Sonntag, 2. November 2014

Der DDR-Planungschef war froh, nicht mehr regieren zu müssen

Sechshundert Namen. Sechshundert! Gerhard Schürer schiebt den Porzellanhumpen auf der Anrichte im Flur zurecht. "Die wusste ich alle auswendig." Anders wäre es auch gar nicht gegangen, die ganze Geschichte aufzuschreiben. "Als Planungschef", der Mann mit den schmalen Lippen muss es wissen, "hat man ja keine Zeit, ein Tagebuch zu führen."

Also hat sich Gerhard Schürer erinnert. Die Jahre durchgekramt, die er an der Spitze des DDR-Planungswesens stand, jener Behörde, die alles wissen und jedes Problem lösen können sollte. Nach seiner Arbeit als Berater beim Dienstleistungsunternehmer Dussmann hat er sich bei seiner Frau Steffy und der 13-jährigen Tochter Christina entschuldigt. Und sich zurückgezogen an den Computer im Schlafzimmer, aus dessen Fenstern man dorthin sieht, wo früher die Mauer stand.

Schürer denkt pragmatisch. "Man muss lernen, mit dem zu leben, was man kriegen kann", sagt er. Eine Einstellung, die dem 79-Jährigen geholfen hat, 25 Jahre an der Spitze des Planungsapparates der DDR zu überstehen. Ein einsamer Weltrekord: "Länger war niemand auf so einem Posten", weiß Schürer.

Dabei geriet der gelernte Schlosser eher zufällig in die DDR-Nomenklatura: "Nach dem Krieg hieß es ,Arbeiter in die Regierung', also ging ich zum Lehrgang." Drei Jahre später ist der ehemalige Fluglehrer schon Regierungsoberinspektor in Sachsen. Und als ihm die Partei ein Ökonomie-Fernstudium anträgt, weiß Gerhard Schürer, "dass ich für Höheres vorgesehen war".

An den Tag, an dem er in die oberste Etage der DDR-Führung aufrückt, entsinnt er sich noch heute genau. "Die Sekretärin vom Planungsminister Apel rief an und sagte, Gerhard, der Erich hat sich was angetan." Verbittert, weil die Parteiführung seine Wirtschaftskonzepte nicht förderte, hatte sich Erich Apel erschossen. "Das war ein Schock", sagt Schürer.

Erich Honecker ist es, der ihn bei Staats- und Parteichef Walter Ulbricht als Nachfolger durchkämpft. "Honecker sagte zu mir: Gerhard, wir brauchen einen im Politbüro, der was von Ökonomie versteht." Schürer antwortet: "Wenn du meinst, Erich." Und bezieht Apels Büro mit dem verspachtelten Einschussloch in der Wand.


Schürer ist sich sicher, in der richtigen Mannschaft zu stehen. Die Genossen sind Kumpeltypen, die Zukunft ist licht und der Sozialismus auf dem Siegeszug. Dass Honecker "ein Mann ohne Ohren" werden wird, "der nur noch auf seinen Wirtschaftssekretär Günter Mittag hört", und die Parteiführung das Land in den Untergang steuert -wer hätte das ahnen sollen?

Gerhard Schürer, geschult in der Nachkriegs-SED, ist ein loyaler Klassenkämpfer. Er sieht die falschen Entscheidungen. Und zweifelt seine richtigen Berechnungen an. "Steht die ganze Front schief, und nur ich bin gerade?" Mit den Jahren hat er dann gelernt, Dinge zu vertreten, "die ich selbst anders gemacht hätte". Schürer ist ein Gefolgsmann, kein Anführer; ein Planer, aber kein Politiker. Er verwaltet den Mangel und stopft die Löcher, jongliert mit dem stets zu kleinen Angebot, um die stets zu große Nachfrage im Zaum zu halten. Geholfen habe ihm immer, was er selbst "meine eisernen Pilotennerven" nennt: "Je aufgeregter alle sind, desto ruhiger werde ich."

Einmal nur ist der freundliche Herr mit dem dünnen Weißhaar, der sich 1981 "als alter Mann von 60 Jahren" in seine damalige Sekretärin und jetzige Frau verliebte, in all den Jahren außer sich gewesen. Das war, als der Staatsanwalt, mit dem er immer zusammen Mittag aß, ihn verhaften kam. "Der sagte zu mir, tut mir leid, Gerhard, aber ich stehe unter Druck." Fast wäre ihm da die Hand ausgerutscht: "Wenn du schon deine Genossen verhaftest, dann steh' wenigstens dazu", hat Schürer gezischt.

Es seien dies die schwersten Stunden gewesen für ihn. "Als es gegen die Familie ging." Denn zu den Selbstvorwürfen, den Untergang der DDR vorausgesehen zu haben, kommt nun die pure Existenzangst. "Als uns ein paar Stasi-Damen über Nacht aus Wandlitz verjagt haben, war ich am Ende", sagt er, und der freundliche sächsische Akzent ist sengende Salzsäure.

