Sonntag, 1. Oktober 2017

Freddie Mercury: Wiedergeboren in Vincenza



Als Freddie Mercury im Jahr 1991 in London starb, zumindest für seine Fans plötzlich und unerwartet, wurde im italienischen Vincenza Giuseppe Malinconico geboren. Ein Zufall nur, natürlich. Aber wenn Malinconico heute mit seiner Band Break Free auf der Bühne steht, dann ist der Italiener mehr als einer der unzähligen anderen Sänger, die sich mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg mühen, so auszusehen und zu klingen wie Farrokh Bulsara alias Freddie Mercury, zu Lebzeiten einer der besten wenn nicht, alles in allem der beste Sänger aller Rockbands.

Giuseppe Malinconico ist Freddie Mercury. Er geht so. Er steht so. Er trägt die gelbe Uniformjacke. Den Schnauzer. Das Unterhemd. Und er singt so. Zusammen mit Drummer Kim Marino, Bassist Sebastiano Zanotta und Gitarrist Paul Brigante übertrifft die Queen-Show der vier Italiener sogar das, was Brian May und Roger Taylor gerade als großen Queen-Film "Bohemian Rhapsody" mit Rami Malek in der Titelrolle inszenieren.

Bis ins Detail stimmt, was und wie Malinconico singt und spielt. Der 26-Jährige, ein kleiner Mann, der im Gespräch sehr bescheiden wirkt, macht aus den unsterblichen Queen-Hymnen kein Karaoke-Festival mit Blitz und Donner wie andere Queen-Cover-Formationen. Er klingt bis in die Stimmfärbung und ins Timbre wie das große Vorbild, dessen Lieder er schon mit fünf Jahren nachsang - zu einer Zeit also, als Queen für Hitparaden und Hipster kein Thema war.

Inzwischen ist das wieder anders. „Ich will kein Rockstar sein“, hat Mercury einmal gesagt, „ich will eine Legende werden!“ Bands wie Break Free zeigen, dass er es geschafft hat. Die von der ernsthaften Rock-Kritik selbst in den Tagen ihrer größten Erfolge nie anerkannte Band mit ihrem hedonistischen Sänger ist aufgerückt in die Ahnengalerie der Gegenkultur. Beatles, Stones, Led Zeppelin, Queen. Mercury, der von sich sagte „Exzess ist Teil meiner Natur. Langeweile ist eine Krankheit“, wäre stolz auf sich.

Und auf Giuseppe Malinconico, der mit Break Free nicht nur nachmacht, was Queen vorgegeben haben, sondern mit einem sinfonischen Queen-Programm sogar dorthin gehen, wo die echten Queen nie gewesen sind.

Mittwoch, 20. September 2017

Bundestagswahlkampf: Parolen am Rande der Wählerbeleidigung

Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird Karamba Diaby am Ende sein Mandat verloren haben. Der Hallenser, der vor vier Jahren als erster schwarzer Bundestagsabgeordneter deutschlandweit Schlagzeilen machte, zahlt damit die Rechnung für einen SPD-Wahlkampf, der vom ersten Tag an unter keinem guten Stern stand. Katrin Budde, die Verliererin der Landtagswahl von 2016, bekam den zweiten Platz auf der Landesliste der SPD zugewiesen, augenscheinlich aus Dankbarkeit dafür, dass sie nach dem Wahldesaster vom März relativ schnell und still Platz für einen unvorbelasteten Nachfolger gemacht hatte.

Karamba Diaby aber kämpfte nicht einmal um Platz 2, der angesichts der Wahlergebnisse auch nur halbe Sicherheit für einen Wiedereinzug ins Parlament versprach. Stattdessen Parteidisziplin, weiter so, einfach mal hoffen.

