Samstag, 3. Oktober 2020

Chi­le­ni­sches Metall: Hymnen für Victor Jara

James Dean Bradfield von der walisischen Rockband Manic Street Preachers widmet sein zweites Solo-Album dem singenden Revolutionshelden Victor Jara.

 

Der ursprüngliche Plan ist schon lange über den Haufen geworfen worden. Entgegen den eigenen Versprechungen, die damals, vor mehr als 30 Jahren, vorgesehen hatten, ein einziges Album einzuspielen, berühmt zu werden und dem Musikgeschäft danach sofort den Rücken zu kehren, ist James Dean Bradfield heute immer noch da. Der Sänger und Gitarrist der walisischen Rockband Manic Street Preachers ist inzwischen 51 Jahre alt, verheiratet und Vater zweier Kinder. Er ist berühmt, aber in Maßen. Er kann von der Musik leben, muss sich aber dafür nicht an Marktforderungen anpassen. Ganz im Gegenteil zu den von ihren Fans nur die Manics genannten Waliser, neben Bradfield noch Schlagzeuger Sean Moore und Bassist Nicky Wire, die stur die politische Band geblieben sind, die sie von Anfang an waren. Kompromisslos haben sie ihre Themen beackert und statt leichtgewichtigem Pop philosophische Songs wie "A Design for life" und "The Masses against the classes" geschrieben. 

Ihren größten Hit landeten sie mit "If You Tolerate This Your Children Will Be Next". Ein Lied, das vom spanischen Bürgerkrieg inspiriert wurde. Die letzten Polit-Rocker Bis zu "Resistance in futile", dem letzten Album, das zu deutsch "Widerstand ist zwecklos" heißt, machte sich das Trio mit niemandem gemein, mit keiner Szene, keinem Trend, keinem Sound. Stattdessen pflegten die drei Männer aus Monmouthshire ihr Anderssein: Texter Wire trägt Frauenkleider und bezeichnet Staubsaugen als sein Hobby. Drummer Moore bläst nebenbei Trompete. Und als die Gruppe mal Pause machte, produzierte Bradfield ein Soloalbum über die Eisenbahnlinie "The Great Western". 

Das ist fast ein Jahrzehnt her, ein Jahrzehnt, in dem Bradfields Stammband auch nur drei Alben produzierte - zwei weniger als in den beiden ersten Jahrzehnten der Manics. Immerhin aber hat James Dean Bradfield - der Name ist echt, ursprünglich hatte sein Vater den Stammhalter der Bradfields sogar "Clint Eastwood" nennen wollen - nun sein zweites Solowerk vorgelegt. Auch das ist natürlich nicht nur eine Sammlung von Liedern über Liebe, Leid und das restliche Leben, sondern ein Konzeptalbum, das wie eine Rockoper funktioniert. Bradfield, erklärter Sozialist und bekennender Politrocker, nimmt sich der Lebensgeschichte des chilenischen Liedermachers Victor Jara an. 

Die kennt jeder, der in der DDR zur Schule gegangen ist. Der Folksänger war ein nationales Symbol der Chilenen, er sang für die Regierung Salvatore Allende, und nach dem Putsch des Generals Augusto Pinochet wurde er verhaftet. Die Putschisten brachen ihm die Hände, damit er nicht mehr Gitarre spielen konnte, ehe sie ihn erschossen, weil er noch einmal die Revolutionshymne "Venceremos" angestimmt hatte. 

Stoff für DDR-Klassenzimmer, aber auch für die musikalische Geschichte in elf Kapiteln, die James Dean Bradfield auf "Even in Exile" mit Hilfe des Dichters Patrick Jones in Songs gepackt hat. Jones ist der Bruder von Manics-Bassist Nicky Wire. Er schreibt alle Texte der Band, seit Haupttexter Richey James Edwards vor 25 Jahren kurz vor Beginn einer USA-Tournee spurlos verschwand. Wie die Manic Street Preachers ist Patrick Jones ein bekennender Linker. In seinem Theaterstück "Everything Must Go" etwa erzählte er vom Niedergang der walisischen Minenindustrie, von menschlichen Tragödien und knallharten Profitinteressen. 