"Wie ein Hund" lebt der Vater von sieben Kindern und Opa von zehn Enkeln. 40 000 DDR-Mark sind auf dem Sparbuch. "Und 44 000 mussten wir bezahlen, damit wir unsere Möbel mitnehmen durften."

Mit 69 steht Gerhard Schürer, eben noch Herr über die "zehntgrößte Industrienation der Welt", vor dem Nichts. Für das Nötigste muss er bei der Schwiegermutter borgen. "Am Anfang bin ich Gardinen waschen gegangen, und ich habe mich gefreut, wenn ich zehn Mark dafür kriegte." Pilotennerven! Sich arrangieren mit dem, was man kriegen kann. Schürer hat Übung im Mangel. Ungerecht behandelt habe er sich nie gefühlt. "Ich weiß, dass ich eine Verantwortung habe, und für die stehe ich ein."

Nur die Enttäuschung über Weggefährten, die nur noch schnell vergessen wollen, sitzt tief. Krolikowski, Schabowski. Schürers Stimme ätzt die Namen in die Wohnzimmerluft. Letzterer habe neulich mal ein Bier trinken gehen wollen mit ihm. "Da habe ich gesagt, nüscht, Günther, mein Bier trinke ich lieber alleine."


Schürer furcht die Stirn und spricht schneller. Das ist es, was er auf den Tod nicht ausstehen kann: Dieselben Genossen, die ihn zu DDR-Zeiten als "Feind der Mikroelektronik" kritisierten, warfen ihn nach der Wende aus der Partei. "Weil ich nicht verhindert hätte, dass Volksvermögen für die Mikroelektronik vergeudet wurde." Schürer kichert eckig: "Da konnte ich doch nur lachen."

Immerhin hat Gerhard Schürer es versucht. Als Erich Honecker Anfang der 70er Jahre die neue Politik der Hauptaufgabe verkündet, meldete er sich als einziger Kritiker. "Das Programm ist ausgezeichnet, habe ich gesagt, aber es ist nicht zu finanzieren." Honecker ist danach "obersauer": "Ich habe mich gewundert, dass ich zurückgehen durfte in mein Büro." Von heute aus betrachtet glaubt Gerhard Schürer, schon damals sei die letzte Chance verspielt worden. "Unter Ulbricht haben wir acht Milliarden für Subventionen ausgegeben, unter Honecker am Ende 58", rekapituliert er zahlensicher.


Nirgends war mehr Luft. "Eine neue Autobahn hätten wir nie bauen können, das Internet hätte ohne uns stattgefunden." Das konnte nicht gut gehen, und "das haben unsere Zahlen jeden Tag gesagt". Diese Zahlen aber, die die Computer der Planungskommission ausspuckten, wollte niemand sehen.

Der Pilot im Cockpit der DDR-Wirtschaft kannte sie. Doch als er das laut sagte, ist die DDR schon im Sturzflug. "Im Mai 1988 habe ich Honecker vorgeschlagen, was wir ändern können": Rüstungsausgaben kürzen, Bauarbeiter aus Berlin zurück in die Republik, Investitionen aus der Mikroelektronik umlenken. Honecker winkt ab. "Da war die Angst vor einem Aufstand viel zu groß."

Gemeinsam mit Alexander Schalck-Golodkowski diskutiert Schürer nach dieser Niederlage die Möglichkeit einer Konföderation mit der BRD, mit Egon Krenz berät er, wie ein Machtwechsel vollzogen werden könnte. "Schon der Gedanke war Hochverrat." Hochverrat an der verfehlten Politik, nicht an der Idee des Sozialismus, an die Gerhard Schürer bis heute glaubt. "Die Marktwirtschaft ist das überlegene System", sagt er, "das muss man einsehen."

Schürer ist Beobachter, nicht mehr Gestalter. Und froh darüber. Heute kocht er für die Familie, macht im Haushalt "alles außer Bügeln" und ist seiner Christina "der Vater, der ich meinen anderen Kinder nie sein konnte".

Gerhard Schürer hat seinen Frieden gefunden in der Dreiraum-Wohnung im Plattenbau, zwischen kahlem Mauerstreifen und der Pracht der neuen Regierungsbauten. Er plant nicht mehr viel. "Ich bin doch heute der glücklichste Mann."

Gerhard Schürer ist 2010 in Berlin gestorben

Freitag, 31. Oktober 2014

Die Antwortmaschine: Kuhen statt googeln

Nicht Suchmaschine, sondern „Antwortmaschine“ nennt sich eine neue Alternative zu den bisherigen Torwächtern im Internet. Swisscows.de will vor allem mit knallhartem Schutz der persönlichen Daten seiner Nutzer punkten. Alle einlaufenden Daten werden verschlüsselt, nicht aufgezeichnet und nicht gesammelt.

