Samstag, 31. Oktober 2020

Wandern auf dem Kolonnenweg: Im Apfelhain der Grenzsoldaten


Es ist ein feuchtes Erwachen mitten im Nirgendwo. Seit drei Uhr morgens regnet es heftig über dem ehemaligen Todesstreifen am Rande der "Planken und Schlettauer Post", wo unser Zelt mitten im Niemandsland des Kalten Krieges steht. Heute ist das hier ein sehr friedlicher Ort. Zwischen den beiden Gräben, die von den Grenzbefestigungen übrig geblieben sind, mit denen das kommunistische DDR-Regime seine Bürger an der Flucht in den Westen hindern wollte, lebt nur noch Mutter Natur. Selbst die Wassergräben sind normalerweise am Ende des Sommers trocken. Doch heute bringt der Regen das Wasser zurück. Der Todesstreifen wird wieder zum Gefängnis, das Zelt wird nass und wir können uns erst mittags hinauswagen. 



Der Weg, den wir gehen müssen, ist auch ein rutschiges und schlammiges Abenteuer. Der Kolonnenweg führt heute durch tiefe und dunkle Wälder, die "Betonkekse", wie die Wegplatten genannt werden, gehen manchmal verloren, und wir müssen den historischen Postenweg mühsam wiederfinden. Einige der Wegweiser sind hier sehr speziell: Auf einmal tauchen tief im Mischwald einige echte Apfelbäume auf, die hier garantiert nicht hergehören. 



Ein Rätsel - aber mit einer sehr einfachen Erklärung. Vor Jahren im Kalten Krieg nahmen die Soldaten und Grenzsoldaten während ihrer Wachschicht immer Äpfel als Proviant mit. Sie aßen sie und warfen die Reste in den Wald. Ein guter Ort zum Wachsen. Heute ist aus den Griebschen ein Apfelhain gewachsen, an einer Stelle, an der seit der letzten Eiszeit nie ein Apfelbaum stand. Die Bäume haben nicht nur die Zeiten des Todes überlebt, sie verdanken ihnen auch ihr Leben.
   


Das sind die Geschichten, die man an keinem anderen Ort findet. Auch wenn die Spuren der ehemaligen Grenze oft nur noch zu erahnen sind, so finden sich in der Landschaft doch noch zahlreiche Hinterlassenschaften der Ereignisse, die sich hier bis vor 30 Jahren abgespielt haben. So haben sich viele Grenzsoldaten während der langen und offenbar unendlich langweiligen Stunden ihres Wachdienstes in der Rinde der Bäumen verewigt. Oft gibt es Listen der verbleibenden Diensttage, die in die Baumrinde geritzt wurden. Die Buchstaben "EK", die bis heute nicht nur Bäume, sondern auch Betonteile schmücken, zeigen, dass die Entlassungskandidaten die Hoffnung nie aufgegeben haben, denverhassten Grenzdienst zu verlassen, obwohl ihre Offiziere den Brauch hart bekämpften. 



Eine Tragödie aus dieser Zeit zeigt eine Landmarke mit einem Rest des ehemaligen Grenzzauns: Rainer Burgis, ein Bürger aus dem Örtchen Ritzleben in der Altmark, wurde hier 1978 bei einem Fluchtversuch getötet. Der junge Mann war erst 20 Jahre alt, sein Grab auf dem Friedhof von Stappenbeck existiert heute nicht mehr. Übrig geblieben von seinem Leben ist nur eine kleine Tafel an einem Stück Grenzzaun, der als Denkmal für die wenigen Wanderer dient, die hier vorüberkommen. Was in Burgis' Todesnacht geschah, ist unbekannt, sein Kamerad Wilfried Senkel überlebte das Drama, aber seine Spuren verlieren sich mit der Zeit.



Hat er es nach drüben geschafft? Wurde er erwischt und musste ins Gefängnis? Wie hunderte andere Flüchtlinge, die von den ostdeutschen Grenztruppen festgenommen und den Gerichten übergeben wurden. Hat ihn der Westen  freigekauft? Dann hätte er mehr Glück gehabt als Harry Weltzin, ein anderer junger Mann, an den ein Stück weiter des Weges ein Schild erinnert. Weltzin wurde am 4. September 1983 beim Versuch,  die Grenze zu überqueren, durch eine automatische Schusseinrichtung am Zaun getötet. Dort, wo er starb, scheint nun die Sonne auf einen Ort der Trauer. Niemand wandert hier außer uns. Der Kolonnenweg, der als "Grünes Band" vermarktet wird wie ein weltlicher Jacobsweg, ist leer wie die Wälder, die Wiesen und das gesamte Grenzland. Der ehemalige Todesstreifen schweigt.

Der Text auf Englisch.



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