Aus dieser Sicht, die er mit Bradfield teilt, ist Jaras Schicksal eine Einladung: Allendes Chile, das nur drei kurze Jahre existierte, gilt bis heute als Sehnsuchtsort, an dem der Sozialismus ein menschliches Antlitz hatte, ehe ihn CIA und rechtsextreme Offiziere im Blutrausch ausradierten. Lage ernst, Kunst ebenso Als "The Boy from the Plantation", also den Jungen von der Plantage, stellt Bradfield Victor Jara eingangs vor. Landarbeitersohn, aufgezogen von der Mutter und erst mit Mitte 30 zum Liedermacher geworden. 

Klang Jara auf seinem ersten Hit "La beata" noch wie die Gebrüder Blattschuss auf Spanisch, lässt sein Bewunderer Bradfield keinen Zweifel daran, dass die Lage ernst und die Kunst ebenso gemeint ist. "There'll come a war" kündigt er an, ehe "Thirty Thousand Milk Bottles" die auch in der DDR viel erzählte Geschichte kostenloser Milch thematisiert, die Allendes Regierung allen Kindern in Chile zukommen ließ. Legenden, die das Leben schrieb - die aus fast 50 Jahren Abstand aber ferner wirken als der Mond. 

Er sei vom Gedanken fasziniert gewesen, dass ein Leben etwas über den Tod hinaus bedeute, hat James Dean Bradfield seine Motivation beschrieben, Jara ein musikalisches Denkmal zu setzen. Über ihn haben schon The Clash, die ostdeutsche Band Renft mit ihrem Song "Chilenisches Metall", U2 und die Simple Minds gesungen. Die Songs erinnern dabei natürlich an die von Bradfields Stammband, schon allein, weil die Stimme und die Gitarrensounds keinen Zweifel daran lassen, wer hier zugange ist.

Bis auf das Schlagzeug hat Bradfield "Even in Exile" allein eingespielt, inspiriert von Johnny Marr, Rush und John Cale, wie er selbst zugibt. Es gibt hier Instrumentals und ein Cover des Jara-Songs "La Pardida", die Ballade "From the hands of Violeta" und das orchestrale "Under the Mimosa Tree", das ein friedliches Familienessen unter einem Baum im Garten untermalt. Auf simple Parolen und politische Botschaften verzichtet Bradfield dagegen bis fast ans Ende, wenn "The Last Song" Victor Jara ins Finale seiner Lebensreise begleitet, die nicht der Tod seines Traums ist. 

Denn ganz zum Schluss singt James Dean Bradfield vom "Santiago Sunrise", ein Lied über die sozialen Proteste in Chile im vergangenen Jahr, als Victor Jaras Lieder wieder auf den Straßen gesungen wurden.

Sonntag, 9. August 2020

Ufo-Hauptstadt Roswell: Die Wahrheit ist irgendwo hier drin

Sie tarnen sich als bunte Lichter in der Nacht, huschen als Geschosse über den Himmel, verstecken sich in undurchdringlichen Nebelschwaden oder erscheinen nur kurz als blinkende Punkte auf Radarschirmen. In Wirklichkeit sind sie aber, wie Millionen von UFO-Gläubigen weltweit überzeugt sind, Abgesandte außerirdischer Zivilisationen, die die Erde erforschen. Unsichtbar, hinterlistig, überlegen. Bisher sind sie sind immer unentdeckt davongekommen. Fast immer. 

Außer einmal, in Roswell, einer Stadt in New Mexico, in deren Nähe vor 73 Jahren ein UFO abgestürzt ist. Ein tragischer Unfall, bis heute unvergessen. Stellen Sie sich das vor: Die außerirdischen Wesen waren Lichtjahre durch den Weltraum gereist, eine Zeit voller Entbehrungen. Und danach, kurz nach der Ankunft am Ziel, stürzten sie unglücklicherweise in einem Feld ab, wo Anwohner Mack Brazel und der Nachbarsjunge Dee Proctor zufällig mehrere Leichen fanden.

Seitdem ist Roswell ein Pilgerort für Sensationsgierige und UFO-Gläubige aus der ganzen Welt. Die Hauptattraktion des kleinen Städtchens, das in Deutschland ein Kaff genannt werden würde, ist das UFO-Museum auf der Main Street, ein flaches Funktionsgebäude, das dem Phänomen mit drei Buchstaben gewidmet ist: U.F.O. - unbekanntes Flugobjekt. 

