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Mittwoch, 25. November 2020

Trekking an der Grenze: Auf Keksen aus Beton


Wir lassen Kietz hinter uns, einen kleinen Flecken direkt am Elbufer, über dem Reiher und Falken kreisen. Von hier aus ist es nur ein kurzer Fußweg von zehn Kilometern bis Dömitz, der nächsten und einzigen größeren Stadt in dieser Gegend: Der gesamte Weg verläuft entlang des Elbdamms, immer obendrauf, immer belagert von Radfahrern. Rechts unten sind die Betonkekse zu sehen, die allerletzten Überreste der ehemaligen Grenzlinie zwischen Ost und West. Ausnahmsweise kann man hier auf dem Damm wandern, wo ein Betonweg ohne Löcher das Gehen erleichtert. Wir sind in Brandenburg, in Sachsen-Anhalt wäre das verboten. 


Die Betonkeske rechterhand erzählen eine ganz eigne Geschichte, wie uns ein alter Mann an einem Ort namens Unbesandten aufklärt. Wegen des Mangels an Beton machen sich die DDR-Ingenieure Gedanken darüber, wie man beim Pflastern der endlosen Grenzlinie Beton einsparen könnte.  1.400 Kilometer mussten für die Grenzsoldaten befahrbar gemacht werden - dazu wurden zehntausende Tonnen Beton benötigt, Beton, den die bettelarme DDR eigentlich gar nicht hatte. Eines Tages kam also ein Mann auf die Idee, Löcher in die Gehwegplatten zu pressen. Dadurch werden zehn bis fünfzehn Prozent des Zements eingespart. Bestimmt hat er dafür einen Aktivisten-Orden bekommen, in jedem Fall aber Spuren für die nächste Ewigkeit hinterlassen.


Dömitz, die Stadt direkt am Elbufer, wohin wir unser mörderisches Gewicht heute tragen, hat seine Brücke zum Westen am Ende des Zweiten Weltkrieges verloren, als alliierte Bomberpiloten den östlichen Teil der Brücke trafen. Die DDR-Behörden fanden das toll, denn damit war der Weg hinüber zum Klassenfeind effektiv geschlossen. Sie versuchten auch nie in ihren 40 Jahren, die Brücke wieder aufzubauen. Ganz im Gegenteil: Das Stück, das noch stand, sprengten sie. Übrig blieb nur ein Stück Gerippe am anderen Ufer, das bis heute mahnt.


Die komplette Stadt mit 3.000 Einwohnern lag danach in einem "Sperrgebiet". Niemand hatte das Recht, ein- oder auszugehen, ohne einen Passierschein, eine Anmeldung und eine Genehmigung. Unterwegs kommen wir durch Orte, in denen seit Jahren niemand mehr lebt, nur Tiere wie Falken, Bussarde, Füchse, Luchse und Spatzen. Die Vögel fliegen über uns hinweg, ein Reiher schaut neugierig aus dem Wasser zu den beiden Irren mit den riesigen Rucksäcken. Das kleine Dorf Rüterberg zum Beispiel ist in den Jahren der Absperrung vollkommen aus der Welt verschwunden: Die Grenztruppen errichteten einen Zaun nicht nur zwischen den Häusern und der Elbe, sondern auch zwischen der Landseite und dem Rest des Landes. In der Nacht konnte niemand kommen oder gehen, auch nicht, wer in einem der verbliebenen Häuser wohnte, denn es gab keine Zaunwache, die das Tor hätte öffnen können. 


Bizarr, aber normal wie der Name Dömitz in der Antike. "Festung Dömitz" nannten die Nazis die Stadt, die heute ein freundliches Gemeinwesen mit einem riesigen Museum in der alten Festung ist, die aus den gleichen roten Ziegelsteinen gebaut ist wie die berühmte Malbork in Polen. Eine Ausstellung im Inneren zeigt, wie oft die Herrscher der Stadt am Fluss wechselten und wie viele Schlachten sie schlugen, um Könige dieses kleinen Ortes zu werden, an dem der berühmte Lyriker Fritz Reuter im 18. Jahrhundert eine Gefängnisstrafe wegen nationalistischer Betätigung absitzen musste.


Der Weg zur Ostsee ist nur wenige Schritte von der Festung entfernt. Er verläuft nach Norden, aber wir gehen erstmal nach Westen und dazu müssen wir "auf die andere Seite durchbrechen", wie Jim Morrison von The Doors gesungen hat. Das geht einfach, denn seit 1992 gibt es eine neue Brücke für Autos und Fahrräder und Wanderer: Nach dem Fall der Mauer ist es den Menschen hier wirklich gelungen, in nur zwei Jahren eine riesige und völlig neue Brücke zu bauen, die seither Ost und West verbindet. Ein Wunder in einem Land, das normalerweise zehnmal so lange braucht, um nur die Bauunterlagen zu malen und die Hamster am Ufer zu zählen. 


Aber damals war die Sehnsucht groß und die Menschen stellen nicht viele Fragen. Drüben, auf der Westseite, ist alles völlig anders als im Osten. Es gibt keine Radfahrer, keine Kaffeehäuser und keine Touristen sind zwischen Hitzacker und Neu-Darchau. Die Straßen sind leer, die Wanderwege sind zugewachsen. Wer in dieser Gegend Urlaub macht, der tut es östlich von hier.

Wir sehen Stunde um Stunde niemanden, aber das ist ja genau das, was wir uns gewünscht haben.


Sonntag, 15. November 2020

Entlang der Elbe: Wo Deutschland einst zwei Enden hatte

Die nächste Grenze, die wir zu überqueren haben, ist die Elbe, die einzige große Wasserscheide zwischen dem Westen und dem Osten auf unserer Wanderung. In der Nähe gibt es keine Brücke, sondern seit Anfang des 17. Jahrhunderts nur noch eine Fährverbindung zwischen Schnackenburg und Lütkenwisch. 1945 stoppten die sowjetischen Truppen den Fährverkehr gewaltsam - danach gab es keinen Weg mehr auf die andere Seite, weil die innerdeutsche Grenze mitten im Fluss verlief, heute ein blauer Wasserstrom unter einer grellen Sonne zwischen grünen Ufern.
Angespornt durch die erfolgreiche Wiederzulassung benachbarter Fährverbindungen nach der Wende griff der Schnackenburger Klaus Reineke 1991 tief in die Tasche und kaufte in Holland eine alte Fähre auf. Die Elbe sollte wieder verbinden, nicht mehr trenne. Seit dem 7. September 1991 verbindet die Fähre "Ilka" also, was zusammen gehört. 