Eine Strategie, mit der alle Bundestagsparteien am kommenden Sonntag noch einmal durchs Ziel gehen zu können hoffen. Als hätten sie alle vergessen, welchen fürchterlichen Denkzettel ihnen Sachsen-Anhalts Wähler vor anderthalb Jahren ausgestellt hatten, setzen sie durchweg erneut auf eine fast schon beleidigende Arroganz, für die ihre Wahlplakate exemplarisch stehen. "Erfolgreich", "sozial", "gerecht", "links, was sonst", "Kinder", "Zukunft, Fortschritt", "Kohle oder Klima", "es ist Zeit" und "Karamba", so und ähnlich steht es überall zu lesen.

Parolen am Rande der Wählerbeleidigung, nicht nur inhaltsleer, sondern peinlich bemüht, so etwas wie Inhalte gar nicht erst anzudeuten. Die Linke etwa plakatiert "Kinder vor Armut schützen", sagt aber nicht wie. Die FDP beklagt "Nichtstun ist kein Wirtschaftskonzept", verrät ihres aber auch nicht. Die Grünen ahnen: "Integration muss man umsetzen, nicht aussitzen". Die CDU in Halle schickt einen Christoph Bernstiel "für Sie in den Bundestag". Nicht, um dort irgendeine bestimmte Politik zu machen. Bei der SPD prangt Martin Schulz auf den Plakaten, die Zeile dazu lautet einfach nur "Martin Schulz". Die MLPD behauptet "Widerstand ist links". Und bildet dazu eine rechte Faust ab.


Es wirkt, als würden alle gerade so noch das tun, was sie tun, weil sie es eben tun müssen. Es gibt keine Leidenschaft, keinen Esprit, keine Überraschungen auf den Pappträgern, die für die meisten Wähler das einzig sichtbare Vorzeichen der Bundestagswahl sind. Was sie sehen, sind zwei-, drei- oder höchstens vierfarbige Plattitüden, ganze Straßenzüge tapeziert mit erdrückender Gedankenarmut und gestalterischer Einfalt. Überall prangen Schlagworte wie "Respekt", "Nähe", "Klima",  "Frieden" und Kinder", dazu gesellen sich austauschbare Slogans wie "der Treibstoff der Zukunft ist Mut" (FDP), "die Zukunft, für die wir kämpfen" (Linke), "die Zukunft braucht Ideen und einen, der sie durchsetzt" (SPD), "die Zukunft wird aus Mut gemacht" (Bündnis 90 Grüne) und "für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben" (CDU). In der Zukunft natürlich.

Vielleicht weil es sonst keiner tut, bescheinigt sich die linke Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht einfach selbst "Glaubwürdigkeit". Der FDP-Spitzenkandidat, stylisch ins Bild gesetzt von Rammstein-Fotograf und Eagles-Videoregisseur Olaf Heine, verspricht "digital first". Die AfD zitiert den Gregor Gysi von 1994: Wähln Sie uns. Traun Sie sich. Sieht ja keiner.

Geht überhaupt mehr weniger Inhalt? Die CDU zitiert das "Respekt" von den Linken-Plakaten und plakatiert auch "Respekt". Die AfD zitiert das "Kinder" der Linken.  Die SPD hält mit "Mehr Gerechtigkeit" dagegen. Den Begriff, den die Linke nach eigenen Angaben "glaubwürdig" verkörpert. Die CDU zeigt eine kaum noch wiedererkennbare Photoshop-Bearbeitung des Gesichtes der Kanzlerin. "Erfolgreich für Deutschland" steht daneben.

Es ist wie in dem Kinderspiel mit dem Gruselgesang. "Dreh' dich nicht um, denn der Plumpsack geht um! Wer sich umdreht oder lacht, kriegt den Buckel schwarz gemacht." Nur dass hier nicht der Plumpsack umgeht, sondern der alte Elefant von der Landtagswahl, von dem immer noch nicht gesprochen und dem auf Wahlplakaten schon gar nicht widersprochen werden darf.