Eine echte Touristensensation, ausgestattet mit außerirdischen Gummipuppen, nachgebildeten außerirdischen Flugobjekten und zahlreichen echten Dokumenten, in denen Augenzeugen von UFO-Sichtungen schwören, sie hätten UFOs gesehen oder seien sogar von ihnen entführt worden. Roswell, eine kleine, staubige Stadt, ist der Heilige Gral aller UFO-Forscher und das Zentrum der modernen Religion namens UFO-logie. Viele Jahre lang hatte sich die Stadtverwaltung erst geweigert, den inoffiziellen Titel "UFO-Welthauptstadt" offiziell zu verwenden. 

Bis schließlich ein Bürgermeister ins Amt kam, der sich der Chance bewusst war, die die unspektakuläre 49.000-Einwohner-Stadt, deren berühmteste Tochter die Schauspielerin Demi Moore ist, da aus lauter Trotz und Wahrheitsliebe verschenkte. Seit einem Vierteljahrhundert ist die Wüstenstadt nun schon vollständig auf Außerirdische ausgerichtet. Neben dem großen UFO-Museum gibt es mindestens vier kleine, alle Restaurants in der Stadt sind thematisch auf Außerirdische ausgerichtet, und alle Geschäfte bieten T-Shirts, Baseballmützen, Postkarten, Bücher, Gürtel, Kekse, Lutscher, Mousepads, Küchenschürzen und Fußmatten mit bizarren Bildern von Fantasie-Außerirdischen an. Ein Millionen-Dollar-Geschäft für alle. Roswell ist 200 Meilen von El Paso, 200 Meilen von Albuquerque und ebenfalls 200 Meilen von Amarillo entfernt. Wer immer von da nach dort oder von dort nach da unterwegs ist, findet ghier im Nirgendwo einen guten Grund, anzuhalten. 

Zwar war das Interesse dann doch nicht groß genug, um den gigantischen UFO-Vergnügungspark zu bauen, der vor Jahren geplant war. Aber in Zeiten, in denen immer mehr Menschen glauben, dass Außerirdische die Erde besucht haben, und die Regierungen weltweit mehr über Außerirdische wissen, als sie zugeben, boomt das Geschäft. Es könnte ja alles wahr sein, oder? Wahrscheinlich sind sie irgendwo da draußen. Was, wenn es wirklich passiert wäre? Deshalb bietet das UFO-Museum auf der Main Street eine Menge Spektakel, um die Kunden zu begeistern, die nur zur Unterhaltung angehalten werden. Sie bekommen, was sie suchen. 

Von Nazi-Flugscheiben bis zur simulierten Alien-Autopsie ist alles zu sehen, was nie bewiesen werden konnte. Denn es ist sicher, dass im Juli 1947 im Gebiet von Roswell etwas vom Himmel fiel, weil das Militär ein erstaunliches Interesse an der Entdeckung von Mark Brazel zeigte. Aber nach der ersten offiziellen Ankündigung, in der sie von einer "fliegenden Untertasse" sprachen, wurde entschieden, dass es sich nur um einen "Wetterballon" handelte. Niemand hat das jemals geglaubt. Zumindest hier in Roswell nicht, wo die Wahrheit gleich da draußen ist.


Mittwoch, 1. Juli 2020

Währungsunion: D-Day in der DDR

Der Widerstand gegen die D-Mark-Einführung blieb eher symbolisch.

Vor 30 Jahren bekam die DDR West-Geld. Weil die Menschen sofort auf Westware umstiegen, endete mit der neuen Währung die alte Wirtschaft.

Am Morgen danach ist erst einmal alles wie zuvor. Die Sonne scheint über Mitteldeutschland an diesem Sonntag vor 30 Jahren, mit dem nicht nur ein neuer Monat, sondern eine neue Ära beginnt: Es ist D-Day in der DDR, die DDR-Mark geht, die D-Mark kommt. Seit Mitternacht ist sie das gesetzliche Zahlungsmittel im Arbeiter- und Bauernstaat, dessen Volk sich das Geld nun aber erst einmal holen muss. Überall bilden sich schon am Vormittag lange Schlangen vor Sparkassen und Banken. Allein im Bezirk Halle haben 1 713 Auszahlstellen geöffnet, um für Aluchips harte Westmark auszugeben. In Eisleben etwa sitzen die ersten Umtauschwilligen früh um vier vor dem Eingang der Sparkasse, in Halle campieren ganz Eilige vor den Geldschaltern.