Der Elbe-Pionier


Das verrückte Idee kostete Reinecke in den ersten Monaten seine ganze Kraft. Er fuhr alle Touren selbst und erlebte dabei unzählige emotionale Momente: Menschen fielen sich gegenseitig um den Hals und wollten nicht mehr loslassen. An der Anlegestelle der Schnackenburger Fähre erinnert bis heute ein nicht zu übersehendes Zeichen an die Aufhebung der unmenschlichen Trennung eines Kontinents.
Die Ilka läuft bis heute normal, und mit etwas Glück findet man Klaus Reineke, seit 2004 im Ruhestand, in den Sommermonaten Aushilfe am Steuer. Aber nicht in diesem Sommer, denn die Ilka ist außer Betrieb. Also müssen wir zu Fuß nach Gartow laufen, einer kleinen Stadt ein paar Kilometer entfernt. Gartow hat auch eine Fähre, die unter dem Namen "Westprignitz" von Lenzen nach Pevestorf fährt. Sie ist sehr klein und braucht nur wenige Minuten zum Umsteigen. 

Kolonnenweg auf der Ostseite


Auf der anderen Seite sind wir wieder auf der Strecke: Der Kolonnenweg verläuft jetzt entlang des Elbedamms. Das erste Zeichen der Geschichte ist ein Wachturm direkt an der Grenze, der die Landschaft, den breiten Fluss und die flache Erde ringsum überblickt. Zum ersten Mal begegneten wir den Radfahrern, die zu Hunderten den Elberadweg entlang fahren. Für sie ist er eine Art Autobahn mit schönen Aussichtspunkten, einigen Kaffeehäusern und schön renovierten Häusern, die nicht mehr an die schlechten Zeiten erinnern, als hier der Eiserne Vorhang verlief und niemand zu nahe an den Fluss herankommen durfte.
Zweimal im Laufe der Jahre wurden alle Menschen, die hier lebten, brutal evakuiert und weggebracht, um die Grenze sicher zu machen. Nur sehr zuverlässige Bürger durften bleiben. Peter, ein älterer Mann, erzählt uns, dass er hier als Landwirt gearbeitet hat. "Jedes Mal, wenn ich in das Sperrgebiet gehen musste, um auf die Kühe aufzupassen, saß ein Soldat mit seiner Waffe im Auto hinter mir, um sicherzustellen, dass ich nicht abhaue." 

40 Jahre unerreichbar


Das historische Stadtzentrum von Lenzen liegt nur 1,5 km nordöstlich entfernt. Es war fast 40 Jahre lang unerreichbar. Mit seiner ersten Erwähnung im Jahre 929 ist Lenzen der Ort mit der ältesten dokumentierten Geschichte in der gesamten Prignitz. Hinter Bäumen versteckt, lässt sich die Silhouette der Burg Lenzen erahnen. Vor tausend Jahren bauten die Slawen hier eine hölzerne Wehrburg. Auf der gegenüberliegenden Elbseite erhob sich damals wie heute der Höhenrücken des Höhbecks, auf dem König Karl der Große im späten 8. Jahrhundert ein Kastell errichten ließ, um die Grenze gegen die Slawen zu sichern.
Es ist unglaublich, sich vorzustellen, dass dieser Landstrich, der so eine lange gemeinsame Geschichte hat, für Jahrzehnte in zwei Hälften geteilt wurde. Man sieht heute nur noch die friedliche Landschaft, die Radfahrer und den breit dahinrollenden Fluss zwischen dem tiefen Grün der Ufer und den seichten Sandstränden. Die berühmte Eiseiche bei Mödlitz ist die nächste Landmarke, an der wir vorbeikommen. Sie hat all dies gesehen. Und sie hat überlebt wie die Menschen, die jetzt wieder hier leben, wo Deutschland einst zwei Enden hatte. Englische Version

Samstag, 31. Oktober 2020

Wandern auf dem Kolonnenweg: Im Apfelhain der Grenzsoldaten


Es ist ein feuchtes Erwachen mitten im Nirgendwo. Seit drei Uhr morgens regnet es heftig über dem ehemaligen Todesstreifen am Rande der "Planken und Schlettauer Post", wo unser Zelt mitten im Niemandsland des Kalten Krieges steht. Heute ist das hier ein sehr friedlicher Ort. Zwischen den beiden Gräben, die von den Grenzbefestigungen übrig geblieben sind, mit denen das kommunistische DDR-Regime seine Bürger an der Flucht in den Westen hindern wollte, lebt nur noch Mutter Natur. Selbst die Wassergräben sind normalerweise am Ende des Sommers trocken. Doch heute bringt der Regen das Wasser zurück. Der Todesstreifen wird wieder zum Gefängnis, das Zelt wird nass und wir können uns erst mittags hinauswagen. 



Der Weg, den wir gehen müssen, ist auch ein rutschiges und schlammiges Abenteuer. Der Kolonnenweg führt heute durch tiefe und dunkle Wälder, die "Betonkekse", wie die Wegplatten genannt werden, gehen manchmal verloren, und wir müssen den historischen Postenweg mühsam wiederfinden. Einige der Wegweiser sind hier sehr speziell: Auf einmal tauchen tief im Mischwald einige echte Apfelbäume auf, die hier garantiert nicht hergehören. 



Ein Rätsel - aber mit einer sehr einfachen Erklärung. Vor Jahren im Kalten Krieg nahmen die Soldaten und Grenzsoldaten während ihrer Wachschicht immer Äpfel als Proviant mit. Sie aßen sie und warfen die Reste in den Wald. Ein guter Ort zum Wachsen. Heute ist aus den Griebschen ein Apfelhain gewachsen, an einer Stelle, an der seit der letzten Eiszeit nie ein Apfelbaum stand. Die Bäume haben nicht nur die Zeiten des Todes überlebt, sie verdanken ihnen auch ihr Leben.
   


Das sind die Geschichten, die man an keinem anderen Ort findet. Auch wenn die Spuren der ehemaligen Grenze oft nur noch zu erahnen sind, so finden sich in der Landschaft doch noch zahlreiche Hinterlassenschaften der Ereignisse, die sich hier bis vor 30 Jahren abgespielt haben. So haben sich viele Grenzsoldaten während der langen und offenbar unendlich langweiligen Stunden ihres Wachdienstes in der Rinde der Bäumen verewigt. Oft gibt es Listen der verbleibenden Diensttage, die in die Baumrinde geritzt wurden. Die Buchstaben "EK", die bis heute nicht nur Bäume, sondern auch Betonteile schmücken, zeigen, dass die Entlassungskandidaten die Hoffnung nie aufgegeben haben, denverhassten Grenzdienst zu verlassen, obwohl ihre Offiziere den Brauch hart bekämpften. 