Ganze Straßenzüge liegen so unter dem Parolengewitter einer einzigen Partei. Die will "Grenzen schützen", "keinen Familiennachzug", "keine Eurorettung um jeden Preis", "mehr Polizei", einen Stopp von Schulschließungen, Bikinis statt Burkas und zwei Dutzend anderer Sachen. Konkret. Einfach. Unmissverständlich. Unverwechselbar.

Und niemand stellt sich den Populisten, niemand widerspricht den einfachen Botschaften und versucht wenigstens, den Plumpsack zu entzaubern. Es wird schon noch mal so gehen. Ein blaues Auge lässt sich doch ertragen. Das vom letzten Jahr ist ja schon fast verheilt.




Donnerstag, 14. September 2017

Atomkrieg: Der stille Tod des Retters der Welt


Er lebte ohne großen Ruhm, er starb arm und völlig unbemerkt, bis jetzt, sechs Monate nach seinem Tod,
eine Traueranzeige eines deutschen Freundes das Ende des Mannes öffentlich machte, der die Welt am 26. September 1983 vor dem atomaren Untergang rettete.

Oberstleutnant Stanislaw Petrow erklärte selbst später, man habe ihn und seine Genossen auf Tempo gedrillt. "Dass jemand nachdachte, war in diesem System nicht vorgesehen." Petrow, der 77 Jahre alt wurde, war so gesehen ein Fehler im System, ein Mann am falschen Platz, ein Rädchen, das nicht funktionierte wie es funktionieren sollte. Petrow, das kaputte Teilchen, hat damit die ganze Welt vor einem atomaren Schlagabtausch bewahrt.

Es war der 26. September 1983, als der studierte Radioelektroniker Dienst als Chef in der Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung hatte. Oberstleutnant Petrow saß vor dem Vorwarnsystem, das sich melden sollte, wenn die USA versuchten, einen Erstschlag mit nuklearen Interkontinentalraketen auf die UdSSR auszuführen. Die programmierte Reaktion war klar: Noch ehe die US-Sprengköpfe einschlügen, sollte Petrow die eigenen Atomraketen der Sowjetunion starten.

Plötzlich heult schrill die Sirene auf. Signaltafeln informieren zudem, dass ein US-Raketenstart "höchste Glaubwürdigkeit" habe. Petrow mag das aus einem Gefühl heraus nicht glauben. Dreißig Minuten bleiben, bis das Geschoss einschlagen wird. Petrow denkt nach, unter Zeitdruck. Er glaubt nicht an den Angriff, für den aber doch alle Hinweise sprechen. Er meldet seinem Vorgesetzten: Fehlalarm.

Eine einsame Entscheidung, die den Erdball vor dem nuklearen Holocaust rettet, dem Retter aber Ärger einbringt. Weil seine Entscheidung richtig war, bleibt Petrow unbehelligt. Doch weil er während der Minuten, in denen er entschieden hatte, kein Protokoll führte, blieb eine Ordensverleihung aus. Obwohl sich später herausstellt, dass das Frühwarnsystem Sonnenreflexionen auf Wolken in der Nähe der Malmstrom Air Force Base in Montana für Raketenstarts gehalten hatte.

Was bleibt ist, was nicht geschehen ist: Ohne die heute weitgehend vergessene Tat des Offiziers der der sowjetischen Luftverteidigungsstreitkräfte läge Europa heute noch in Trümmern.



Dienstag, 12. September 2017

Wahlkampf 2017: Das große Missverständnis



Unten die SPD-Anhänger mit ihren "Jetzt-wirds-Schulz"-Pappen. Daneben die Wutbürger unter Plakaten, auf denen Thälmann zu sehen ist, von dem behauptet wird, er würde AfD wählen. Herbst 2017, Wahlkampf in Heutschland, der Außenminister im blauen Hemd und ohne Krawatte vor einem Publikum, das nicht einfach nur gespalten, sondern gedrittelt ist. Hier die Fans. Dort die Neutralen. Und ganz laut die Protestler, die keinen Auftritt eines Politikers der "Altparteien" auslassen. Aber in Halle in diesem Wahljahr im Grunde genommen nur Sigmar Gabriel bekommen.

