Sechshundert Namen. Sechshundert! Gerhard Schürer schiebt den Porzellanhumpen auf der Anrichte im Flur zurecht. "Die wusste ich alle auswendig." Anders wäre es auch gar nicht gegangen, die ganze Geschichte aufzuschreiben. "Als Planungschef", der Mann mit den schmalen Lippen muss es wissen, "hat man ja keine Zeit, ein Tagebuch zu führen."
Also hat sich Gerhard Schürererinnert. Die Jahre durchgekramt, die er an der Spitze des DDR-Planungswesens stand, jener Behörde, die alles wissen und jedes Problem lösen können sollte. Nach seiner Arbeit als Berater beim Dienstleistungsunternehmer Dussmann hat er sich bei seiner Frau Steffy und der 13-jährigen Tochter Christina entschuldigt. Und sich zurückgezogen an den Computer im Schlafzimmer, aus dessen Fenstern man dorthin sieht, wo früher die Mauer stand.
Schürer denkt pragmatisch. "Man muss lernen, mit dem zu leben, was man kriegen kann", sagt er. Eine Einstellung, die dem 79-Jährigen geholfen hat, 25 Jahre an der Spitze des Planungsapparates der DDR zu überstehen. Ein einsamer Weltrekord: "Länger war niemand auf so einem Posten", weiß Schürer.
Also hat sich Gerhard Schürer
Dabei geriet der gelernte Schlosser eher zufällig in die DDR-Nomenklatura: "Nach dem Krieg hieß es ,Arbeiter in die Regierung', also ging ich zum Lehrgang." Drei Jahre später ist der ehemalige Fluglehrer schon Regierungsoberinspektor in Sachsen. Und als ihm die Partei ein Ökonomie-Fernstudium anträgt, weiß Gerhard Schürer
An den Tag, an dem er in die oberste Etage der DDR-Führung aufrückt, entsinnt er sich noch heute genau. "Die Sekretärin vom Planungsminister Apel rief an und sagte, Gerhard, der Erich hat sich was angetan." Verbittert, weil die Parteiführung seine Wirtschaftskonzepte nicht förderte, hatte sich Erich Apel erschossen. "Das war ein Schock", sagt Schürer
Erich Honecker ist es, der ihn bei Staats- und Parteichef Walter Ulbricht als Nachfolger durchkämpft. "Honecker sagte zu mir: Gerhard, wir brauchen einen im Politbüro, der was von Ökonomie versteht." Schürer
Schürer
Gerhard Schürer
Einmal nur ist der freundliche Herr mit dem dünnen Weißhaar, der sich 1981 "als alter Mann von 60 Jahren" in seine damalige Sekretärin und jetzige Frau verliebte, in all den Jahren außer sich gewesen. Das war, als der Staatsanwalt, mit dem er immer zusammen Mittag aß, ihn verhaften kam. "Der sagte zu mir, tut mir leid, Gerhard, aber ich stehe unter Druck." Fast wäre ihm da die Hand ausgerutscht: "Wenn du schon deine Genossen verhaftest, dann steh' wenigstens dazu", hat Schürer
Es seien dies die schwersten Stunden gewesen für ihn. "Als es gegen die Familie ging." Denn zu den Selbstvorwürfen, den Untergang der DDR vorausgesehen zu haben, kommt nun die pure Existenzangst. "Als uns ein paar Stasi-Damen über Nacht aus Wandlitz verjagt haben, war ich am Ende", sagt er, und der freundliche sächsische Akzent ist sengende Salzsäure.
"Wie ein Hund" lebt der Vater von sieben Kindern und Opa von zehn Enkeln. 40 000 DDR-Mark sind auf dem Sparbuch. "Und 44 000 mussten wir bezahlen, damit wir unsere Möbel mitnehmen durften."
Mit 69 steht Gerhard Schürer
Nur die Enttäuschung über Weggefährten, die nur noch schnell vergessen wollen, sitzt tief. Krolikowski, Schabowski. Schürers Stimme ätzt die Namen in die Wohnzimmerluft. Letzterer habe neulich mal ein Bier trinken gehen wollen mit ihm. "Da habe ich gesagt, nüscht, Günther, mein Bier trinke ich lieber alleine."
Schürer
Immerhin hat Gerhard Schürer
Der Pilot im Cockpit der DDR-Wirtschaft kannte sie. Doch als er das laut sagte, ist die DDR schon im Sturzflug. "Im Mai 1988 habe ich Honecker vorgeschlagen, was wir ändern können": Rüstungsausgaben kürzen, Bauarbeiter aus Berlin zurück in die Republik, Investitionen aus der Mikroelektronik umlenken. Honecker winkt ab. "Da war die Angst vor einem Aufstand viel zu groß."
Gemeinsam mit Alexander Schalck-Golodkowski diskutiert Schürer
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Gerhard Schürer
Gerhard Schürer ist 2010 in Berlin gestorben