Mittwoch, 30. November 2011
Der letzte Blues im Stehn
Fast fünf Jahre bemerkt niemand, dass der ehemals bekannte Musiker Stefan Diestelmann gestorben ist. Und da fragen sich Leute ernsthaft, wie drei Nazis unerkannt im Untergrund leben konnten...
Sonntag, 16. Oktober 2011
Heimspiel vor vollem Haus
Zum Schluss landen sie bei den großen Hits. "This is not a Lovesong" singt das prallvolle Steintor gemeinsam mit Baby-Universal-Sänger Cornelius Ochs. Und "Boys & Girls" singen sie auch - das erste vor langer Zeit mal eine Chartnummer-1 einer englischen Band. Das zweite seinerzeit die erste Single der halleschen Nummer-1-Band Baby Universal.
Das sie das sind, bewiesen Sänger Ochs, Gitarrist Hannes Scheffler, Bassmann Tobias Lehmann und Drummer Carsten Rothweiler beim Release-Konzert zum neuen Live-Album, das genau so heißt: "Live". Mit "A Ghost is in the House" startet der Abend gespenstisch, Cornelius Ochs zelebriert das Stück blutrot beleuchtet mit großen Gesten. Dann "Holy Ground", eine augenzwinkernde Verbeugung vor dem ehrwürdigen Variete, und schon wippt und stampft die Masse vor der Bühne.
Ganz offensichtlich ein Heimspiel, das die vier Babys hier feiern. Liedtexte werden laut mitgesungen, Songs schon nach den ersten paar Akkorden bejubelt, Crowdsurfer wagen den Sprung vom Bühnenrand und lassen sich auf den ausgestreckten Armen der Fans über die Köpfe tragen.
Die Euphorie stoppt erst, als die Band zum akustischen Teil Platz nimmt. Jetzt verstärkt von der Sängerin Kiki Bohemia, einer singenden Säge und dem Cellisten Sickerman wirft sich Cornelius Ochs in die großen Doors-Posen. Die Hände gehen flehend zum Himmel, die Stimme mauzt und jauchzt. Dann kommt auch noch Christian "Sorje" Sorge auf die Bühne, um dem jetzt gefragten Stonerrock-Teil ein bisschen Stones-Erdigkeit einzuimpfen.
Ochs ist nun Bowie, Micheal Hutchence und, mit der auf dem Rücken schlenkernden Akustik-Gitarre, Woody Guthrie in einer Person. Zwei Stunden lang spielen sie, jagen von Höhepunkt zu Höhepunkt. Der Bass bollert, die Gitarren glühen, der Mann im weißen Brokathemdchen schlägt die Augen zu, breitet die Arme aus und lässt sich und seine Band für einen fantastischen Konzertabend bejubeln.
Das sie das sind, bewiesen Sänger Ochs, Gitarrist Hannes Scheffler, Bassmann Tobias Lehmann und Drummer Carsten Rothweiler beim Release-Konzert zum neuen Live-Album, das genau so heißt: "Live". Mit "A Ghost is in the House" startet der Abend gespenstisch, Cornelius Ochs zelebriert das Stück blutrot beleuchtet mit großen Gesten. Dann "Holy Ground", eine augenzwinkernde Verbeugung vor dem ehrwürdigen Variete, und schon wippt und stampft die Masse vor der Bühne.
Ganz offensichtlich ein Heimspiel, das die vier Babys hier feiern. Liedtexte werden laut mitgesungen, Songs schon nach den ersten paar Akkorden bejubelt, Crowdsurfer wagen den Sprung vom Bühnenrand und lassen sich auf den ausgestreckten Armen der Fans über die Köpfe tragen.