Eine Tragödie aus dieser Zeit zeigt eine Landmarke mit einem Rest des ehemaligen Grenzzauns: Rainer Burgis, ein Bürger aus dem Örtchen Ritzleben in der Altmark, wurde hier 1978 bei einem Fluchtversuch getötet. Der junge Mann war erst 20 Jahre alt, sein Grab auf dem Friedhof von Stappenbeck existiert heute nicht mehr. Übrig geblieben von seinem Leben ist nur eine kleine Tafel an einem Stück Grenzzaun, der als Denkmal für die wenigen Wanderer dient, die hier vorüberkommen. Was in Burgis' Todesnacht geschah, ist unbekannt, sein Kamerad Wilfried Senkel überlebte das Drama, aber seine Spuren verlieren sich mit der Zeit.



Hat er es nach drüben geschafft? Wurde er erwischt und musste ins Gefängnis? Wie hunderte andere Flüchtlinge, die von den ostdeutschen Grenztruppen festgenommen und den Gerichten übergeben wurden. Hat ihn der Westen  freigekauft? Dann hätte er mehr Glück gehabt als Harry Weltzin, ein anderer junger Mann, an den ein Stück weiter des Weges ein Schild erinnert. Weltzin wurde am 4. September 1983 beim Versuch,  die Grenze zu überqueren, durch eine automatische Schusseinrichtung am Zaun getötet. Dort, wo er starb, scheint nun die Sonne auf einen Ort der Trauer. Niemand wandert hier außer uns. Der Kolonnenweg, der als "Grünes Band" vermarktet wird wie ein weltlicher Jacobsweg, ist leer wie die Wälder, die Wiesen und das gesamte Grenzland. Der ehemalige Todesstreifen schweigt.

Der Text auf Englisch.



Samstag, 24. Oktober 2020

Wandern am Eisernen Vorhang: Eine Nacht in der Todeszone


Es ist das 30. Jahr nach der Wiedervereinigung, als uns ein bizarrer Plan einfällt: Seit Jahren hatten wir vor, auf dem Kolonnenweg an der ehemaligen Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten entlangzuwandern. Der Grenzwanderweg  ist 1.400 Kilometer lang, eine zweispurige Linie längs durchs Land. 
Dort suchen wir nach dem, was übriggeblieben ist nach drei Jahrzehnten und was passiert, wenn man auf dem Plattenweg wandert, was die Natur uns aus der Vergangenheit erzählt und was die Menschen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft reden. Hier Teil der Reisebeschreibung, wird fortgesetzt.


Das kleine Dorf Klein Chüden liegt ein paar Kilometer nördlich der Kleinstadt Salzwedel und wir haben von Anfang an ein Problem: Wo ist dieses Grüne Band? Wo sollen wir den Einstieg finden, um die Wanderung über den legendären Grenzwanderweg bis zu unserem Ziel an der Ostsee überhaupt erstmal zu beginnen?

Da ist ein Graben, da ist eine Straße, da ist die Landesgrenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Und hinter einem kleinen Parkplatz mit weißem Kiesboden tauchen endlich die beiden Plattenspuren des Kolonnenweges auf. Breit genug für die Spurbreite eines Lastwagens, mit Löchern im Beton und einem grünen Grasstreifen in der Mitte. 




Es ist einer der letzten warmen Sommertage in Deutschland, als wir auf dem Weg in den Jarsauer Sack gehen, eine Schleife in der Grenze, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus seltsamen Gründen entstand. Die reguläre Grenzlinie zwischen der britischen und der russischen Zone hatte hier einem Bauern die Felder abgeschnitten. Also investierte er ein paar Flaschen Wodka, um die russischen Landvermesser davon zu überzeugen, die Linie entlang seines Ackerlandes neu zu ziehen.


Nicht so toll für Wanderer, denn der Weg hat sich aus diesem Grund verdoppelt. Aber die Natur hier ist beeindruckend. Gras und Kühe, Schafe und Bienen, Bäume und Zäune bis zum Horizont, ein klarer blauer Himmel und ein warmer Westwind. Der Weg ist leicht zu gehen, wir marschieren mit unseren Rucksäcken weiter - jeder wiegt 20 Kilogramm, und wir summen "The Weight" von The Band: "Take a load off, Fanny, take a load for free, take a load off, Fanny, and you put the load right on me".

Es ist wirklich hart, einen riesigen Rucksack mit diesem Gewicht über Stunden zu tragen. Man muss viel trinken - und wir müssen feststellen, dass wir mehr Wasser brauchen, um den Rest des Tages, die Nacht und den nächsten Morgen zu überstehen. Das verlängert den Weg noch einmal: Die Landschaft um den Jarsauer Wodkasack ist leer wie das Outback Australiens. Keine Dörfer, keine Häuser, kein Nichts. So müssen wir den Kolonnenweg kilometerweit verlassen, um in das kleine Dorf Schmarsau zu gelangen, dem einzigen Ort auf der Route, wo es im Biohofladen Düchting frisches Wasser gibt.


Wir sind der rosa Elefant im Garten des Biohofladens. Was machen Sie denn da? Wo gehen Sie denn hin? Und warum? Die Leute fragten das wegen unserer Riesenrucksäcke. Und sie warnen uns: Bei der Planken- und Schlettauer Post, wo wir abends ohne Erlaubnis unser Zelt aufschlagen wollen, leben vier Wolfsrudel. Danach beruhigen sie uns. Die Wölfe tun niemandem etwas zuleide. Sie haben selbst Angst vor uns.


Schön zu hören. Wir laufen weitere fünf Kilometer zurück zur ehemaligen Grenzlinie. Und dann gehen wir direkt in die ehemalige Todeszone, den 150 Meter breiten gerodeten Grasstreifen zwischen den beiden Stahlzäunen, der bis 1990 Fluchtversuche aus der DDR verhindern sollte. Jetzt ist es ein friedlicher Ort, ohne jede Spur der brutalen Geschichte. 


Die Sonne versinkt im Westen, die Wiese, auf der fast 30 Jahre lang Menschen gestorben sind, sieht aus wie jede normale Wiese in jedem normalen Wald. Wir bauen unser Zelt auf und blicken auf die lange kahle Schneise der vergessenen Brutalität.

Keine Wölfe um uns herum, nur die Wölfe der Erinnerung.


Englische Version: hier


Sonntag, 9. August 2020

Ufo-Hauptstadt Roswell: Die Wahrheit ist irgendwo hier drin

Sie tarnen sich als bunte Lichter in der Nacht, huschen als Geschosse über den Himmel, verstecken sich in undurchdringlichen Nebelschwaden oder erscheinen nur kurz als blinkende Punkte auf Radarschirmen. In Wirklichkeit sind sie aber, wie Millionen von UFO-Gläubigen weltweit überzeugt sind, Abgesandte außerirdischer Zivilisationen, die die Erde erforschen. Unsichtbar, hinterlistig, überlegen. Bisher sind sie sind immer unentdeckt davongekommen. Fast immer. 

