Dienstag, 3. November 2015

Steil nach oben zum Olymp


Die Besteigung des geheimnisvollen Olymp ist erst lockere Wanderung und wird dann zu einem echten Kletterabenteuer: Fast senkrecht geht es hinauf zum Thron der Götter.

Leicht vorstellbar, warum Göttervater Zeus sich ausgerechnet dieses Bergmassiv als Wohnsitz ausgesucht hat. Nicht so besonders hoch, nicht so besonders kalt und auch nicht so weit weg vom Strand des strahlend blauen Mittelmeers. Und doch weit oben, fast ständig umweht von undurchdringlichen Wolkenfahnen. Der Olymp, der eigentlich kein Berg ist, sondern ein ganzes Gebirge, versteckt seine Gipfel Mytikas (2 918 Meter), Skolio (2 911 m), Stefani (2 909 und Skala (2 866 m) vor den Augen der Menschen.

Die aber nun genau das erst recht neugierig macht. Wie einst der Held Odysseus, der sich am Mast festbinden ließ, um die Sirenen selbst zu hören, kommen Trekker und Wanderer heute zu Hunderten, um hinaufzusteigen zum Thron des höchsten Griechengottes, in dessen Nähe auch Poseidon, Hera, Apollon, Athene und etliche andere Götter wohnen sollen.

Es ist eine Wanderung, die mit Anlauf quer durch die Geschichte führt, bevor sie schweißüberströmt in abgelegene Bergregionen steigt, in denen einzigartige Orchideenarten, Panzerkiefern und Hornkräuter wachsen, wie Reiseleiter Archelaos Biehler beschreibt. Und die danach mit einem gemütlichen Spaziergang entlang der aufgegebenen alten Bahnlinie der griechischen Staatsbahn OSE zwischen Thessaloniki und Athen endet. Zehn Meter neben dem zugewucherten Gleis schlagen die Wellen an einen einsamen Strand.

Griechenland ist im Jahr fünf der großen Krise ganz anders als erwartet. Thessaloniki, Ausgangspunkt für alle Wandertouren zum Olymp, ist eine Stadt, die vor Leben vibriert. Kneipen und Bars sind voll, elektronische Musik donnert nächtelang durch eine Innenstadt, die kein Atemholen kennt. Tausende junger Leute schieben sich von Theke zu Theke, es spielen Bands, es locken Ausstellungen und Festivals. 80 000 bis 100 000 Studenten leben hier in einem Ballungsraum, den rund eine Million Menschen bevölkert. "Es gibt niemanden unter 30, der nicht Riesenschulden schleppt", sagt Archelaos Biehler, der Physik studiert und seit drei Jahren für den deutschen Reiseveranstalter Hauser arbeitet. Aber, sagen sie hier, man könne sich ja deswegen nicht das Leben nehmen.

Es muss weitergehen und es geht ja auch immer weiter, trotz Sparpaket und Wahlen und Protesten. Die Griechen, die sich hier oben im Norden des Landes als Erben des großen Makedoniers Alexander des Großen sehen, sind stolz auf ihren neuen und alten Ministerpräsidenten Alexis Tsipras. Der habe Europa die Faust gezeigt, auch wenn er sie anschließend doch wieder zum Handschlag ausstrecken musste, beschreibt ein Mann in einem Café in Thessaloniki die Lage aus seiner Sicht. Das sei immerhin gut gewesen für die Würde der Griechen, die vorher "komplett kaputt" gewesen sei. "Der Sommer war hart und die Saison ganz kurz und schlecht", erzählt der Wirt der Cafeteria Caravel im Hafenstädtchen Glifa, "erst die Finanzkrise, dann die Flüchtlinge". Aber jetzt werde bestimmt bald alles besser.

Oben in den Meteora-Klöstern, im Pindos-Gebirge in der Nähe der Stadt Kalambaka, wird schon wieder gebaut, mit EU-Mitteln, wenn auch nicht zur Freude von Klosterexpertin Penoglou Pinelopi, die entschuldigend mit den Achseln zuckt. Ein ganzes Stück Berg haben sie abgetragen am Kloster Metamórphosis, einer vor Jahrhunderten von Mönchen atemberaubend auf eine 600 Meter hohe Felsspitze gesetzten Burg, trotz Unesco-Welterbestatus. "Sie wollen das Klostermuseum vergrößern", erklärt Pinelopi. Das ist allerdings auch bitter nötig, denn auf den Straßen zu den sechs noch bewohnten und besichtigungsbereiten von insgesamt 24 großen und kleinen christlichen Krähennestern stauen sich Touristenbusse vor allem aus den orthodoxen Bruderländern Serbien und Russland.