Die Euphorie stoppt erst, als die Band zum akustischen Teil Platz nimmt. Jetzt verstärkt von der Sängerin Kiki Bohemia, einer singenden Säge und dem Cellisten Sickerman wirft sich Cornelius Ochs in die großen Doors-Posen. Die Hände gehen flehend zum Himmel, die Stimme mauzt und jauchzt. Dann kommt auch noch Christian "Sorje" Sorge auf die Bühne, um dem jetzt gefragten Stonerrock-Teil ein bisschen Stones-Erdigkeit einzuimpfen.
Ochs ist nun Bowie, Micheal Hutchence und, mit der auf dem Rücken schlenkernden Akustik-Gitarre, Woody Guthrie in einer Person. Zwei Stunden lang spielen sie, jagen von Höhepunkt zu Höhepunkt. Der Bass bollert, die Gitarren glühen, der Mann im weißen Brokathemdchen schlägt die Augen zu, breitet die Arme aus und lässt sich und seine Band für einen fantastischen Konzertabend bejubeln.
Freitag, 7. Oktober 2011
Sonst kommst Du nach Schwedt...
Der Fluch der NVA-Soldaten erwischte ihn, und er merkte es nicht einmal. Erst im Stasi-Gefängnis wurde dem Dresdner Klaus AUERSWALD damals klar, dass ihm mehr droht als eine Disziplinarstrafe wegen des Hörens von West-Radiosendern. Es ist der Sommer 1968, Truppen des Warschauer Paktes sind gerade in die Tschechoslowakei einmarschiert und die DDR-Behörden reagieren empfindlich auf Systemkritik, wie der Wehrpflichtige AUERSWALD sie im Kameradenkreis geäußert hatte: Der Einmarsch sei unrechtmäßig, die SED unterdrücke die Meinungsfreiheit und der Sozialismus sei überhaupt reif für Reformen, fand der gerade 20-Jährige.
Für seinen Bataillonskommandeur ein klarer Fall. Angeblich um eine zehntägige Arreststrafe abzubrummen, wird der bekennende Beat-Fan ins Stasi-Untersuchungsgefängnis gebracht. Dort eröffnet ihm ein Vernehmer, dass er unter dem Verdacht stehe, "staatsfeindliche Hetze" begangen zu haben.
In den folgenden zwei Jahren lernt Klaus AUERSWALD den Alptraum aller DDR-Soldaten kennen. Das Militärgefängnis Schwedt ist die zentrale Strafanstalt für die sogenannten Bewaffneten Organe, die seit 1956 über eine eigene Militärgerichtsbarkeit verfügen. Für kleinere Vergehen verhängen Vorgesetzte direkt Disziplinarstrafen, um alles andere kümmern sich Militärgerichte, Militärobergerichte und das Militärkollegium des Obersten Gerichtes der DDR.
Dienststellen der Militärstaatsanwaltschaft ermitteln wegen Fahnenflucht und Schlägereien, sie untersuchen Angriffe auf Vorgesetzte, Missbrauchsfälle etwa im Zusammenhang mit der EK-Bewegung, aber auch Fälle von Diebstahl, Waffenbenutzung oder staatsfeindlichen Äußerungen. So wurde 1981 der Stasi-Hauptmann Werner TESKE wegen versuchtem Landesverrat von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Auch der Offizier, der für das Unglück verantwortlich gemacht wurde, bei dem am 24. August 1965 ein NVA-Schwimmpanzer PT 76 35 Ferienlagerkinder auf dem Riewend-See bei Brandenburg an der Havel mit in die Tiefe riss, landete in Schwedt.
Klaus AUERSWALD erlebt einen Prozess, der nicht öffentlich vor dem Militärobergericht des Militärbezirkes 3 in Leipzig stattfindet. Der Angeklagte bekommt zuvor weder die Klageschrift oder Beweise zu sehen, seinen Verteidiger spricht er wenige Tage vor der Verhandlung für eine halbe Stunde.
