Donnerstag, 27. März 2014

Das große Fressen in der Internetwelt

Palmer Luckey war 18 Jahre alt, als er die Idee hatte, eine speziell für Computerspiele geeignete 3D-Brille zu bauen. Mit 19 hatte er den Prototyp fertig, mit 20 sammelte seine Firma Oculus VR im Internet mehr als 2,5 Millionen Dollar für die Weiterentwicklung ein. Inzwischen ist Luckey 21 und Milliardär: Gestern verkündete der Social-Media-Konzern Facebook, dass er die Entwicklerfirma hinter der „Oculus Rift“ genannten Computerbrille für 2,3 Milliarden Dollar (1,7 Milliarden Euro) übernehmen werde.

Es ist die jüngste Drehung einer Übernahmespirale in der virtuellen Welt, die sich vom Tiefpunkt der Finanzkrise vor fünf Jahren an unablässig beschleunigt hat. Vor einem Monat erst legte Facebook-Gründer Marc Zuckerberg für die mobile Kommunikations-App „WhatsApp“ 19 Milliarden Dollar hin. Schon vor dem Börsengang, der dem größten Sozial-Netzwerk der Welt neue Finanzierungsmöglichkeiten erschloss, wurde für eine Milliarde Dollar der Fotodienst Instagram übernommen.

Aber auch die Konkurrenz schläft nicht. Der Suchmaschinengigant Google brachte es zuletzt auf Firmenkäufe im Wert von mehr als 17 Milliarden Dollar. Neben kleineren Akquisitionen wie dem Kauf von DeepMind, einem Spezialisten für künstliche Intelligenz, machten vor allem die Übernahmen des Thermostatherstellers Nest für 3,2 Milliarden Dollar und der Roboter-Schmiede Boston Dynamics für 1,2 Milliarden Schlagzeilen. Apple stand dem kaum nach, der Mega-Konzern aus Cupertino kaufte 15 Firmen, darunter kleine Startup-Firmen, aber auch etablierte 3D-Sensor-Entwickler wie die israelische Firma „PrimeSense“. Und auch Amazon, Yahoo und Ebay, die anderen Netzgiganten, kauften Empfehlungsseiten, Foto-Apps, App-Entwickler, Forschungs-Start-Ups und mit PhiSix Fashion Labs legte sich Ebay sogar einen Anbieter von virtueller Mode zu.

Es ist ein Wettlauf um die aussichtsreichsten Ideen, der Männer wie Palmer Luckey, der noch keine einzige seiner Spiele-Brillen wirklich verkauft hat, oder WhatsApp-Mitgründer Jan Koum, dessen Firma bis heute keinen einzigen Dollar verdient hat, über Nacht unfassbar reich macht. Doch so obszön die Summen scheinen, mit denen die zumeist noch keine 20 Jahre alten Riesen dank sprudelnder Einnahmen in ihren Kerngeschäften um sich werfen, so klar ist das Kalkül, mit dem sie Hightech shoppen gehen. Besser heute unverschämt teuer kaufen, als morgen noch viel mehr bezahlen. Oder gar - noch schlimmer - zuschauen müssen, wie ein Wettbewerber mit einer App, einer neuen Smartphone-Uhr oder einer intelligenten Brille einen Verkaufshit landet.

Die Geschichte gibt denen im Silicon Valley recht, die lieber einmal mehr zuschlagen, auch wenn die meisten übernommenen Firmen die in sie gesetzten Erwartungen nicht rechtfertigen. Als Google vor acht Jahren 1,6 Milliarden Dollar für die vom ehemaligen Merseburger Jawed Karim mitentwickelte Videoplattform Youtube zahlte, waren die Zweifel am Sinn der Transaktion groß. Inzwischen spielt Youtube Google rund zwei Milliarden Werbedollar ein - pro Jahr.