180 Milliarden Mark


2 000 Polizisten sind zur Absicherung des Geldumtausches eingesetzt. Auf den Sparkonten der DDR-Bürger liegen 180 Milliarden DDR-Mark, nach dem kurz zuvor beschlossenen deutsch-deutschen Staatsvertrag werden 60 Milliarden gestaffelt nach dem Alter der Besitzer zum Kurs von 1:1 getauscht, der Rest im Verhältnis 1:2. Vermögen, die höher als 6 000 Mark sind, werden halbiert - verbunden mit dem Versprechen, der Staat werde später Anteilscheine am Volkseigentum an die frühere Bevölkerung der DDR ausgeben.

Doch die Angst vor einer erneuten Enteignung ist vor allem bei Älteren gewaltig. Hatte der volkseigene Handel seit dem Mauerfall ständig sinkende Umsätze gemeldet, so beginnen in den Wochen vor dem Stichtag Hamsterkäufe. Gefragt ist, was von den meist völlig überfroderten Bürgern für wertstabil gehalten wird: Die Nachfrage nach Wartburgs und Ladas steigt an, aber auch Immobilien und Antiquitäten sind gefragt. Kurz vor Ultimo füllen alle ihre Vorratslager. An den Tankstellen tobt ein Kampf ums letzte Ost-Benzin, in den Kaufhallen türmen sich Brot, Kartoffeln, Zucker und Mehl in den Einkaufswagen. Werner Hoffmann, Chef eines Ladens in Halle, beschreibt: "Die Kunden kaufen alles - wenn ich nicht aufpasse, bin ich mit weg."

Erspartes retten


Es geht darum, das Ersparte zu retten, sei es durch die Umschichtung von Geld auf die Konten von Kindern und Enkeln, sei es durch den Tausch in DDR-Pfennige. Die, so legen die Regularien der Währungsumstellung fest, werden vorerst gültig bleiben, weil die Bundesbank einfach nicht genügend Hartgeld heranschaffen konnte.

Mehr Zeit aber können sich Berlin und Bonn nicht mehr lassen. Nach wie vor verlassen Tausende das Land Richtung Westen. Nur das Versprechen auf eine schnelle Einheit verspricht, die Verhältnisse zu stabilisieren. Auf der Straße fordern die Menschen schon lange "Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehn wir zu ihr".

Die letzten Tage vor dem D-Day ziehen sich wie alter Kaugummi. Es ist eine seltsame Zwischenzeit ohne Informationen darüber, wie es weitergehen wird. Gerüchte überall. Immer öfter werden Geldtransporter vor den DDR-Staatsbank-Filialen gesichtet, in denen Bundesbank-Helfer das Sagen haben: In den Kellern habe sich das Geld gestapelt, erinnert sich ein früherer Mitarbeiter, "dabei hatte keiner eine Vorstellung, wieviel wirklich gebraucht wird".

25 Milliarden in bar


25 Milliarden D-Mark sind es schließlich, die bar abgehoben werden, pro Kopf der Bevölkerung etwa 1 500 Mark. "Jetzt wird erst einmal richtig eingekauft und Urlaub im Süden gemacht", schwärmt Günter Angermann beim Verlassen einer Bankfiliale in Eisleben.

Wie viele ahnt er noch nicht, wie schwer der plötzliche Umtausch nicht nur aller Guthaben, sondern auch aller Löhne und Gehälter die DDR-Wirtschaft treffen wird.

Durch die Aufwertung aller Verbindlichkeiten ist kaum mehr ein VEB noch konkurrenzfähig. Schon am Montag nach der Währungsumstellung stehen in den Regalen der Geschäfte durchweg Westprodukte. Selbst Marmelade, Wurst und Käse kommt von Lieferanten aus Bayern und Hessen. Ostfirmen, die eben noch von billigeren Löhnen profitiert hatten, finden für ihre Produkte keine Abnehmer mehr. Sogar ihre eigenen Mitarbeiter kaufen ja für die echte D-Mark lieber die echte Nutella als die DDR-Kopie Nudossi.

Das Bruttoinlandsprodukt der DDR geht bis Weihnachten um 40 Prozent zurück, die industrielle Warenproduktion sinkt um zwei Drittel. Bis 1993 werden 70 Prozent aller Industriearbeitsplätze verschwinden, die Zahl der Beschäftigten sinkt von 9,7 auf 5,3 Millionen. Die Treuhand hat auch dadurch große Mühe, Käufer für die Reste der DDR-Industrie zu finden.

Die versprochenen Anteilscheine am Volkseigentum, die den teilweisen Wertschnitt beim Währungstausch ausgleichen sollten, werden deshalb auch später nie ausgegeben.