Samstag, 16. Januar 2021

Corona-Kultur: Spazierengehen gegen die Zeit



Es ist schon ein paar Jahre her, dass der englische Musiker und Dichter Justin Sullivan ein Gedicht über den Moment schrieb, in dem "das Licht im Zeitalter der Vernunft erlischt". In dem Song namens "Here comes the war" gibt es eine Zeile, in der ein Chor "schneller, schneller, schneller" singt - ein Moment, der die Gegenwart bis vor einigen Monaten perfekt beschrieb. 

Bis zu dem Tag, als Corona kam und all die Dinge stoppte, die sich nie ändern würden, wie jeder ziemlich genau wussten Doch dann 2020. Und das Frühjahr, das alles geändert hat.

Eine neue Welt, die ein Politiker später "neue Normalität" genannt hat. Der Mensch ist eingesperrt, das ganze Leben heruntergefahren. Das Land im Ausnahmezustand. Kneipen sind geschlossen, die Städte sind leer wie einsame Wege im australischen Outback. 

Weihnachten war wie nie zuvor - nicht nur ohne Schnee und Frost, sondern ohne Treffen mit Familien und Freunden, ohne Leichtigkeit und Freude und Klingeln. Was geschieht mit einer Gesellschaft, die vom allgegenwärtigen "schneller, schneller, schneller" in einen völligen Stillstand von allem gezwungen wird?

Niemand weiß es, aber alle fürchten dasselbe: Niemals wird die alte Welt mit den gleichen Freiheiten zurückkehren, die es  so selbstverständlich gab, bevor die moderne Pest kam. Jeder spürt es, jeder fühlt es, wenn er seine Ohren und Augen öffnet. Wie still die Künstler sind. Wie verlassen das Land wirkt.  

Eigentlich sind große Krisen immer eine gute Stunde für große Kunst. Diesmal aber fehlen den Dichtern die Worte, den Sängern die Melodien. Es gibt keine Songs über das Virus, keine Filme und keine Bilder. Die Songwriter haben mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen, weil viele von ihnen kein Einkommen haben, seit alle Konzertsäle geschlossen sind. 

Rock'n'Roll ist tot wie die Kinos, das letzte Stück Leben tobt an den Aktienmärkten, an denen die Kurse seit Monaten steigen. 

Aber in den Nebenstraßen der Wall Street hängen nur noch Schatten früherer Tage: Niemand ist unterwegs, niemand gibt Geld für Einkäufe, für Essen, ein Bier oder für einen Kaffee aus.

Die einzigen belebten Orte der Zivilisation sind heute Parks und Wälder. Dies sind die Plätze, an die Menschen gehen, wenn der Tag im Home Office vorrüber ist und die Wände und Bildschirme genug angestarrt worden sind. Und wenn das nächste Wochenende begonnen hat, das abends wieder nur die Wahl zwischen Büchern und Fernsehen bietet, zwischen Musik und Internet. 

Ausgerechnet auf Deutsch gibt es ein wunderbares Wort für diese neue Weltordnung, durch die Menschen ohne Ziel ziehen: "Spanzierengehen" bedeutet Gehen nur zum Zweck des Zeitvertreibs, bewegen, nicht um voranzukommen, sondern um die Zeit zu überlisten.

Die braucht für gewöhnlich keine Hilfe, um in der Vergangenheit zu verschwinden. Sie kommt und sie geht immerzu, eben noch da, ist sie gleich schon wieder fort. Aber im Lockdown entsteht wohl automatisch die Sehnsucht, das alles zu beschleunigen, der Zeit auf die Sprünge zu helfen und ihr Beine zu machen. 

Spaziergehen, diese alte, lange vergessene Kunst des Laufens ohne jede Notwendigkeit, aber auch ohne die Eile des vorüberjagenden Joggers, hilft. Und eines Tages wird der erste Tag der Zukunft sein, an dem alle auch so wieder rausdürfen. An diesem Tag kennen wir dann alle Orte um uns herum. Fürchterlicherweise je besser, desto länger es bis dahin dauert.

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