Außer einmal, in Roswell, einer Stadt in New Mexico, in deren Nähe vor 73 Jahren ein UFO abgestürzt ist. Ein tragischer Unfall, bis heute unvergessen. Stellen Sie sich das vor: Die außerirdischen Wesen waren Lichtjahre durch den Weltraum gereist, eine Zeit voller Entbehrungen. Und danach, kurz nach der Ankunft am Ziel, stürzten sie unglücklicherweise in einem Feld ab, wo Anwohner Mack Brazel und der Nachbarsjunge Dee Proctor zufällig mehrere Leichen fanden.

Seitdem ist Roswell ein Pilgerort für Sensationsgierige und UFO-Gläubige aus der ganzen Welt. Die Hauptattraktion des kleinen Städtchens, das in Deutschland ein Kaff genannt werden würde, ist das UFO-Museum auf der Main Street, ein flaches Funktionsgebäude, das dem Phänomen mit drei Buchstaben gewidmet ist: U.F.O. - unbekanntes Flugobjekt. 

Eine echte Touristensensation, ausgestattet mit außerirdischen Gummipuppen, nachgebildeten außerirdischen Flugobjekten und zahlreichen echten Dokumenten, in denen Augenzeugen von UFO-Sichtungen schwören, sie hätten UFOs gesehen oder seien sogar von ihnen entführt worden. Roswell, eine kleine, staubige Stadt, ist der Heilige Gral aller UFO-Forscher und das Zentrum der modernen Religion namens UFO-logie. Viele Jahre lang hatte sich die Stadtverwaltung erst geweigert, den inoffiziellen Titel "UFO-Welthauptstadt" offiziell zu verwenden. 

Bis schließlich ein Bürgermeister ins Amt kam, der sich der Chance bewusst war, die die unspektakuläre 49.000-Einwohner-Stadt, deren berühmteste Tochter die Schauspielerin Demi Moore ist, da aus lauter Trotz und Wahrheitsliebe verschenkte. Seit einem Vierteljahrhundert ist die Wüstenstadt nun schon vollständig auf Außerirdische ausgerichtet. Neben dem großen UFO-Museum gibt es mindestens vier kleine, alle Restaurants in der Stadt sind thematisch auf Außerirdische ausgerichtet, und alle Geschäfte bieten T-Shirts, Baseballmützen, Postkarten, Bücher, Gürtel, Kekse, Lutscher, Mousepads, Küchenschürzen und Fußmatten mit bizarren Bildern von Fantasie-Außerirdischen an. Ein Millionen-Dollar-Geschäft für alle. Roswell ist 200 Meilen von El Paso, 200 Meilen von Albuquerque und ebenfalls 200 Meilen von Amarillo entfernt. Wer immer von da nach dort oder von dort nach da unterwegs ist, findet ghier im Nirgendwo einen guten Grund, anzuhalten. 

Zwar war das Interesse dann doch nicht groß genug, um den gigantischen UFO-Vergnügungspark zu bauen, der vor Jahren geplant war. Aber in Zeiten, in denen immer mehr Menschen glauben, dass Außerirdische die Erde besucht haben, und die Regierungen weltweit mehr über Außerirdische wissen, als sie zugeben, boomt das Geschäft. Es könnte ja alles wahr sein, oder? Wahrscheinlich sind sie irgendwo da draußen. Was, wenn es wirklich passiert wäre? Deshalb bietet das UFO-Museum auf der Main Street eine Menge Spektakel, um die Kunden zu begeistern, die nur zur Unterhaltung angehalten werden. Sie bekommen, was sie suchen. 

Von Nazi-Flugscheiben bis zur simulierten Alien-Autopsie ist alles zu sehen, was nie bewiesen werden konnte. Denn es ist sicher, dass im Juli 1947 im Gebiet von Roswell etwas vom Himmel fiel, weil das Militär ein erstaunliches Interesse an der Entdeckung von Mark Brazel zeigte. Aber nach der ersten offiziellen Ankündigung, in der sie von einer "fliegenden Untertasse" sprachen, wurde entschieden, dass es sich nur um einen "Wetterballon" handelte. Niemand hat das jemals geglaubt. Zumindest hier in Roswell nicht, wo die Wahrheit gleich da draußen ist.


Sonntag, 17. Mai 2020

Mount St. Helens: Besuch einer Zeitbombe


Morgen jährt sich der 40. Jahrestag des Ausbruchs des Vulkans St. Helena, doch auf dem Berg ist heute nichts mehr von der Katastrophe von 1980 übrig. Nur das Grün um ihn herum verdankt die Landschaft dem Monster, das immer noch rumpelt. Man muss dort nicht hinaufgehen, so sind sie niocht, in den USA. Es gibt eine wunderschöne Straße, die durch eine der schönsten Landschaften der Erde führt. Schwarzer Asphalt glänzt in der morgendlichen Feuchtigkeit zwischen grünen Böschungen - der Mount St. Helens fasziniert seine Besucher, auch wenn sie ihn noch nicht erreicht haben.


Der Highway 504 führt als kurvenreiche und gut ausgebaute Bergstraße zum Johnson Ridge Observatory, dem Ort, zu dem alle Besucher kommen. Von hier aus haben Besucher einen perfekten Blick auf den Vulkan, der immer noch aktiv und deshalb eine tickende Zeitbombe ist. Unterwegs sollte man unbedingt einen Stopp im Lewis & Clark State Park einlegen, wo sich noch Reste der sehr alten Bäume befinden, die große Flächen bedeckten, bevor die Lava kam und alles wegbrannte. Wenn ein bisschen mehr Zeit ist, ist auch noch ein Ausflug in das Naturschutzgebiet Nisqually National Wildlife Refuge drin. Hier warten Feuchtgebiete, in denen Vögel fast symphonisch singen.


Aber das Hauptziel für Millionen von Menschen von nah und fern ist natürlich der Vulkan, ein 2.539 Meter hoher Gipfel, der die umliegenden Bergrücken um ganze 1.100 Meter überragt. Der Vulkankegel hat einen Durchmesser von 10 Kilometern, er ist mehr als 40.000 Jahre alt. Damals suchte erstmals Magma aus dem Erdinneren unter großem Druck nach einem Ausgang. Seitdem hat der Mt. St. Helens insgesamt neun große Eruptionsphasen erlebt, die zwischen 5.000 und weniger als 100 Jahren dauern, mit Schlafperioden zwischen 15.000 und etwa 200 Jahren.


Der Aufstieg ist also relativ sicher, da der Vulkan für die nächsten 150 Jahre still bleiben dürfte. Wenn man am Johnston Ridge Observatory angekommen ist, führt der beste Weg weiter zu einer Wanderung auf dem berühmten Eruption Trail. Dieser Pfad bietet eine fantastische Aussicht auf die Eruptionszone und den Krater und wimmelt im Sommer von rosa Lupinen und anderen Blumen. Zu anderen Jahreszeiten wird die Umgebung von der kargen Schönheit einer vulkanischen Landschaft beherrscht, die ausgebrannt und mit Bimsstein bedeckt ist.

