sie etwas zu sagen,ihre Methoden wären so radikal wie die ihrer Vorbilder: Wer den Krieg in Jugoslawien angefangen hat, gehört "abgeknallt", bestimmt Mari. Wer die Umwelt verschmutzt, kräht Stefan, müsse in den Knast. Lebenslang, versteht sich. "Und auch wer Papier auf die Straße schmeißt, sollte bestraft werden", schlägt Sebastian vor. Am besten mit einem Jahr Straße kehren.

Warum die Regierung, von der sie bloß den "dicken Kohl" kennen, nicht mal was unternimmt gegen Umweltverschmutzung, ist ihnen ein Rätsel. "Ich sehe nicht, daß die sich kümmern", urteilt Sebastian, "aber vielleicht liegt das daran, daß die nur Macht wollen und nicht umweltfreundlich sind." Schließlich fahren Politiker, man sieht das ja in den Nachrichten, die größten Autos. Und Autos, das gilt als sicher, machen den Wald kaputt. "Ohne Wald", ist sich Benny sicher, "haben wir später keine Luft mehr zum Atmen." Eigentlich eine Sauerei. Aber daß trotzdem alle Erwachsenen Auto fahren, wundert keinen: "Manchmal sind die Großen eben schrecklich doof."

Die fünf Kleinen haben deshalb einen "Umweltklub" gegründet. Mit ihren Fahrräder kurven sie nachmittags durch den Park hinter ihrem Viertel, und versuchen wie das ruhelos um die Erde düsende Planetenteam, die Umwelt zu retten. Ein bißchen wenigstens. "Papier auflesen, Nägel aus Bäumen popeln und so." Mit neun hat man noch große Träume, allerdings auch schon eine kleine Ahnung vom richtigen Leben: "Fliegen", das wollen sie doch festgehalten wissen, "können wir natürlich nicht."