Wer solch sprudelnde Geldquellen hat wie sie auch Apple mit seinem iPhone und Facebook mit seinen zuletzt explodierten Werbeeinnahmen besitzen, kann sich Experimente aller Art und zu fast jedem Preis leisten. Apples Einkaufszettel etwa umfasste im letzten Jahr Chiphersteller und Adressdatenhändler, Routenplaner und einen Auswertedienst für Twitter-Einträge. Google, in den vergangenen zwölf Monaten größter Firmenkäufer der Welt, ist gerade dabei, eine Datenbrille namens Google Glass für den Alltagsgebrauch und selbstfahrende Autos zu entwickeln. Facebook wiederum leistete sich zuletzt unter anderem Firmen, die Online-Gespräche über Sport analysieren, an Gesichtserkennung forschen oder automatische Übersetzungsdienste anbieten.

Das alles folgt keinem anderen großen Plan außer dem, vorn dabei zu bleiben, wo aus den Ideen junger Tüftler wie Palmer Luckey eine Zukunft gebaut wird, von der niemand weiß, wie sie aussehen wird.

Er habe Facebooks Angebot anfangs skeptisch gesehen, schreibt Luckey bei Facebook, dann aber sei ihm klargeworden, dass eine Partnerschaft nicht nur sinnvoll sei, sondern „der beste Weg, virtuelle Realität für jeden möglich zu machen“. Dass die Überriesen aus der Netzwelt mit jeder Mahlzeit mächtiger und ihren Nutzern damit immer unsympathischer werden, können Google, Facebook und Co. offenbar verkraften: WhatsApp zum Beispiel ist nach der Übernahme durch Facebook, die von Protesten begleitet war, im selben Tempo weitergewachsen wie zuvor.

Montag, 24. März 2014

Twix heißt wieder Raider - alles geht immer weiter

Er gehörte zum Ersten, was sich Ostdeutsche nach dem Mauerfall an westdeutscher Konsumkultur gönnten - und er gehörte auch zum Ersten, was ihnen wieder weggenommen wurde. "Raider - der Pausensnack", jedem DDR-Bürger aus dem Reklameblock im Westfernsehen bekannt, war kurz nach dem ersten Kauf plötzlich verschwunden. Raider heiße jetzt Twix, sonst aber ändere sich nix, versprach der Hersteller Mars.

Kein Marketing-Gag, sondern Vorbote der nach dem Ende des Kalten Krieges rasant an Geschwindigkeit gewinnenden Globalisierung. In Großbritannien, wo der Riegel aus Keks, Karamell und Milchschokolade bereits 1967 eingeführt worden war, trug er - inspiriert von der Bauart mit zwei Keksen - auf Englisch "twin bisquits" - von Anfang an den Namen Twix, auch in den USA blieb Mars zur Einführung 1979 bei diesem Namen. "Raider", ins Deutsche übersetzt so viel wie "Plünderer", kam nur in Deutschland und Österreich zum Zuge.

Nach der Harmonisierung des deutschen Namens blieb die Erinnerung an die frühere Benennung als geflügeltes Wort. Raider war nun zwar Twix, aber auch nach zwei Jahrzehnten weiß jeder, dass Twix früher Raider hieß. Ein Umstand, den sich die deutsche Tochter der Mars Inc. aus dem US-Bundesstaat Virginia jetzt zunutze macht: Auf einmal liegen im Süßwarenregal wieder richtige Raider-Riegel. Rote Schrift auf goldenem Papier, ein Stück 1990, das in sozialen Netzwerken für einen begeisterten Aufschrei sorgt. Raider ist zurück, feierten tausende Tweets und Facebook-Postings das vermeintliche Comeback eines Teils ihrer Kindheit und Jugend. Das nur ein Marketing-Ggag war, sonst nix: Schon wenige Tage danach wird aus Raider wieder Twix. Sonst nix.

Dienstag, 18. März 2014

Roger Willemsen über den Bundestag: Im hohlen Haus

Ein Experiment mit ungewissem Ausgang, ein Wagnis ohne Wiederkehr und ein Risiko für den eigenen Ruf - das etwa ist es, was den Schriftsteller, Fernsehmoderator und Grimme-Preisträger Roger Willemsen gereizt haben muss. Gereizt an einer Idee, die spannend klingt wie das Geräusch, das die Seiten einer eingestaubten Akte beim Umblättern machen. Wie wäre es denn, fragte sich der 59-jährige Germanist und Philosoph, würde man sich einfach mal für ein Jahr, ein ganzes Jahr, auf die Besuchertribüne des Reichstages setzen und aufschreiben, was so zu sehen und zu hören ist während der Parlamentsdebatten.