Seit 1980 ruht der Vulkan - aber er schläft nur. Seit St. Helens am 18. Mai vor 40 Jahren um genau 8.32 Uhr explodierte, scheint der Berg nur noch wenig Dampf zu haben. Genau wie die mehr als 100 Jahre vor dem Mai 1980 - doch genau dann kam der schlimmste Vulkanausbruch in der jüngeren Geschichte der USA: Die oberen 400 Meter des damals noch 2.949 Meter hohen St. Helens flogen in die Luft und die größte Lawine aller Zeiten raste ins Tal, so dass selbst in elf Kilometer Entfernung Hügel von 400 Metern Höhe kein Hindernis für die wuchtig heranrollenden Gesteinsmassen darstellten.

600 Quadratkilometer Wald wurden damals zerstört, Schlammlawinen rissen 23 Brücken weg, 300 Kilometer Straße verschwanden. Eine Aschewolke stieg auf, wie sie der Kontinent noch nie zuvor gesehen hatte: Nur 30 Minuten nach dem Ausbruch maß sie 64 mal 48 Kilometer und bewegte sich mit 100 Stundenkilometern nach Osten, um den Tag in eine Nacht zu verwandeln.


57 Menschen starben an diesem Tag auf St. Helens - trotz der isolierten Lage im dünn besiedelten Südosten des Bundesstaates Washington, trotz aller Warnungen von Experten, die den Berg nach dem ersten Grollen drei Monate zuvor rund um die Uhr beobachtet hatten. Seitdem sieht der Berg nicht mehr so aus wie damals, als sie ihn "Amerikas Fujijama" nannten. Der verheerende Ausbruch hat auch viele Spuren menschlicher Besiedlung weggerissen, die im 5. Jahrtausend v. Chr. begonnen hatte. Völker wie die Klickitat und die Binnen-Salish ließen sich damals hier nieder, obwohl sie wussten, wie gefährlich das war. In ihren Sprachen nannten sie den Berg Loo-Wit Lat-kla oder Louwala-Clough (Feuerberg oder rauchender Berg) und sie erwarteten immer, dass er wütend sein würde. Aber sie wussten auch: Das Leben würde danach stets weitergehen.

Freitag, 24. Januar 2020

Richfield Gas Station: Der letzte Rest von "Easy Rider"

Inside Movie legend urbex
Die legendäre Tankstelle aus dem Easy-Rider-Film: Innen ist die Zeit stehengegeblieben.


Es ist länger als ein halbes Jahrhundert her, dass Peter Fonda und Dennis Hopper als "Easy Rider" in die Kinogeschichte fuhren. Sie beiden freiheitssuchenden Motorradfahrer schmuggelten im gleichnamigen Kinofilm Kokain von Mexiko nach Los Angeles und der Streifen wurde zum Kultfilm. Wyatt und Billy versteckten den heißen Stoff in den Batterien ihrer Bikes, das Geld landet nach dem Verkauf im Tank einer Chopper und die Reise geht dann einmal quer durch die USA, ein Land am Ende der Nachkriegszeit, zwischen Hippiefeeling und trotzigem Konservatismus. Der Film, ein echtes Road Movie, der von Fonda produziert und inszeniert wurde Hopper, schrieb Hollywood-Geschichte.

Ein ganz klein wenig davon kann man heute noch entdecken, wenn man auf der Spur von Fonda und Hopper auf der legendären Route 66 fährt, einer Autobahn, auf der heute eigentlich nirgendwo mehr eine Spur dieser legendären Zeit findet, zu der Steppenwolf, die Byrds und Jimi Hendrix den Soundtrack lieferten.

Ein paar Kilometer weiter, auf der alten Autobahn 66, wo keine Touristen zu sehen sind, befindet sich in der Nähe des Pine Breeze Inn "Richfield", eine winzige Geisterstadt mit einer verlassenen Tankstelle, an der "Easy Rider" gedreht wurde.

Dieser Ort ist nicht leicht zu finden, er liegt abgelegen zwischen einer Depot der Nationalgarde und dem camp der Navajo Feuerwehr. Nehmen Sie einfach die Ausfahrt 285 (Bellemont) der I-40, biegen Sie ab und fahren Sie eine einsame Straße ins Nichts - am Ende finden Sie links ein paar Holzkisten, ein rostiges Auto und eine abgeschabte Baracke, in der irgendjemand die Zeit eingefroren zu haben scheint.

Hier kommt kein Benzin mehr aus dem Hahn, kein Tankwart wartet und die Gegend ist so leer wie die Brieftasche der Easy Rider. Wer genau hinschaut, sieht im Fenster einige verstaubte Plakate hängen, auf denen "Easy Rider" immer noch lebt. Hopper und Fonda, die in der schockierenden Schlussszene des Films sterben müssen, leben hier für immer und ewig weiter: Junge Männer, die niemals mehr alt werden oder sterben.

Easy Rider Filmkulisse
Die aus dem Film bekannte Tankstelle.


Ricjfield Gas Station
Irgendwer hat ein gepflegt heruntergewirtschaftetes Auto neben der Tankstelle abgestellt.



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Samstag, 31. August 2019

Verbotene Liebe: Eine illegale Wanderung rund um Usedom


Eine  Million Gäste  im Jahr, alptraumhaft volle Strände, Bauboom und lange Staus bei An- und Abfahrt. Die Insel Usedom ist der Deutschen liebstes Sonneneiland. 66 Kilometer lang und 24 breit liegt die Insel in der Pommerschen Bucht, eine Geldmaschine für Hoteliers und Kneiper, oft ein Alptraum für die 76.000 Einwohner, die seit jeher vom Massentourismus leben, seit der Wiederentdeckung der heimatlichen Strände durch Türkei-, Ägypten- und Tunesienurlauber aber über Verkehrsinfarkt und hohen Mieten stöhnen.

Die andere Seite von Usedom ist trotzdem noch da: Einsame Strände, endlose Sommerwiesen voller Tiere und der Sternenhimmel über dem taufeuchten Sand. Doch wer dieses Geheimnis entdecken will, muss abtauchen in die Illegalität einer Reise, die vom ersten Schritt an verboten wäre, bekäme ein Strandvogt, ein Polizist oder ein Ordnungsamtsmitarbeiter Wind davon.


Strandwandern auf Usedom funktioniert dennoch erstaunlich gut. Wenn bestimmte Regeln beachtet werden. Die Herausforderung dieser Reise ist klar - kein Hotel, kein Zeltplatz, keine Pension und kein Airbnb-Zimmer. Nur Natur, eine Woche lang, mit Zelt am Strand oder im Wald. Ein verrückter Plan. Mal sehen, was draus wird.