Das Urteil steht sowieso fest. Der gelernte Elektromonteur geht für seine Gesinnung hinter Gitter - für ein Jahr und acht Monate nach Schwedt, die Strafanstalt, deren Name allein Generationen von NVA-Angehörigen in Furcht versetzt. In zwei Kompanien, die von als "positiv" eingeschätzten Gefangenen befehligt werden, findet hier ein Strafvollzug auf Strafarbeitsbasis statt, bis 1982 noch unter der Regie des Innenministeriums, später dann unter direkter Leitung der NVA. "3.45 Uhr war Wecken", erinnert sich AUERSWALD, "dann Morgensport, dann Frühstück und 5.30 Uhr Abfahrt ins Betonwerk." Schläge gehören dazu, "der Knüppel klatschte regelmäßig in die Kniekehlen", heißt es in AUERSWALDs NVA-Knastbuch "… sonst kommst Du nach Schwedt!" (Greifenverlag), in dem der Sachse sich die Last der Erinnerungen vom Leibe zu schreiben versucht.
Die Strafgefangenen, unter denen wegen politischer Delikte Verurteilte ebenso sind wie Gewalttäter und Leute, die etwa "aus Versehen" jemanden erschossen haben, arbeiten Zwölfstunden-Schichten an sechs Tagen der Woche, es gibt nur wenig zu essen, dafür aber an zwei Wochenenden jedes Monats militärische Ausbildungsübungen mit Holzgewehren. Die Strafe schützt die meisten vor dem Wehrdienst nicht: Offiziell gelten alle nach Militärstrafrecht Verurteilten weiter als NVA-Angehörige, ihre nach der Strafverbüßung verbleibende Dienstzeit müssen sie in der Regel bis zum letzten Tag der regulären Dienstzeit nachdienen. 50 Tage sind es im Fall von Klaus AUERSWALD. Und draußen vor dem Kasernentor warten anschließend schon die Stasi-Spitzel.
Fundstück bei Klaus Auerswalds Blog
Für seinen Bataillonskommandeur ein klarer Fall. Angeblich um eine zehntägige Arreststrafe abzubrummen, wird der bekennende Beat-Fan ins Stasi-Untersuchungsgefängnis gebracht. Dort eröffnet ihm ein Vernehmer, dass er unter dem Verdacht stehe, "staatsfeindliche Hetze" begangen zu haben.
In den folgenden zwei Jahren lernt Klaus AUERSWALD den Alptraum aller DDR-Soldaten kennen. Das Militärgefängnis Schwedt ist die zentrale Strafanstalt für die sogenannten Bewaffneten Organe, die seit 1956 über eine eigene Militärgerichtsbarkeit verfügen. Für kleinere Vergehen verhängen Vorgesetzte direkt Disziplinarstrafen, um alles andere kümmern sich Militärgerichte, Militärobergerichte und das Militärkollegium des Obersten Gerichtes der DDR.
Dienststellen der Militärstaatsanwaltschaft ermitteln wegen Fahnenflucht und Schlägereien, sie untersuchen Angriffe auf Vorgesetzte, Missbrauchsfälle etwa im Zusammenhang mit der EK-Bewegung, aber auch Fälle von Diebstahl, Waffenbenutzung oder staatsfeindlichen Äußerungen. So wurde 1981 der Stasi-Hauptmann Werner TESKE wegen versuchtem Landesverrat von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. Auch der Offizier, der für das Unglück verantwortlich gemacht wurde, bei dem am 24. August 1965 ein NVA-Schwimmpanzer PT 76 35 Ferienlagerkinder auf dem Riewend-See bei Brandenburg an der Havel mit in die Tiefe riss, landete in Schwedt.
Klaus AUERSWALD erlebt einen Prozess, der nicht öffentlich vor dem Militärobergericht des Militärbezirkes 3 in Leipzig stattfindet. Der Angeklagte bekommt zuvor weder die Klageschrift oder Beweise zu sehen, seinen Verteidiger spricht er wenige Tage vor der Verhandlung für eine halbe Stunde.