Einfacher gedacht als gemacht. Er habe unglaubliche bürokratische Hürden überwinden müssen, um die Genehmigung zu bekommen, wirklich an jedem Sitzungstag im Hohen Haus durchweg zugegen sein zu dürfen, beschreibt Willemsen, der sich in seinen Büchern zuletzt eher mit außenpolitischen Fragen wie die Lage in Afghanistan beschäftigt hatte. Komisch. "Es ist mein Parlament, dachte ich, es verhandelt meine Sache, wird von mir bezahlt", sinniert er, "warum sollte ich es nicht besuchen können, so oft und so lange ich möchte?"

Vielleicht, weil die Dinge anders sind als sie aussehen. Vielleicht, weil auch Institutionen es nicht mögen, wenn ihnen jemand permanent hinterherspitzelt wie die NSA der Kanzlerin. Nicht, dass der Bundestag etwas zu verbergen hätte. Als Roger Willemsen pünktlich zum ersten Beratungstag bereit steht, versehen mit einem Zugangsausweis, den er nun jede Woche wird erneuern müssen, breitet sich vor ihm der Alltag eines Parlamentsbetriebes aus, vor dem ein weniger begnadeter Schreiber hätte kapitulieren müssen. Das Herz der deutschen Demokratie, auf das Willemsen von der Tribüne herabschaut, entpuppt sich als ein allzuoft hohl dröhnender Baukörper, in dem sich die "Organe von Monologikern und der Chor der Jasager" auf eine Art überlagern, dass "man immer gleich weiß, wie die Erregungskurve im Saal ist".

Lau zumeist, wie der Autor bemerkt. "Ich hatte mich darauf eingestellt, eine Institution im Verblassen ihrer Bedeutung zu erleben", gesteht er. Im Krisenmodus sitzt die Exekutive am längeren Hebel: Wo Alternativlosigkeit regiert, braucht es keinen Meinungsstreit mehr, nur Handeln. Und im Erfolgsfall ist die nachträgliche Zustimmung reine Formsache.

Doch was dann im Plenarsaal auf den wortgewaltigen Protokollanten wartet, ist eine Mischung aus Rederoutine, Improvisationstheater und einigen großen wie seltenen Momenten, in denen die Parlamentarier ohne Masken voreinanderstehen und ohne Kalkül debattieren wie einst, als, so Willemsen, das Parlament noch der Raum war, in dem "Handeln durch Sprechen simuliert oder vollzogen wurde".

Lange her. Heute diene das Parlament nicht mehr dem Meinungsstreit, sondern der "Veröffentlichung von Politik", befindet er. Positionen werden gegeneinandergestellt, doch oft hört ein Redner dem nächsten nicht mal mehr zu. Doch nein, faul seien sie nicht, die Abgeordneten, denen das mit Blick auf den meist mehr leeren als vollen Sitzungssaal gern vorgeworfen wird. "Sie sind mit Verpflichtungen so befrachtet, dass sie oft bis an die Grenze der Belastbarkeit arbeiten." 1 000 Seiten zu diesem, 1 000 zu jenem. Abstimmen, Themenwechsel. Lesen. 1 000 Seiten. Abstimmen. Alles und immer aus einer Position nahe der Überforderung. Willemsen verurteilt nicht, er ordnet ein. Die Baugeschichte in die des Grundgesetzes, den Tagesschaubericht in das erlebte Plattitüdenbombardement einer Mammutsitzung. Und die eigenen, dezidiert linken Ansichten zu Armut und Rüstungsexporten in einen weiteren Blickwinkel, der nicht der eines emotionslosen Beobachters, sondern der eines Beurteilers ist.

Ein "Buch aus Bürger-Perspektive" nennt Willemsen seine 400 Seiten, wobei er zugesteht, dass er in seinem Jahr im Parlament Vorurteile in Sachen Arbeitsbelastung und Sachverstand gegenüber den Abgeordneten korrigieren musste. Dass "Das Hohe Haus" dennoch kein fröhliches, sondern ein überaus kritisches, in Teilen galliges Buch geworden ist, sieht er am Ende im Licht seiner Erfahrungen: "Keine Kritik kann härter sein als jene, mit der die Parlamentarier einander überziehen."