Mit so viel Gepäck, wie dazu nötig ist, kann sich natürlich niemand unsichtbar machen. 17 Kilogramm wiegt der Rucksack, ohne die Wanderschuhe, die anlässlich der ersten Strandetappe außen herumbaumeln. Deutschland liegt im Sand, schon in Ahlbeck, dem östlichsten Ort Usedoms, dicht an dicht eng gedrängt im Ostseesand. Wie Außerirdische wirken da Wanderer, die es offenbar direkt aus den Alpen hierher verschlagen hat. Immer am Meer entlang bis Peenemünde, das ist die geplante Route. Von dort ein Schwenk ins Inselinnere. Und weiter am Ufer der Peene entlang nach Süden zum Achterwasser, ehe es zurück an die Ostseeküste geht.


Für geübte Bergwanderer ein Spaziergang, denn so etwas wie Höhenmeter gibt es nicht, abgesehen von einem Abstecher zu einem ehemaligen DDR-Ferienlager, das zwei Kilometer hinter Bansin versteckt im Wald liegt. Malerische Ruinen künden von längst vergangenem Ferienspaß, grün überwuchert der Wald die Reste dessen, was einmal das vielbegehrte Urlaubsidyll irgendeines inzwischen sicher längst abgewickelten DDR-VEB war. Nicht einmal der Abriss lohnt sich hier, die Natur holt sich die Pappbuden ganz von selbst zurück. Und bis dahin amüsieren sich die örtlichen Graffiti-Sprayer im früheren Speisesaal.


Zurück am Strand heißt es nun, nur nicht zu weit laufen. Wer auf Usedom wandert und vor hat, sich den Aufenthalt auf den gigantischen Campingplätzen zu ersparen, deren schiere Ausmaße an sozialistische Neubaustädte erinnern, ist gut beraten, wenn er sich an den Gemarkungsgrenzen zwischen den einzelnen Gemeinden orientiert. Dort, wo die Strände leer sind, weil den meisten Hotelgästen die 500 Meter in die freie Natur viel zu weit sind, heißt es, die anbrechende Nacht abzuwarten. Mit der Dämmerung kommen die Jogger, dann die Hundehalter auf ihrer letzten Runde. Und danach packen die Wanderer ihre Zelte und Planen aus, um sich im Schatten der Steilküste einzurichten.

Klar ist - spätestens am zweiten Tag ist der Sand überall. In jeder Ritze, jedem Eckchen, selbst zwischen den Zähnen knirscht er immer wieder unvermittelt. Dafür steigt eine strahlende Sonne über dem menschenleeren Strand auf und die Ostsee gehört den Wildcampern ganz allein. Zelt zusammenpacken, Schlafsack einknüllen, Rucksack auf, weiter geht es Richtung Nordwesten. Kaffee zum Runterspülen der Sandkörner gibt es zum Glück gleich nebenan am Ortsrand von Ueckeritz.

Dahinter verändert sich der Sand, der Strand wird schräger, der Weg tiefer. Dafür aber ist es hier nicht mehr ganz so voll wie in den selbsternannten "Kaiserbädern" Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin. Mit gemütlich vier Kilometern in der Stunde geht es Richtung Nordwesten, am Horizont ist der Peenemünder Haken schon zu sehen, mit dem der bewanderbare Strand enden wird.


Einmal noch übernachten bis dahin, gleich neben einem Kioskgrill zwischen dem kleinen Zempin und der Urlaubsmaschine Zinnowitz. Um sechs morgens kommt der Müllmann und leert die Mülleimer, die mit dafür sorgen, dass die Strände auf Usedom sauber sind wie eine Fünf-Sterne-Hotelküche: Auf 40 Kilometer Strecke wird keine einzige Plastiktüte, kein verlorener Badelatsch und kein geplatzter Ball am Boden liegen. Abends kommen erst die Jogger, dann die Hundehalter, am Ende ein paar leicht angeschickerte Gruppen, die die Cocktails im jeweiligen Nachbarort verkostet haben.

Der Himmel ist noch durchsichtig blau, vor dem Hafen von Swinemünde, der ganz im Osten liegt, hat sich eine Warteschlange von Schiffen gebildet. Auf der anderen Seite blinkt der Leuchtturm von der Greifswalder Oie herüber, der Booten den Weg weißt, die es nicht gibt.

Hier hinten kurz vor dem Sperrgebiet sowieso nicht. Hinter Trassenheide kehrt Usedom langsam zu seinem natürlichen Zustand zurück. Karlshagen liegt noch am Strandrand, ein letztes Aufbäumen der Käfighaltung für Jahresurlauber und ein Strandvogt, der im Gebüsch am zentralen Platz mit der üblichen Konzertmuschel lauert, um Verdächtigen die Kurtaxe abzuverlangen. Das Ende der Usedomer Welt folgt auf dem Fuße: Vier Kilometer weiter wird der Strand breiter, das Wasser flacher und der Dünenwald dichter.


"Hier hat man noch seine Ruhe", sagt ein Einheimischer, der vor Sonnenuntergang kurz vor Haken, Struck und Rudenmm noch einmal ins Wasser steigen will. Hinter dem letzten Schilfgürtel fängt das Vogelschutzgebiet an, von dem die Peenemünder sagen, dass es zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt: "Überall im Wald liegen noch Bomben, die nicht explodiert sind", beschreibt der späte Badegast, "hätten sie alles teuer beräumen müssen, wenn sie nicht das Schutzgebiet draufgepackt hätten." In dessen Schatten liegt nun so viel Einsamkeit, wie sie eine Insel wie diese hier eigentlich gar nicht haben kann. Aber Warnschilder mit "Vorsicht, Munition, Betreten verboten", entfalten ihre eigenen Wirkung.

Dadurch aber führt kein Weg um den Haken, sondern nur bis zu einem Zaun, an dem weitere verwitterte Schild vor dem Betreten der auch fast acht Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges noch munitionsverseuchten Bereiche um das frühere Raketentestgelände des Wernher von Braun warnt. Es seien da überall wirklich von alliierte Bomben im Boden, die bei Angriffen auf die V2-Fabrik fehlgingen. "Dort vorn", sagt der schwimmfreudige Rentner, "liegen sogar noch Flugzeugteile".

Eine Begegnung mit der Geschichte, von der Gegenwart überstrahlt. Am einsamsten Strand von ganz Usedom wohnt in diesem Jahr ein echte Einsiedler, der sich aus Kieferästen und einer Plane eine Art Zelt gebaut hat. Er schlafe abends am Feuer, stehe mit den Vögeln auf und wundere sich mittlerweile auch schon, dass ihn alle in Ruhe ließen, sagt er. "Aber ich tue ja auch keinem was." In Rostock geboren, sei er vor Jahren nach Berlin gezogen, habe nun aber festgestellt, so der Mittdreißiger, dass die Hektik und das Großstadtleben ihn für den Moment überforderten. "Da ist mir diese Stelle hier eingefallen, wo man nur mit sich selbst und der Natur ist." Als sich der Abend senkt, zündet der Einsiedler sein Feuer an, die Mücken kommen und gehen wieder und mit der Dunkelheit steigt eine Ruhe auf, wie sie nicht tiefer sein könnte.

