Sonntag, 2. Oktober 2011

Die beste Halbzeit aller Zeiten

Zwei Stunden vor Spielbeginn.

Es ist ein gutes Jahr bis dahin, dieses 1979. Vor dem Republikgeburtstag, wie der 7. Oktober in der DDR offiziell heißt, steht der HFC Chemie auf Tabellenplatz 3. Sensationell, denn die Truppe von Trainer Peter Kohl ist eigentlich auf die Rolle als graue Maus im Ligamittelfeld festgelegt. Plötzlich aber wächst Großes im Kurt-Wabbel-Stadion, in das die Leute strömen wie schon lange nicht mehr, weil hier neuerdings gewonnen wird.
Eine Stunde vor Spielbeginn.

Die Fans aus Halle-Neustadt kommen wie immer zu Fuß. Zwei Stunden vor Spielbeginn ist Treffen, dann geht es vorbei an dem Punkthochhaus, in dem HFC-Spieler Jürgen Schliebe wohnt. Wie stets steht Hausmeister Werner Lohs auf dem Balkon und ätzt sein "na, geht ihr wieder verlieren" herunter. Davon lässt sich niemand aus der Ruhe bringen, schon gar nicht, so lange noch Bier da ist. Über die alte Bahnlinie wandern die Fans Richtung Böllberger Weg, von dort aus geht es in die Straße der Republik. Unterwegs wird der Zug lang und länger, Bekannte begrüßen sich, Flaschen und Spekulationen machen die Runde. Es geht heute gegen Magdeburg, wie Dresden, Jena, Erfurt, der BFC, Lok Leipzig und Union Berlin einer der Erzfeinde. Wieviel Anhang haben die mitgebracht? Wieviel Polizisten, die hier durchweg "Bullen" genannt werden, wird der Staat aufbieten? Im Stadion läuft schon der Vergleich der beiden Nachwuchs-Vertretungen. Interessiert aber keinen, denn man muss auf dem kleinen Schwarzmarkt vor dem Stadion noch schnell Programme, Anstecker und aus Westzeitungen abfotografierte Poster von westlichen Rockbands kaufen.
Halbe Stunde vor Spielbeginn.

Fußball ist in der DDR Ende der 70er Jahre ein Ersatzschlachtfeld. Jedes Wochenende prügeln sich Hunderte um Schals und Fahnen, die Stadien sind exterritoriales Gebiet, hier darf gerufen werden, was in Schulen und Lehre nicht einmal gedacht werden soll. Im Wabbel blasen Spielleute des DTSB heute zur Beruhigung ihre Tröten. "Bullen raus", schallt es eine halbe Stunde vor Spielbeginn trotzdem aus der Fankurve im Wabbel, die zu dieser Zeit noch keine Kurve ist, sondern die Gegengerade. Beste Plätze für die Fans, die in der Liga gleich hinter Chemie Leipzig, Lok, Union und Dresden als die Schlimmsten gelten. Typen wie Hörle, ein berüchtigter Schläger, sehen allerdings aus der Nähe ganz nett aus. Zwar nehmen sich die Älteren gern mal ungefragt eine Zigarette aus der Schachtel der Jüngeren. Aber wenns hart auf hart kommt, sind sie auch die, die das Schlachtfeld erst verlassen, wenn der letzte rot-weiße Schal zurückerobert ist.
Anpfiff.

Zum Kampf wird es heute nicht kommen. Magdeburg ist schwach vertreten unter den 25.000 im proppevollen Stadion, das dem ehemaligen HFC-Spieler und jetzigen FCM-Trainer Klaus Urbanczyk höflich applaudiert, als der anläßlich des Geburtstages der Republik mit einem großen Strauß Blumen geehrt wird. Dann ist es 14.30 Uhr und Schiedsrichter Prokop, einer der DDR-Schiris, denen der Ruf des notorischen Betrügers vorauseilt, pfeift an. Auf dem Platz stehen der Tabellendritte und der Tabellenvierte, "wir wollen auch diesmal den Heimvorteil nutzen", hat Trainer Kohl vorher angekündigt. Zwar dominiert der Favorit aus dem Nachbarbezirk die erste Viertelstunde. Doch nach von Streich und Mewes ausgelassenen Torchancen schlägt der HFC zurück.
15. Minute.