Wie still ist es dagegen im Enipeas-Canyon, der direkt in den Olympus-Nationalpark führt. Hinter dem Örtchen Litochoro öffnet sich das Bergmassiv zu einer langen Schlucht, die neben einem malerischen Flusslauf gemächlich ansteigt. Vier Stunden dauert die Wanderung durch den Canyon, in dem der mythische Sänger Orpheus einst von rasenden Frauen zerrissen worden sein soll. Mittendrin beginnt es aus Kannen zu gießen. Griechenland im Spätsommer, auch das anders als gedacht.

Das im II. Weltkrieg von deutschen Truppen zerstörte Kloster Agios Dionysios ist heute unerreichbar. Dafür klart es in den Tagen darauf wieder auf. Vom Parkplatz in Prionia auf 1 100 Metern Höhe geht es nun zur Spilios-Agapitos-Hütte, von der aus früh am Morgen der Gipfelsturm beginnt.

800 Höhenmeter durch spärlicher werdende Vegetation. Geröll liegt auf blankem Fels. Der Weg ist schmal und ein streunender Hund schließt sich der Wandergruppe schwanzwedelnd an. Es geht aufwärts, an Steinpyramiden vorbei über abfallende Hänge. Hinter einer Biegung dann die Himmelsleiter, ein Felseinschnitt, der fast senkrecht hinaufführt zu Zeus' Thron. Ohne den bergkundigen Archelaos Biehler wäre die Gruppe vermutlich vorbeigestiefelt. So aber geht es angeseilt und mit Berghelm steil nach oben, auf Händen und Knien, durch Wolkenfetzen in den blauen Himmel hinein. Nur einen Moment bleibt auf dem Gipfel Zeit, den Schweiß abzuwischen und ein Foto zu machen. Dann möchte der Göttervater wieder seine Ruhe haben.

Weitere Informationen:
www.hauser-exkursionen.de
www.griechenland-wanderungen.de


Mittwoch, 28. Oktober 2015

Korrektur: Lincoln oder Washington, Hauptsache ich

"Washington in Washington. Und ich", schreibt Renate Künast unter ein Foto, das die Bundestagsvizepräsidentin vorm Denkmal von Abraham Lincoln zeigt. Und wo ist dieser Washington?

Madrid oder Mailand, Hauptsache Italien, Lincoln oder Washington, Hauptsache Künast.

Montag, 26. Oktober 2015

Neubau in China: Eine Chance für Magdeburg

In China wird ein Stückchen Hannover nachgebaut, weil es so schön ist. Andere Städte könnten nachziehen - darunter auch die Hauptstadt Sachsen-Anhalts.

Dass Chinesen süße Bratwurst essen, Fisch am Tisch kochen und bei Sonnenschein am liebsten mit Schirm und Handschuhen aus dem Haus gehen, kann man seltsam finden. Doch was die Stadtväter der Sechs-Millionen-Metropole Changde jetzt ausbaldowert haben, mutet denn doch ein wenig bizarr an: Um ausländische Investoren und Touristen anzulocken, wie es offiziell heißt, soll auf zwei Hektar Fläche direkt am Yuanjiang-River die Innenstadt von Hannover nachgebaut werden.

Ja, Hannover. Geplant sind eine Fußgängerzone, die „Hannoversche Straße“ heißen wird, dazu ein „Leibniz-Platz“ und ein „Bahlsen-Platz“, wie Bauleiter Chiyang Peng über das 370-Millionen-Euro-Projekt verriet. Gebaut wird aus Fertigteilen, aber mit spitzen Giebeln, bunten Fassaden und engen Gassen. Einziehen soll später ein Mix aus feinen Hotels, Edel-Boutiquen, Modehäusern und Genießerlokalen. Ein Hannover eben, wie es noch niemand kennt, weil jeder bei dem Namen natürlich nur die triste Schnellbaustadt an der Leine vor Augen hat.