Das Urteil steht sowieso fest. Der gelernte Elektromonteur geht für seine Gesinnung hinter Gitter - für ein Jahr und acht Monate nach Schwedt, die Strafanstalt, deren Name allein Generationen von NVA-Angehörigen in Furcht versetzt. In zwei Kompanien, die von als "positiv" eingeschätzten Gefangenen befehligt werden, findet hier ein Strafvollzug auf Strafarbeitsbasis statt, bis 1982 noch unter der Regie des Innenministeriums, später dann unter direkter Leitung der NVA. "3.45 Uhr war Wecken", erinnert sich AUERSWALD, "dann Morgensport, dann Frühstück und 5.30 Uhr Abfahrt ins Betonwerk." Schläge gehören dazu, "der Knüppel klatschte regelmäßig in die Kniekehlen", heißt es in AUERSWALDs NVA-Knastbuch "… sonst kommst Du nach Schwedt!" (Greifenverlag), in dem der Sachse sich die Last der Erinnerungen vom Leibe zu schreiben versucht.
Die Strafgefangenen, unter denen wegen politischer Delikte Verurteilte ebenso sind wie Gewalttäter und Leute, die etwa "aus Versehen" jemanden erschossen haben, arbeiten Zwölfstunden-Schichten an sechs Tagen der Woche, es gibt nur wenig zu essen, dafür aber an zwei Wochenenden jedes Monats militärische Ausbildungsübungen mit Holzgewehren. Die Strafe schützt die meisten vor dem Wehrdienst nicht: Offiziell gelten alle nach Militärstrafrecht Verurteilten weiter als NVA-Angehörige, ihre nach der Strafverbüßung verbleibende Dienstzeit müssen sie in der Regel bis zum letzten Tag der regulären Dienstzeit nachdienen. 50 Tage sind es im Fall von Klaus AUERSWALD. Und draußen vor dem Kasernentor warten anschließend schon die Stasi-Spitzel.
Fundstück bei Klaus Auerswalds Blog
Donnerstag, 6. Oktober 2011
Wie eine dunkle Wolke
Vor allem aber hängt sie über Gerhard Funke, seit 13 Jahren Direktor in der „Seku IV“, wie die Schule hier genannt wird. „Ich bin tief erschüttert“, sagt der 64-Jährige mit belegter Stimme, „keiner kann sich erklären, wie es dazu kommen konnte.
“ Es habe, versichert der grauhaarige Mann mit den von Sorge schweren Lidern, keine Anzeichen gegeben. Keine Hinweise und keine Warnungen. „Wir sind eine Schule wie jede andere auch“, beschreibt er, „da gibt es mal Rangeleien, aber so etwas gibt es nicht.“
Bis zum Mittwoch, 11 Uhr 30. Es ist große Pause an der Schule, um die herum halb leere Wohnblocks mit toten Fensteröffnungen auf den Abrissbagger warten. Die Sonne scheint, und der 16-jährige René E. steht mit Freunden zusammen. Matthias B., 18 Jahre alt und bis zum Frühjahr Schüler an der „Seku IV“, kommt dazu. Und beginnt, auf den Jüngeren einzuprügeln. Alles sei „sehr, sehr schnell“ gegangen", berichten Augenzeugen später.
Selbst als René E. schon am Boden lag, habe B. nicht abgelassen. „Der war wie im Rausch“, sagt ein Mädchen, das vor Entsetzen starr zuschaute, wie Matthias B. trat und trampelte. „Wir konnten gar nichts tun.“ Schüler rufen per Handy Hilfe. Einer läuft zum Direktor. Andere alarmieren die Hofaufsicht. „Als die Kollegen zu der Stelle kamen“, schildert Gerhard Funke, „konnten sie nur noch erste Hilfe leisten.“ Matthias B. flüchtete. Später stellt er sich.