Der ehemalige SPD-Chef, im Amt des Außenminister zu einer schlanken Ausgabe seiner selbst geschrumpft, die elder statesman-mäßige Souveränität ausstrahlt, macht es seinen Gegnern leicht, in ihm einen der verhassten abgehobenen Durchreisenden aus der Berliner Republik zu sehen. Ins Pfeifen und "Arbeiterverräter"-Rufen hinein belehrt der studierte Lehrer ersteinmal über Thälmann, den Nahverkehrsstreik in Preussen und die Kumpanei zwischen KPD und NSDAP, der seine Partei, seinerzeit "die letzte demokratische" (Gabriel) zum Opfer fiel.

Das kommt gut an, selbst bei den alten Genossen direkt vor der Bühne, die einst stolz das rote Halstuch trugen und nun erfahren, dass Thälmann nicht gewesen ist, was man ihnen zeitlebens erzählt hat. Besser kann eine Rede, die zur Wahl der SPD auffordert, gar nicht anfangen. Zumal Sigmar Gabriel auch nicht den Fehler von Angela Merkel macht und denen, die vor der Bühne schreien, seine Meinung vorenthält. Ganz im Gegenteil.

Der höchste Diplomat Deutschlands ist heute als Kämpfer hier, ein Kerl, der klare Kante zeigt, wo es nach Lage der Dinge außerhalb der Landesliste seiner Partei sowieso nichts zu gewinnen gibt. "Sie können schreien, so viel Sie wollen", teilt er nach unten mit, "das Mikro ist immer lauter als ihr Pfeiffen." Er könne auch länger reden als andere schreien. "Wenn Sie wirklich glauben, dass mich das stört, dann kennen Sie mich schlecht." Er habe "mehr Luft als Sie - Sie haben allerdings mehr Luft in dem was Sie sagen."

Ein Moment, in dem das Missverständnis offenbar wird, das in diesen Tagen zwischen Regierten und Regierenden herrscht: Keiner mag zuhören. Jeder ist der Meinung, am Ende reiche es völlig, den anderen niedergebrüllt oder per Verstärkeranlage zum Schweigen gebracht zu haben. Meinungsstreit per Lungenvolumen. "Arbeiterverräter", ruft es unten. "Ich hoffe, Sie gehen wenigstens arbeiten", sagt Gabriel.

Es gewinnt, wer länger durchhält, nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen: Am Rande der Veranstaltung pöbeln Links und Rechts einander an, dass es fast schon nach Weimar riecht. Zum Selbstschutz filmen sich dabei stets beide Seiten, was zu neuen Pflaumereien führt, weil keine der beiden Seiten von der anderen gefilmt werden will.

Oh, Deutschland. "Wir stehen ja auch hier, damit Sie da unten protestieren können", sagt Sigmar Gabriel, ehe er warnt, dass das in einer Gesellschaft, "die diese Leute wollen", nicht mehr möglich sein werde. Zaghafter Applaus und dann "kommen wir mal zu dem, was uns beschäftigt". Das ist eine Wahlkampfrede im Plauderton, weiter dauerhaft überlagert von Pfeifen und Geschrei.

Nach einer halben Stunde verwarnt die Polizei einen besonders hartnäckig brüllenden Protestierer. Eine Minute später wird er von fünf Beamten davongetragen. Sigmar Gabriel stutzt und stoppt. Er könnte jetzt einen Punkt machen, wenn er fragen würde: "Halt, wo bringen Sie den Mann hin?" Und noch mal in Erinnerung brächte: "Wir stehen ja auch hier, damit Sie da unten protestieren können".

Doch stattdessen sagt Sigmar Gabriel: "Die Polizei wird wissen, was er gemacht hat". Und: "Sowas kommt von sowas".

SpiegelTV über ostdeutsche Wutbürger