Morgens drängten sich die Menschen auf dem rechten Bahnsteig. Links fuhr nur eine S-Bahn ab, die kaum besetzt Kurs auf Nietleben nahm. Rechts aber donnerte um kurz nach sechs der Personenzug Richtung Buna-Werk herein. Halle-Neustadt, Tunnelbahnhof, mitten in der Woche, mitten in den 80er Jahren. Ein paar hundert letzte Züge an der F6 oder Karo, während die Bremsen kreischen.
Ein paar hundert erste Schritte zur Waggontür, ein paar hundert kurze gemurmelte Grüße im Wagen. Und schon im Anfahren sind ein paar hundert Augen geschlossen; zehn, fünfzehn Minuten lang, ehe die Bahn ihre Menschenlast am Hintereingang des VEB Chemische Werke Buna wieder ausspukt. Die vom Volksmund „Pelzerzüge“ getauften Pendelbahnen zwischen der Chemiearbeiterstadt Halle-Neustadt und den Fabriken in Buna und Leuna ratterten im Schichtrhythmus hin- und zurück.
Wer in die ersten Züge stieg, war Wechselschichter in Produktionsanlagen wie Karbid oder Aldehyd. In dem danach folgten Büro-Angestellte und das Instandhaltungspersonal. Und im so genannten Mutti-Zug schließlich saßen die, die ihren Nachwuchs vor der Arbeit erst noch hatten in den Kindergarten bringen müssen. Rolf Beilschmidt ist die Strecke zwölf Jahre lang gefahren. „Jeden Morgen hin, jeden Abend zurück“, erinnert er sich, „und immer im selben Wagen, immer mit denselben Kollegen.“
Beilschmidt saß im dritten Waggon, zweite Sitzgruppe, rechte Seite, und er wusste auf dem 200 Meter langen Tunnelbahnsteig genau, wo er stehen musste, damit die Waggontür sich exakt vor ihm öffnete. Schon auf dem Weg zum Bahnhof traf der Schlosser stets einen Kollegen, auf dem Bahnsteig dann einen weiteren. Der vierte Mann stieß eine Minute später beim Halt am Neustädter Kinderdorf dazu. Da waren die Skatkarten meist schon ausgeteilt. „Wir haben bis Buna gespielt“, erzählt Rolf Beilschmidt, „und wenn die Runde nicht ganz fertig wurde, ging es nachmittags auf der Rückfahrt weiter.“
Die Zuggesellschaften auf der Pelzerlinie waren spätestens Mitte der 80er zu einem mikroskopischen Spiegelbild der DDR-Gesellschaft geworden. Die Räder drehten sich noch. Doch es bewegte sich nichts mehr.
Morgens roch es muffig, nach kaltem Qualm und billiger Seife. Die Heizungen in den schmutzigen Waggons waren immer bis zum Anschlag aufgedreht, die Fensterplätze sämtlichst wie mit unsichtbaren Namensschildern versehen. Graue Gesichter hinter ungeputzten Scheiben, auf denen in Schläfenhöhe Fettflecke von den Köpfen glänzten, die sich im so genannten Schicht-Schlaf dagegengekuschelt hatten. Abteilungsleiter und Funktionär, Lehrling und Ingenieur, Monteur und Sekretärin – bei jedem Wetter duckten sich alle vor dem Sturm, der durch den finsteren Tunnelbahnhof blies.
Zwanzig Minuten später dann schwankte die Brücke, die in Buna über die Gleise zum Werktor führt, unter dem Gleichschritt der im Morgengrauen herantappernden Massen. Pelzerzüge hatten die Gemütlichkeit von Mitropa-Toiletten. Die Farbe blätterte, der Boden klebte. Am Nachmittag kreisten unter Skatbrüdern und Werkstattkollegen zärtlich „Rohre“ genannte Flaschen mit Korn und Braunem. Die Skatkarten klatschten auf Aktentaschen, „Karo“ und „Neue Juwel“ qualmten. Fand ein echter Pelzer seinen persönlichen, über Jahre eingesessenen Platz im Zug nach dem Einsteigen besetzt, reichte ein Kopfnicken, um ahnungslose Schüler, die in ihren „Unterrichtstagen in der Produktion“ zum ersten Mal hineinschnupperten in die DDR-Volkswirtschaft, zurück in den Gang zu treiben.
Der Tod der Zweckbahn, für die selbst eingeschworene Eisenbahn-Romantiker kaum Gefühle zu entwickeln vermochten, kam in Raten. Mit der Wende stiegen zahllose Passagiere auf das eigene Auto um. Mit dem Schrumpfen der Werke mussten noch mehr gar nicht mehr nach Buna fahren. Der längste Regionalbahnsteig der Republik leerte sich. Die Wände des düsteren Tunnels füllten sich mit greller Grafitti.
Der Neustädter Bahnhof, ursprünglich als architektonisches Achtungszeichen aus Aluminium und Glas entworfen und mitten in das nie beendete Zentrum der ersten sozialistischen Stadt gestellt, verrümpelte. Das „Schiene“ gerufene Lokal, das nach Einfahrt der Bunazüge einst täglich zur dritten Schicht geladen hatte, machte zu. Später scheiterte ein halbherziger Versuch, das Gebäude zur Kulturinsel zu machen. Das Haus wurde ausgeräumt, abgesperrt und zugenagelt. Inzwischen ist vom belebtesten Bahnsteig der größten Stadt im Land nur eine leere Endzeit-Kulisse geblieben.
Ein paar Trinker lagern schon vormittags verloren am Eingang, eine Handvoll Menschen wartet im Tunnel auf die S-Bahn. Die Bahnhofstreppe hinaus ins Freie, die der Maler Uwe Pfeifer Anfang der 80er als Tür zum Himmel porträtierte, ist videoüberwacht. Dennoch hat kein Fenster mehr eine Scheibe, der Blumenladen ist verrammelt, der halbe Bahnsteig hinter einer Blechwand versteckt.
Die Zeiger der Bahnhofsuhr haben um 17 Minuten vor zwölf für immer Halt gemacht.
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