Seine früheren Mitschüler tun sich schwer mit Erklärungen. René E. habe B., der nach der Schule keine Lehrstelle fand und derzeit ein berufsvorbereitendes Jahr absolviert, beleidigt, behauptet ein Junge. Das könne zwar sein, räumt ein Mädchen ein, doch Ursache der Auseinandersetzung sei der Streit um eine Freundin gewesen, die erst zu B. gehörte, dann aber zu E. ging.
„Mit unserer Schule hatte das aber garantiert nichts zu tun“, versichert sie. Auch wenn die Stimmung derzeit „ein bisschen aggressiv“ sei, weil sich viele von den Kamerateams verfolgt fühlten, sei die „IV“ eine friedliche Penne: „Bei uns kloppen sie sich nicht und es schleppt auch keiner Waffen rum.“ Bis vor kurzem, sagt Gerhard Funke, gab es sogar ein Projekt, das die Schüler lehrte, Schulstreits miteinander zu schlichten. „Da haben wir gute Erfahrungen gemacht.“ Maria Schneider kann das nur bestätigen. Seit 1995 wohnt die 77-Jährige direkt neben der „Seku IV“ und „hatte nie Probleme mit den Kindern“, sagt sie. Natürlich, viele Scheiben sind zerschlagen. Natürlich, das Viertel scheint dem Leben ferner als dem Tod zu sein, und ein Hauch von Endzeit weht durch die zugewucherten Vorgärten: Die Spielplätze sind voll Unkraut, die Türen der Wohnblocks verschweißt, auch Gerhard Funkes Schule wird im Frühjahr geschlossen. „Trotzdem kann man hier abends auf die Straße“, sagt Maria Schneider, „da muss man keine Angst haben.“ „Aber am Ende erzählen sie die Geschichte ja doch wie immer“, vermutet ein Mädchen, das vor den TV-Teams auf die Bank hinter einem Block geflüchtet ist. Und immer geht die Geschichte so in Wolfen-Nord, glaubt sie: „Die Eltern arbeitslos und besoffen, die Kinder ständig verprügelt, und dann schlagen sie sich gegenseitig tot, das klingt ja auch logisch.“ Auch wenn es nicht wahr ist.
Mit einer Trauerfeier haben die Lehrer am Montag ihres Schülers gedacht. Schulleiter Funke sagte, „wir trauern tief bewegt“. Das Gedenken fand ohne Schüler statt. „Die Kinder sind nicht gewillt, öffentlich vor den Medien trauern“, sagte Funke. Zuvor hatten Schüler allerdings Blumen für das 16-jährige Opfer nieder gelegt. Tiefe Stille herrscht um das Schulhaus herum. Nur selten lassen sich Schüler oder Lehrer vor dem Gebäude blicken, wo noch immer die Kameras von Fernsehteams auf sie warten.
Eine lückenlose Aufklärung der Ereignisse verlangt Wolfens Oberbürgermeisterin Petra Wust (parteilos). An Wolfen solle nicht der Makel hängen bleiben, eine Gewalthochburg zu sein. „Das wäre völliger Quatsch. Die soziale Situation hier ist wie an anderen Städten Ostdeutschlands auch“, sagt Wust. Sie räumt allerdings ein, dass die Zahl der Einwohner von ehemals 45000 auf 26000 geschrumpft sei. „Wir haben den höchsten Leerstand in ganz Deutschland.“
Fundstück aus dem Tagesspiegel
Bis zum Mittwoch, 11 Uhr 30. Es ist große Pause an der Schule, um die herum halb leere Wohnblocks mit toten Fensteröffnungen auf den Abrissbagger warten. Die Sonne scheint, und der 16-jährige René E. steht mit Freunden zusammen. Matthias B., 18 Jahre alt und bis zum Frühjahr Schüler an der „Seku IV“, kommt dazu. Und beginnt, auf den Jüngeren einzuprügeln. Alles sei „sehr, sehr schnell“ gegangen", berichten Augenzeugen später.
