Mittwoch, 5. August 2015

Halle-Neustadt: Das Ende einer Zukunft


Ein halbes Jahrhundert nach dem Einzug der ersten Einwohner im August 1965 ist die einzige Original-DDR-Stadt Halle-Neustadt nahezu verschwunden. Dafür sind ihre Kinder heute überall.

Anderswo hieß es raus. Hier hieß es runter. „Kommst Du runter“, rief es am Nachmittag durch die Wechselsprechanlagen von Halle-Neustadt, das die, die hier lebten, nur kurz „Neustadt“ nannten. Runter war hinterm Haus, das in Wirklichkeit ein Block gewesen ist. Runter war eine Bank an einer Sandkiste, war ein Klettergerüst aus Eisen oder Holz, waren die Wäschestangen, aus denen ohne jeden Umbau ein Fußballplatz werden konnte. Kein Runter, kein Fern gab es, wenn es in der Schule nicht lief.


Halle-Neustadt sollte eine Stadt der Zukunft sein, ein Heim für den neuen Menschen, so hatten es ihre Erbauer geplant. Neustadt hatte immerhin schon eine neue Sprache: „Maggi“ war die Magistrale, „Koofi“ war die Kaufhalle, „Kiga“ der Kindergarten. Aber die Geburtsurkunden der Kinder von Halle-Neustadt waren allesamt von Anfang an falsch. Gut, die Namen stimmten, die Geburtszeiten sicher auch. Nur als Geburtsort steht da immer Halle, manchmal auch Zeitz und Merseburg und sicher noch andere Städte. Nie aber Halle-Neustadt, nicht einmal in den zwei Jahrzehnten, in denen die Söhne und Töchter der Bewohner der sozialistischen Chemiearbeiterstadt zur Welt kamen. Sie alle wuchsen auf als Kinder einer Stadt, die vielleicht als einzige weltweit keine Kinder hat, weil sie in ihren besten Tagen zwar beinahe hunderttausend Einwohner besaß, aber nie ein eigenes Krankenhaus.

Kindheit hatten sie dennoch, die rund 30000 Kinder von Halle-Neustadt, die zwischen 1965 und 1990 im größten Wohnexperiment Deutschlands groß wurden. Kindheit sogar, die sich zwar in der Form, aber nicht im Inhalt von der in anderen Städten unterschied. Alles war größer hier, die Häuser waren höher und der Himmel weiter. Doch gleichzeitig war jeder Wohnkomplex ein Örtchen für sich, aus dem niemand hinausmusste, wenn er nicht wollte.

Es war ja alles da. Der Kiga und die Schule, die Koofi, die Komplexannahmestelle, der „Sero“ genannte Altstoffhandel, Jugendklubs mit Namen wie „Gimmi“ oder „901“ und sogar ein paar Kneipen, die „Mucki“ hießen oder „Dreckiger Löffel“. Hier drinnen wurden die Jüngeren scheel angeschaut von den erfahrenen Schichttrinkern, die nicht aussahen wie der neue Mensch, sondern als säßen sie schon seit Urzeiten hier.

Die Stadt wuchs, und sie wuchs mit ihren Eingeborenen. Waren anfangs noch alle Wege schlammig, wandelte sich Neustadt schon zu einer fahrradgerechten Stadt ehe es diesen Begriff gab. Wegen der Schichtarbeiter gab es Spätverkaufsstellen, kurz „Späti“ genannt. Wegen der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Literatur für die Aufrechterhaltung der Leistungskraft hatte der einzige Buchladen der Stadt ein besseres Angebot als alle Buchläden im alten Halle. Westfernsehen kam in der Stadt der Zukunft aus der Wand. Alle Keller besaßen dicke Stahltüren, um im Ernstfall Schutzräume spielen zu können. Auch alle Schulgebäude hatten Tiefgeschosse, die bei einem drohenden Nato-Angriff auf die hier unten platzierten Werkräume mit bereitstehenden Betonelementen hätten verbarrikadiert werden sollen. So war der Kalte Krieg immer anwesend in der Stadt, deren Wappen eine künstlerisch ambitionierte Achtklässlerin in ihrem Kinderzimmer im 3. WK entworfen und mit fröhlich flatternden Friedenstauben vollgepackt hatte.