Die chinesische Idee eines verbesserten, ja, schönen Hannovers im Reich der Mitte hat aber gerade deshalb Potenzial für unsere Region. Auch Magdeburg, städtebaulich mit demselben Schicksal unsichtbarer Schönheit geschlagen wie die niedersächsische Landeshauptstadt, hat eine Partnerstadt in China. Idee aus Halle: Dort, in Harbin, könnte demnächst ein neues, hübsches Magdeburg entstehen!

Dienstag, 20. Oktober 2015

Ronald M. Schernikau: Deutsch­land in der Brat­pfanne

Vor 24 Jahren starb der Literatur-Exot Ronald M. Schernikau - nicht ohne zuvor sein großes, rätselhaftes Büchersammelwerk "legende" fertiggestellt zu haben.

Ganz am Ende tritt er dem Leser selbst entgegen. Ronald M. Schernikau, hasenzahnig lächelnd, die Brille im Gesicht groß wie eine Schaufensterscheibe, mit schulterlangem Hippie-Haar und einem Seidentuch um den Hals. Schernikau sieht harmlos aus - doch wer es bis hierher geschafft hat, auf Seite 836 seines Monumentalwerkes "legende", der weiß: Der Kerl ist alles, nur nicht das.

Allein die Geschichte des Buches spricht Bände. 1983, zwei Jahre nach seinem ersten kleineren literarischen Erfolg mit der Coming-Out-Geschichte "Kleinstadtnovelle", begann der damals 23-Jährige mit der Arbeit an seinem Hauptwerk. Fertig gestellt hat er es im Jahre 1991, gerade eben noch rechtzeitig vor seinem frühen Tod. Erschienen ist es erst jetzt, denn lange fand sich kein Verlag, der das überaus anspruchsvolle Buchbrikett veröffentlichen wollte.

Selber schuld, Schernikau. Hartnäckig hatte sich der gebürtige Magdeburger zum Sonderling des deutschen Literaturbetriebes stilisiert: Nachdem seine Eltern 1966 nach Lehrte bei Hannover umgezogen waren, trauert das "Kind, das lieber lacht als Spaß hat" (Sch. über Sch.) der verlorenen Heimat DDR nach. Ohne nachzulassen tut er das und schafft es schließlich wirklich, 1986 die Zulassung für ein Studium am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig zu bekommen.

Seinen Kommilitonen muss Schernikau vorgekommen sein wie ein Wesen von einem anderen Stern: Ein Wessi, der für den Kommunismus glüht, ein Wohlstandsbürger, der die Mangelwirtschaft als Erlösung vom Konsumterror feiert. Am ersten September 1989 ist Schernikau am Ziel seiner Wünsche, als die untergehende DDR seinem Antrag auf Erteilung der Staatsbürgerschaft zustimmt.

Ein komischer Kauz, unbrauchbar für jede moderne Vermarktung. Acht Jahre immerhin benötigte Thomas Keck, Schernikaus Lebensgefährte und Erbe, um aus dem Buchprojekt ein Buch zu machen. Schriftsteller wie Elfriede Jelinek, Matthias Frings und Peter Hacks, die für 135 Mark jeweils ein Exemplar der Erstausgabe vorbestellten, konnte der kleine Dresdner Goldenbogen-Verlag die Finanzierung der regulären Auflage absichern, die für 65 Mark in den Handel kommt. Dafür wird allerdings eine Menge geboten. "Sie müssen bedenken", entschuldigt der eigensinnige Poet eingangs seine nachfolgende Jagd durch Zeiten, Stile und Zitate, "dass ich gezwungen war, mein Spätwerk schon in meinen Dreißigern zu schreiben." Schernikau, bekennender Schwuler, war an Aids erkrankt und wusste recht zuverlässig, dass er nach "legende" nichts weiter mehr würde schreiben können.