HFC-Kapitän Hartmut Meinert und Stürmer Holger Krostitz bereiten das erste Tor des Tages vor, Werner Peter erzielt es. Nun dreht der Gastgeber richtig auf, während der Europapokalsieger völlig von der Rolle gerät. Die Fangerade singt "Rot wie Blut, weiß wie Schnee, wir sind die Fans vom HFC" und den "Chemiewalzer", bei dem die Schals über den Köpfen tanzen. Hörle hat wie immer ein paar Flaschen Bier dabei. Er gibt ab, denn man sieht schon: Magdeburg ist müde, Halle steigert sich in einen Rausch.
46. Minute.

Der macht die zweite Halbzeit zur vielleicht besten, die jemals eine HFC-Elf gespielt hat. Zehn Minuten nach Wiederanpfiff fällt Frank Pastor im Strafraum, gefoult gleich von zwei Magdeburgern. Ein Aufschrei geht durch die Arena, dann noch einer, als Holger Krostitz zum 2:0 trifft. Nur zehn Minuten später macht der Blitz aus Hohenmölsen auch das 3:0, diesmal ein Schuß aus der Drehung. Und kaum sind noch einmal zehn Minuten rum, trifft er zum 4:0 - ein lupenreiner Hattrick nach Eingabe von rechts. Magdeburg ist stehend k.o., tot und begraben. Wie peinlich, dass nun auch noch der kleine Werner Peter die Demütigung vollendet: In der 82. Minute trifft er mit dem Kopf nach Flanke von Frank Pastor.
86. Minute.

Achim Streich macht noch das 5:1, ein verdeckter Schuß von der Strafraumgrenze. Macht nichts, Halle feiert. Die meisten Magdeburger sind unter höhnischem Gesang der Gastgeber schon abgefahren. Die üblichen Schlägereien auf dem langen Weg zum Bahnhof, den der HFC-Anhang rituell nach jedem Heimspiel absolviert, fallen diesmal aus. Der Marsch ist ein freudetrunkener, alle gehen ihn im Bewusstsein, Geschichte erlebt zu haben. Selbst Hausmeister Lohs, der die Rückkehr der Neustädter Fanfraktion wie immer am Balkon erwartet, hetzt diesmal nur leise, "na, doch mal gewonnen".
 

Abpfiff.

"Sturmtrio setzte Glanzlichter" wird die Fußballzeitschrift Fuwo schreiben, gleich fünf HFC-Akteure werden sich in der "Sportecho"-Elf-des-Tages wiederfinden. In den Wochen danach schlägt der HFC den Hauptstadtklub BFC noch mit 3:1 und den Angstgegner Jena mit 1.0. Das Ende des Traums vom Start in den Europapokal beginnt dann allerdings mit einer Niederlage gegen Dresden, die erst amtlich wird, nachdem der Schiedsrichter einen erfolgreich verwandelten Elfmeter für Halle in der letzten Minute wiederholen lässt. Diesmal geht der Ball nicht hinein. Es ist der Anfang vom Ende. Von Platz 3 stürzt Chemie bis Saisonende noch auf Platz 7, der übliche für die graue Maus. Dann folgt ein 8. Platz in der Saison 1980/1981 und zwei 11. Plätze in den Jahren 81/82 und 82/83. Anschließend ist es vorüber. Der HFC siegt ein ganz Jahr lang nur noch ein einziges mal und steigt ab - die Zuschauerzahl von 237.000 Zuschauer, die in der Saison 79/80 ins Kurt-Wabbel-Stadion kamen (durchschnittlich pro Spiel: 18.231), hat der Club in den 30 Jahren seitdem niemals wieder erreicht.
 

HFC gegen Magdeburg 1979, die Mannschaften:
HFC: Kühn; Fülle; Strozniak, Wawrzyniak, Schliebe; Robitzsch, Meinert, Amler, Peter, Pastor, Krostitz

FCM: Heyne; Pommerenke; Raugust Seguin, Decker; Tyll, Steinbach, Mewes; Thomas, Streich, Hoffmann.

Schiedsrichter: Prokop; Di Carlo, Bahrs

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