Die Server am anderen Ende des Verschlüsselungstunnels stehen in der Schweiz, sind im Besitz des Swisscows-Betreibers und verweigern dank der in der Schweiz geltenden strengen Datenschutzregeln Datenschnüfflern aus aller Welt jeden Einblick. Daneben aber zielt Swisscows auch auf ein neues Benutzungsgefühl: Mit einer hübschen grafischen Aufbereitung der Suchergebnisse in Kachelform können Nutzer sich von ersten Ergebnissen weiterhangeln. Besonders Benutzer von Tablets und Smartphones werden das zu schätzen wissen, denn statt per Hand weitere Suchbegriffe einzugeben, präsentiert ihnen die Antwortmaschine mögliche weiterführende Begriffe auf Kacheln, aus denen per Tipp die gewählt werden können, die die eigene Anfrage präzisieren.

Das spart Zeit und macht Swisscows im Zusammenspiel mit den sehr brauchbaren Suchergebnissen zu einer echten Google-Alternative, die wirklich sinnvolle Antworten statt Millionen von Links liefert.

Zur Antwortmaschine:
Swisscows.de


Freitag, 26. September 2014

Ein "Talismann" im Alleingang

Hagen Stoll legt mit „Talismann“ eine bluesgetränkte CD vor.

Zusammen mit seinem schwergewichtigen Kumpel Sven Gillert hat Hagen Stoll Musikgeschichte geschrieben. Der Mann, der bis 2009 versuchte, als „Joe Rilla“ Rap-Karriere zu machen, ließ sich die erste Wegstrecke der mit Gillert zusammen gegründeten Rockpop-Band Haudegen als Existenzgründung von der Agentur für Arbeit finanzieren.

Keine schlechte Investition, denn das Haudegen-Debüt „Schlicht und ergreifend“ wurde ebenso ein Hit wie die nachfolgenden Tourneen der beiden volltätowierten Riesen. Ohne die übliche Gangster-Attitüde und aggressive Kampfgesänge auf dumpfen Beats entwickelten die handfesten Dickens-Gestalten so große Glaubwürdigkeit, dass ihre zweistimmig gegrollten Schmerzengesänge zur Musik für Massen wurde, die auf der Suche nach echten, handgemachten Liedern mit glaubhafter Botschaft waren.

Dennoch ist das neue Album von Haudegen kein Album der Haudegen. Sondern eines, das Hagen Stoll allein verantwortet. „Talismann“ nennt der 39-jährige Ostberliner die Sammlung von 15 Songs zwischen Rock, Country und Blues, die noch erdiger, kerniger und unzeitgemäßer klingt als die beiden Haudegen-Werke.

Stolls großes Talent ist es auch hier, glaubwürdige Texte mit angenehmen Melodien zu kombinieren. Wo aber bei Haudegen ein Teil Spannung aus dem Wechselgesang mit Sven Gillert resultierte, ist der gelernte Stuckateur hier ganz allein. Ein Chance, die er nutzt, wie etwa die erste Single „Schieb den Blues“ zeigt. Mit Steelguitar, Barpiano und Drums, die wie Fingerschnipsten klingen, entwickelt er eine Ermutigungshymne, die jedem Geschlagenen, Getretenen oder sonstwie Unglücklichen ans Herz gehen muss: „Ich gebe, nein, ich gebe noch nicht auf, ich lebe, lebe, lebe jeden Schritt, den ich lauf“.

Dann geht es mit Polka weiter. „1, 2, 3, 4 Leben“ zeigt den oft der Bedeutungshuberei überführten früheren Hooligan als selbstironischen Spaßmacher, ehe „Was ich brauch“ direkt ins Herzen des Wilden Westens galoppiert und „Im Herzen Kind“ ein Lob der Naivität singt: „Flieg mit dem Wind, bleib wie Du bist, bleib im Herzen Kind“.

Würde Stoll Englisch singen, nähme man ihm den alten Weisen ab, wie das teilweise auf englisch gesungene „Bible or Gun“ beweist. So aber muss der Mut für ihn sprechen, Themen abzuhandeln, die leicht peinlich klingen können. Tun sie hier nicht, weil der brummelige Riese es irgendwie schafft, selbst die schwersten Thesen mit leichter Hand zu präsentieren. „Das Wort Glauben“ zum Beispiel sieht den Sänger als Zweifler, ein Kopfschütteln auf vier Akkorden: „Kann mir jemand das Wort Glauben definieren / ich kann es nicht mehr spüren“.

Ein bisschen hat das was vom ganz frühen Marius Müller-Westernhagen der „Loch in meiner Tasche“-Ära, ein bisschen erinnert Hagen Stoll auch an Tom Waits und Klaus Lage. Kein ganz junges, aber aktuell vielleicht das größte deutsche Songschreibertalent.

Hagen Stoll live:
14.10. Magdeburg, Feuerwache
15.11, Weißenfels, Kulturhaus