Selbst als René E. schon am Boden lag, habe B. nicht abgelassen. „Der war wie im Rausch“, sagt ein Mädchen, das vor Entsetzen starr zuschaute, wie Matthias B. trat und trampelte. „Wir konnten gar nichts tun.“ Schüler rufen per Handy Hilfe. Einer läuft zum Direktor. Andere alarmieren die Hofaufsicht. „Als die Kollegen zu der Stelle kamen“, schildert Gerhard Funke, „konnten sie nur noch erste Hilfe leisten.“ Matthias B. flüchtete. Später stellt er sich.
Seine früheren Mitschüler tun sich schwer mit Erklärungen. René E. habe B., der nach der Schule keine Lehrstelle fand und derzeit ein berufsvorbereitendes Jahr absolviert, beleidigt, behauptet ein Junge. Das könne zwar sein, räumt ein Mädchen ein, doch Ursache der Auseinandersetzung sei der Streit um eine Freundin gewesen, die erst zu B. gehörte, dann aber zu E. ging.
„Mit unserer Schule hatte das aber garantiert nichts zu tun“, versichert sie. Auch wenn die Stimmung derzeit „ein bisschen aggressiv“ sei, weil sich viele von den Kamerateams verfolgt fühlten, sei die „IV“ eine friedliche Penne: „Bei uns kloppen sie sich nicht und es schleppt auch keiner Waffen rum.“ Bis vor kurzem, sagt Gerhard Funke, gab es sogar ein Projekt, das die Schüler lehrte, Schulstreits miteinander zu schlichten. „Da haben wir gute Erfahrungen gemacht.“ Maria Schneider kann das nur bestätigen. Seit 1995 wohnt die 77-Jährige direkt neben der „Seku IV“ und „hatte nie Probleme mit den Kindern“, sagt sie. Natürlich, viele Scheiben sind zerschlagen. Natürlich, das Viertel scheint dem Leben ferner als dem Tod zu sein, und ein Hauch von Endzeit weht durch die zugewucherten Vorgärten: Die Spielplätze sind voll Unkraut, die Türen der Wohnblocks verschweißt, auch Gerhard Funkes Schule wird im Frühjahr geschlossen. „Trotzdem kann man hier abends auf die Straße“, sagt Maria Schneider, „da muss man keine Angst haben.“ „Aber am Ende erzählen sie die Geschichte ja doch wie immer“, vermutet ein Mädchen, das vor den TV-Teams auf die Bank hinter einem Block geflüchtet ist. Und immer geht die Geschichte so in Wolfen-Nord, glaubt sie: „Die Eltern arbeitslos und besoffen, die Kinder ständig verprügelt, und dann schlagen sie sich gegenseitig tot, das klingt ja auch logisch.“ Auch wenn es nicht wahr ist.
Mit einer Trauerfeier haben die Lehrer am Montag ihres Schülers gedacht. Schulleiter Funke sagte, „wir trauern tief bewegt“. Das Gedenken fand ohne Schüler statt. „Die Kinder sind nicht gewillt, öffentlich vor den Medien trauern“, sagte Funke. Zuvor hatten Schüler allerdings Blumen für das 16-jährige Opfer nieder gelegt. Tiefe Stille herrscht um das Schulhaus herum. Nur selten lassen sich Schüler oder Lehrer vor dem Gebäude blicken, wo noch immer die Kameras von Fernsehteams auf sie warten.
Eine lückenlose Aufklärung der Ereignisse verlangt Wolfens Oberbürgermeisterin Petra Wust (parteilos). An Wolfen solle nicht der Makel hängen bleiben, eine Gewalthochburg zu sein. „Das wäre völliger Quatsch. Die soziale Situation hier ist wie an anderen Städten Ostdeutschlands auch“, sagt Wust. Sie räumt allerdings ein, dass die Zahl der Einwohner von ehemals 45000 auf 26000 geschrumpft sei. „Wir haben den höchsten Leerstand in ganz Deutschland.“
Fundstück aus dem Tagesspiegel
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