Folglich hat er alles zwischen diese beiden schwarzen Leinenrücken gepresst: Neun Bücher, aufgeteilt in durchnumerierte Kapitel mit Namen wie "Beruf Eros Ramazotti", "Hüter der Kugelvase" oder "Der Neffe von Ulla", allesamt von wunderlicher Gestalt und rätselhaftem Inhalt. Deutlich wird nur wenig. Etwa, dass im Zentrum der Schernikauschen Legende eine Stadt steht wie das einstige Westberlin, in dem der Dichter lange lebte. "wie das eigelb im spiegelei liegt die insel mitten im land. wie das spiegelei in der bratpfanne liegt das land in der welt", beschreibt er, praktisch und pathetisch zugleich, die Insel, die den Schauplatz abgibt für eine Handlung, die irgendwo zwischen Arno Schmidts "Kaff auch Mare Crisium" und "Ulysses" von James Joyce spielt.

Bei Ronald M. Schernikau treten eingangs vier Götter auf, die fifi, kafau, stino und tete heißen und beauftragt sind, des Schokoladenfabrikanten anton tattergreis' Nachfolger janfilip geldsack zu retten. Der ist angesichts seiner Allmacht traurig, weswegen er über die Heirat mit einer Kommunistin nachdenkt, um sich selbst auszulöschen. "Ich soll mich nicht mehr geben. es soll keinen mehr geben wie mich, niemals mehr."

Das lässt erahnen: Typografisch von Schernikau selbst sehr geschmackvoll gestaltet, ist "legende" nicht unbedingt eine unbeschwerte Strandlektüre. Hier ist Mitarbeit unabdingbar, gelegentliches Blättern Grundvoraussetzung zum Verständnis, das dennoch eingeschränkt bleibt. "legende" ist enigmatisch, Literatur in einem unbekannten Code. Unentwegt springt das Buch durch verschiedene Perspektiven, trotzig umkreist Schernikau seine Themen, sich näher und näher schiebend, um plötzlich unvermittelt abseits weiter zu plaudern.

Im richtigen Leben soll er schüchtern gewesen, aber hin und wieder trotzdem ein offenes Wort gewagt haben. Zur falschen Zeit an der falschen Stelle meist - etwa in der Endphase des Untergangs der DDR, als er seine ostdeutschen Schriftsteller-Kollegen in flammenden Worten vor dem "Maß an Unterwerfung" warnte, das "der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt".

Ausgelacht ist er worden, aufgegeben hat er nicht. Hier kommt dieselbe Botschaft, vielfach verpackt in Szenen, Verse, Miniaturen. Ein Buch wie ein Steinbruch, der rote Faden sorgfältig versteckt unter Geröll und Versschutt. Schernikau erzählt von seinem eigenen Tod, von der Weltrevolution, vom Haareschneiden und vom Ficken in der Parktoilette. Mal wird es beim Er-zählen ein Gedicht, mal etwas wie ein Essay, dann wieder ein dahinwabernder Monolog: "ich möchte ich möchte ich möchte paar locken Dich ein känguruh möcht ich weil ich hab' Dich lieb ja du da Dich".

Ja, Sprachkraft hat Schernikau und Frechheit, doch sein Ehrgeiz, die letzten Dinge zu sagen und sein Hang, ein Monument zu bauen und allen Lächlern und Zweiflern von ganz oben aus dem Wolkenkuckucksheim die Zähne zu zeigen, stehen dem Lektüre-Genuss entgegen. Brüche und Rückblenden zerren die an die Bibel erinnernde "legende" durch den Zerhacker, immer wieder geht die Formulierungsfreude dem Autor durch, bis kein Wort mehr etwas bedeutet.

Was dem Poeten selbst nicht entgangen ist. "schon an dieser stelle die erste rückblende, um den leser auf die übergroße komplitesse des erzählwerks vorsichtig vorzubereiten", schreibt er irgendwo zwischendurch, wo vermutlich schon kein Leser mehr hinkommen wird. Wie Sysiphus hat Schernikau an diesem Monstrum von einem Buch gearbeitet, größenwahnsinnig, selbstverliebt und brillant, besessen von der Aufgabe, mit Worten die Welt zu verändern. "Der Kommunismus wird siegen werden", heißt es zum bitteren Finale. Die Insel wird anschließend offiziell zum Friedhof erklärt und aus der Luft geweiht. 


Kein Schlussakkord, ein Fadeout.

Und heute ein Triumph: Bei Amazon ist die "legende" derzeit zwar zu bekommen. Für 280 Euro.

Ronald M. Schernikau: "legende", verlag ddp goldenbogen, Dresden 1999, 845 Seiten, ursprünglich 32,50 Euro