Auch morgens sind keine Menschen zu sehen. Der Weg führt jetzt kurz zurück und dann an einer Straße entlang, die den einzigen sicheren Weg durch die Sperrzone markiert. Wie fast überall im Nordosten der Insel, die im Jahr auf fast 2000 Sonnenstunden kommt, gibt es nach einer kurzen Strecke Nur-Straße Rad- aber keinen speziellen Wanderwege, obwohl das hier der Europawanderweg E9 sein soll. Was hat zuerst gefehlt? Die Wanderer? Oder die Wanderwege?


Peenemünde, der einzige größere Ort auf dieser Schmalseite des Eilands, kommt auf gerademal 300 Einwohner, einen Konsum, eine Gaststätte, ein U-Bootmuseum, eine Physikausstellung und die Reste der imperialen Zweckbauten der Waffenindustrie des Dritten Reiches, die längst als Hauptattraktion der Region gelten. "Früher kamen Auswärtige nicht mal in die Nähe von Peenemünde", beschreibt die Kellnerin der "Alten Wache", "da saß hier überall die NVA und man brauchte einen Passierschein, um in den Ort zu kommen." Heute lebt der vom betonierten Erbe der Raketenpioniere, denn "mit Strand ist hier nicht viel". Und vom Bedürfnis zahlloser Usedom-Urlauber, ihre mitgebrachten oder gemieteten Fahrräder zu nutzen, um zu allen möglichen interessanten oder auch weniger interessanten Zielen vorzudringen.


Die Peene-Seite der Insel bleibt dabei aber für die meisten tabu. Hier, wo die einzige Attraktion aus dem Hochwasserdamm besteht, an dem entlang sich ein alter LPG-Weg schlängelt, dünnt die endlose Kette der Fahrradfahrer aus. Schon an den nach dem Zweiten Weltkrieg gesprengten Materialbunkern der Brauchitsch-Truppe klingelt es nur noch gelegentlich. Es wird wieder still und das Land weit, Felder und urwaldartige Baumgruppen prägen die Landschaft. Das Meer ist nicht mehr zu sehen und bei Mölschow ist auch kein Hauch von Ostseeduft mehr in der Luft.

Usedom sieht hier aus wie das Mansfeld, eine in der Sonne glühende Veranstaltung, aus der es keine Flucht gibt. Die auf den Wanderkarten eingezeichneten Schutzhütten existieren nicht, auch findet sich kein Stückchen ebene Wiese, auf dem sich das Zelt noch vor den nahenden Gewitter aufstellen lassen könnte. Die Wanderung wird zur Suchaktion, quer über abgeerntete Staubfelder und durch trockengefallene Bewässerungsgräben. Rehe und Hasen sagen sich hier gute Nacht. Touristen gibt es nicht mehr, und überhaupt keine Menschen. Dann endlich ein Stück Wäldchen mit Rasen dahinter, Schutz vor dem böigen Westwind und uneinsehbar für neugierige Bauersleute im Ort. Im Pladderregen eines Sommergewitters geht der Abend zu Ende. 60 Kilometer geschafft. 25 zu gehen.



Kein Durchkommen hierhin gab es noch vor 30 Jahren. Der Nordwestteil Usedoms war jahrzehntelang Sperrgebiet. Erst bauten die Nazis rund um das Fleckchen Peenemünde im abgelegenen Gebiet um den Haken ihr Testgelände für Wernher von Brauns V1 und V2 genannten Raketen. Dann kam die Nationale Volksarmee der DDR und errichte einen Sperrgürtel, hinter den niemand schauen durfte.

Erst seit dem Ende der DDR kann das Areal besichtigt werden, auf dem die Nazis im Krieg ihre "Vergeltungswaffen" entwickelten. Ein Museum empfängt jedes Jahr mehr als 300.000 Besucher, in den Außenanlagen sind Modelle und Reste von echten V2-Raketen verteilt. Daneben gibt es eine Ausstellung mit Wundern der Physik und ein ehemals sowjetisches U-Boot, das begangen werden kann.


Abseits dieses Überbleibsels aus der unseligsten Zeit der deutschen Geschichte erstreckt sich weites Wald- und Wiesenland, 25 Quadratkilometer groß, menschenleer. Nirgendwo ist hier eine Möglichkeit, einzukaufen, etwas zu trinken oder eine Wurst zu kaufen. Der Europawanderweg E9 ist ein alter LPG-Pfad aus Betonteilen, die bessere Wahl ist allemal der Deich, der nicht betreten werden darf. Seit den 30er Jahren sind hier nur Einheimische unterwegs gewesen, bis heute sogar, denn im Verkehrschaos der überforderten Insel nehmen Auskenner den alten Wirtschaftsweg als Abkürzung auch mit dem Pkw. Die Wachen, die hier früher standen, sind fort, die zwölf Jahre, die hier ein Zentrum der Rüstungsindustrie der Nationalsozialisten war, haben allerdings ihre Spuren hinterlassen.

Unübersehbar. Im Wald warnen Schilder diplomatisch vor "Munitionsbelastung", am Wegesrand türmen sich die Trümmer früherer Bunkeranlagen. Die hatten die Nazis zwangsweise auf den weichen Boden bauen müssen, weil Tiefbunker im Usedomer Sand keinen Sinn gehabt hätten. Nach dem Krieg galten die halbtonnenförmigen Riesenschuppen als Teil der deutschen Bewaffnung und nach den Vorgaben des Potsdamer Abkommens mussten sie deshalb gesprengt werden.


Was übriggeblieben ist, reicht als Touristenattraktion. Überall türmen sich die Betonhaufen, in denen Teile der geplanten "Wunderwaffen" gelagert worden waren. Vieles ist längst von einer Flora überwuchert, die sich seit dem Abzug der NVA ungestört entwickeln konnte. Stumme steinerne Zeugen von Weltgeschichte: Von hier aus gelang der Menschheit am 3. Oktober 1942 der erste Ausflug in den Weltraum, als ein Raketenofen mit 18 Mischkammern zündete und in seinem Inneren pro Sekunde 125 Liter Kartoffelschnaps und flüssiger Sauerstoff verbrannten, bis das 13 Tonnen schwere ""Aggregat 4" die Grenze zum Weltraum überschritten hatte. Mit Überschallgeschwindigkeit erreichte die Rakete in einer Höhe von 84,5 Kilometern die Grenze der Erdatmosphäre und schlug 190 Kilometer entfernt in der Ostsee ein.