Es war grau im Winter und unendlich grün im Sommer und es war grässlich wenig los. Wer hier großwerden durfte, hatte jede Menge Spaß. Anfangs waren die Baustellen die besten Abenteuerspielplätze der Welt. BBS wie „Big-Baustellen-Spaß“ hieß das bei den Kindern. „BUS“ dagegen war der „Big-Underground-Spaß“, der daraus bestand, einfach irgendwo in die unüberschaubaren unterirdischen Kanalsysteme einzusteigen und zu hoffen, dass man bestimmt auch irgendwo wieder rauskommt.

Die Stadt war ein Spielzeug, aber sie war auch ein Schlachtfeld. Die Wohnkomplexe, die „Weehkahs“ hießen, wurden von selbsternannten Banden beherrscht, die sich nicht grün waren. Halbwüchsige lauerten einander auf, es gab Lehmschlachten und rituelle Überfälle. Manchmal tat es weh, aber nie kam die Polizei.

Besser war es schon, im eigenen Weehkahs zu bleiben. Und schon gar nicht gingen Halle-Neustädter nach Halle. Die Brücke an der Eishalle war die natürliche Grenze zwischen moderner Großplattenbauweise und Zerfall, zwischen frischem Betongeruch und dem Moderduft der feuchten Mietskasernen, zwischen Zukunft und Vergangenheit. Einzig das Kino, das Goethe-Lichtspiele hieß, der Sportladen „Schnee“ und die Eisdiele am Hansering waren Gründe, sich mit der stadtgewordenen Vergangenheit jenseits der Saale abzugeben.Später wurden Berge aus Aushub, die beim sozialistischen Warten auf Großvorhaben, die nie entstanden, langsam überwuchert worden waren, zu Fahrradcross-Strecken. Und auf den Bänken an den Sandkisten, die sich da schon zur Hälfte mit Hundekot und Kippen gefüllt hatten, trafen sich die Plastebaggerfahrer und Gummiindianerspieler von früher, um Schnapsflaschen zu köpfen. Freunde halfen: Der Alkohol stammte in der Regel aus der nahegelegenen Verkaufsstelle der sowjetischen Armee, wo füllige Frauen in Kittelschürzen „Pfeffi“ und „Kali“ bereitwillig auch an Menschen verkauften, die sichtlich noch in keinen U14-Film gekommen wären.

Eine Freiluftjugend. Daheim waren die Kinder des Beton nicht in den Wohnblöcken, sondern auf den Bänken dahinter, in den Durchgängen zwischen den Block und in den Fahrstuhletagen, die als Jugendklubs dienten, Montags war Disco im Treff, freitags Party im U-Boot und es hätte immer so weitergehen können. Selbst Mitte der 80er Jahre war Halle-Neustadt noch eine junge Stadt. Fast alle hier hätten immer noch weggehen können, wenn es eines Tages zu blöd geworden wäre mit der Stadt oder der DDR.

Eine Jugend in Deutschland, auch wenn die Gegend damals noch DDR hieß und die herrschenden Vorstellungen vom Paradies heute Kopfschütteln auslösen. In Neustadt lebten die Sieger der Geschichte, Familien mit Telefonanschlüssen, Glückliche, die von den Errungenschaften einer Zeit profitierten, an deren Ende das Ende aller Ausbeutung stehen würde.

Dieses Ende kam so wenig wie aus Neustadt noch eine wirkliche Stadt wurde. Ausgerechnet in ihrem größten Bauprojekt ging die DDR am schnellsten und gründlichsten zugrunde: Noch vor dem Beitritt des Arbeiter- und Bauernstaates zur Bundesrepublik votierten die Halle-Neustädter für einen Beitritt zur Stadt Halle.

Der Selbstauslöschung folgten die Abrissbagger, den Abrissbaggern die Flucht der Generation, die hier aufgewachsen war. Während die Eltern blieben, in 70 Quadratmetern WBS 70 mit nun leerem Kinderzimmer, gingen ihre Kinder fort. Neustadt hatte schließlich nicht nur kein Krankenhaus, es kannte auch kein Wohneigentum. Der neue Mensch besitzt hier nichts außer Wurzeln. Er kehrt heute allenfalls gelegentlich zurück, um auf Wiesen zu schauen, auf denen einst seine Schule stand.

Freitag, 17. Juli 2015

Of Monsters and Men: Songs unter der Haut


Es hat nur vier Jahre gedauert, drei Filme und zwei Alben, aus dem isländischen Indie-Kollektiv Of Monsters and Men eine Band zu machen, die weltweit große Hallen füllt. Warum das so ist, macht das neue Werk „Beneath the Skin“ mit Nachdruck deutlich: Die 13 Songs gehen etwas energischer zu Werke als die zwölf des Debüts „My Head Is An Animal“.