Über 10 000 Menschen hörten damals, wie das ohrenbetäubende Grollen des Triebwerks über die flache Landschaft rollte. Um 15.58 Uhr hob das Aggregat vom Starttisch ab und nahm Kurs auf die Danziger Bucht. In 80 Kilometer Höhe waren die Tanks leer. Keine Spur erinnert mehr daran, dafür aber gemahnen die Bunkerreste, die aussehen wie übergrünte Hünengräber, an die Vergänglichkeit aller Macht.

Wer hier auf den Rad vorbeifährt, wie es nur wenige tun, oder entlangwandert, was niemandem in den Sinn zu kommen scheint, ist auf Spurensuche. All diese Hinterlassenschaften wurden zwischen 1939 und 1942 mit Hilfe von Zwangsarbeitern erbaut und seitdem zerfallen sie mit quälender Landsamkeit. Beeindruckender noch als die Dokumente, Waffenteile, Fotografie, Videos und Modelle in der offiziellen Schau im Museum lassen die steinernen Reste der "Heeresversuchsanstalt", in der Entwicklung und Bau der Flügelbombe Fi 103 und der ersten Großrakete A 4 betrieben wurden, erahnen, welche Hybris hier herrschte. Niemand wusste, dass man im Begriff war, die Basis für die spätere Raumfahrt zu schaffen. Nicht die Eroberung des Alls, sondern der Erde war das Ziel.


Von 1936 bis 1943 wurden in der Usedomer Wald- und Wiesengegend etwa 70 Großbauten errichtet, dazu eine Wohnsiedlung für die Wissenschaftler, ein eigenes Wasser- und Kraftwerk sowie eine elektrisch betriebene Werkbahn. Ferner Lagerbauten als Massenunterkünfte für Soldaten, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Dass daraus einmal ein magisch-mysteriöser Ort werden würde, den Neugierige staunend durchwandern können, während Reste von Wasserzisternen, Unterführungen und stillgelegten Bahngleisen andeuten, wie gigantisch diese Anlagen einst waren, von denen außer der Kraftwerksruine nichts vollständig erhalten geblieben ist, hatten Wernher von Braun und General Walter Dornberger als führende Köpfe der Entwicklung einer Fernrakete, die 750 Kilogramm Sprengstoff über eine Distanz von 250 Kilometern transportieren sollte, weder vorgesehen noch geahnt.


Der Atem der Geschichte, hier weht er leise, aber deutlich muffig riechend. Keine zehn Kilometer entfernt gibt es die Reste eines Zwangsarbeiterlagers zu besichtigen, im Museum kann man lesen, dass allein beim ersten Luftangriff der Royal Air Force auf Peenemünde im August 1943 etwa 750 Menschen ums Leben kamen, darunter vermutlich 500 ausländische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Die Bunkerreste am LPG-Weg reichten den Nazis danach nicht mehr aus, um ihre Wunderwaffen sicher zu wähnen. Die Produktion wurde nach Nordhausen in Thüringen verlagert. Häftlinge aus dem KZ Buchenwald mussten dort unterirdische Stollen für das Buchenwald-Außenlagers Mittelbau-Dora in die Felsen hauen, in denen ab Januar 1944 die Raketenproduktion begann. Bei der Errichtung der Anlagen sowie bei der Produktion starben bis zum Kriegende über 20 000 Häftlinge - die V2 forderte so mehr Opfer bei denen, die sie bauen mussten, als bei denen, die sie töten sollte.



Nur weg aus dem Hinterland, aus Orten wie Zecherin und Mölschow, die nur ein paar Kilometer von den vielbesuchten Stränden bei Zinnowitz entfernt liegen, aber wirken wie Teile einer anderen Welt. Selbst im Hochsommer ist hier hinten niemand und so offenbart sich der landschaftliche Zauber der Insel Usedom, der weite Flächen bietet, dschungelhafte kleine Wälder und tuckernde Traktoren. Wie ein Schock kommt Trassenheide, der Vorhof des Urlaubsmolochs Zinnowitz, der von endlosen Radlerkolonnen bevölkert wird. Alles fährt, auf dem Kurplatz lauert der Strandvogt, der die Kurabgabe eintreibt. Zum Glück sind die Zelte, aufgebaut erst nache Einbruch der Dämmerung, selbst aus ein paar Metern Entfernung kaum zu entdecken. Wer sie trotzdem sieht, geht meist kopfschüttelnd vorbei. "Das ist bestimmt verboten", sagt eine Frau. "Das stört doch keinen", entgegnet ihr Mann und erklingt ein bisschen sehnsuchtsvoll.


Auf der Seeseite lässt es sich wieder unbekümmert am Strand entlanglaufen oder auf dem parallel zur Küste verlaufenden Wanderweg, der die offizielle Route des Europawanderweges 9 ist. Trotz der lauernden Blicke und des Kopfschüttelns der Tausenden am Strand geht es unten entlag, vorbei an Kleckerburgen und Festungen aus Planen. Am Streckelsberg bei Koserow wächst eine vergleichsweise scharfe Steigung aus dem Sand. 69 Höhenmeter! Für diese Gegend ist das das Matterhorn.


Die Versorgung ist immer sichergestellt, denn hier folgt Usedom wieder der Logik ständiger Abwechslung. Aus Stadt folgte Leere, auf Leere Stadt. Entlang der opulenten, kiefernbeschatteten Strandpromenade, an der sich in endloser Kette Strandvillen, Strandhotels und Strandrestaurants reihen. wandert es sich im aufkommenden Wind ruhig und gemächlich bis kurz vor Zempin, einen sympathischen Flecken, dem es noch am mallorcahaften Massencharakter mangelt. Der Strand unter einem Stückchen Steilküste, auf der der absurd große offizielle Campingplatz "Am Dünengelände" beginnt, der sich bis Zinnowitz hinzieht, sieht aus wie ein idealer Rastplatz für die Nacht.

Ein paar Jungs zelten hier gleich nebenan, illegal, aber schon eine gnaze Woche lang. "Gab nie Probleme" sagen sie, die allerdings kein richtiges Zelt aufgebaut haben, sondern nur ein Holzgerüst, über dem eine Plane liegt. Nach Landesrecht ist das kein Zelt, sondern mit viel gutem Willen ein Biwak. Und im Gegensatz zum Zelten am Strand ist biwaken erlaubt.

Oder wenigstens nicht verboten. Doch das ist egal, schließlich versiegt der Strom der Steinesammler, Hundeausführer und Jogger mit dem Dunkelwerden, durch das die letzten Auswärtsesser zurück zu ihren jeweiligen Heimatadressen stolpern. Die Nacht kommt, die ersten am Strand sind nun wieder die letzten, wie immer in dieser Woche so nah und so weit draußen zugleich.


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