Doch die Songschmiedekunst des sechsköpfigen Rock-Orchesters aus Keflavík und Garðabær zeigt sich hier noch einmal um Dimensionen dichter und verzwickter. Nanna Bryndís Hilmarsdóttir und Ragnar Þórhallsson an Akustikgitarren und Mikrophonen, Brynjar Leifsson an der E-Gitarre, Schlagzeuger Arnar Rósenkranz Hilmarsson, Árni Guðjónsson an den Tasten und Bassist Kristján Páll Kristjánsson verschmelzen den sphärischen Rock von Arcade Fire in manchmal ausufernden Klanggemälden mit dem leicht schwermütigen Folk der Walkabouts und der elektrifizierten Melancholie von Florence and the Machine.

Die großen Melodiebögen beherrschen die sechs Isländer nach wie vor im Schlaf, wo aber beim Debütalbum noch eher fröhliches Hippietum wie im Welthit „Little Talks“ vorherrschte, grundieren Gitarren, Bläser, Geigen und Studiotechnik jetzt verzweifelte Zeilen wie „ich versinke“ in „Hunger“ oder düstere Verse wie „ich male deinen Körper schwarz, verschwinde in deinem Haar, und wenn du zurückschaust, ist es, als wäre ich nicht da“. Trotzdem klingt das nie betrübt oder traurig, denn immer herzt irgendwo ein rettender Dur-Akkord die Mengen an Moll, auf denen Nanna Hilmarsdóttir und Ragnar  þórhallsson ihre Emotionen ausbreiten.

„Unter die Haut“, der Titel deutet es an, soll das innerliche Album des Sextetts sein, eine Ergänzung und Erweiterung des Debüts, das es mit seiner ungewöhnlichen Mischung aus Indie-Rock und sämigen Pop-Melodien zuerst in den Ben-Stiller-Film „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ und den Soundtrack von „Die Tribute von Panem“ schaffte. Und von dort aus mitten hinein in den Massengeschmack eines Publikums explodierte, das früher vielleicht REM, die 10,000 Maniacs oder Suzanne Vega gehört hätte.

Wie sie Pop und Indie-Folk, die beiden Hälften ihres Schaffens, bruchlos verschweißen, lässt sich im Lyrics-Video zu „Chrystals“ schön betrachten: Statt der björkartigen Hippie-Elfe Nanna Hilmarsdóttir, deren Stimme einen Großteil der Faszination dieser Band ausmacht, scheint hier der vollbärtige isländische Schauspielstar Siggi Sigurjóns zu singen. Bei „Human“ , einer an die Cranberries gemahnenden Power-Pop-Hymne, synchronisiert der Schauspieler Björn Stefánsson den Gesang - mit vollstem Körpereinsatz.

Und das passt immer noch. Of Monsters and Men-Musik, diesmal in Los Angeles mit Rich Costey (Death Cab for Cutie, Interpol) eingespielt, schüttet Gräben zu , beruhigt die Sinne und lässt Füße unwillkürlich mitwippen. Das hat in jeder Sekunde Hitpotential, weil es sich an niemand anderem orientiert als am eigenen Geschmack.

Donnerstag, 16. Juli 2015

"Drones" von Muse: Ein musikalisches Märchen



Mit ihrer siebten CD legen Matthew Bellamy und seine Band Muse ein ambitioniertes Werk mit großem Anspruch vor -hier ihr Liveauftritt auf dem Main Square Festival 2015

Der Auftakt erinnert an die Band Styx und deren Song „Mr. Roboto“. Anfang der 80er Jahre war das Lied um die fiktive Figur Robert Orin Charles Kilroy, die im Gefängnis schmachtet, ein Welthit, obwohl niemand verstand, worum es ging. Hier bei Matthew Bellamys Band Muse ist es so ähnlich: Das neue Album „Drones“ erzählt eine große Geschichte. Aber es gibt keinen Grund, traurig zu sein, wenn man sie nicht versteht. Die Musik, die die drei Briten im 20. Jahr nach Bandgründung machen, ist auch so gut wie immer.

Nur eben noch etwas größer gedacht. Ein halbes Jahr nach der Trennung von Hollywood-Star Kate Hudson, deren Liebe den Musikersohn aus Cambridge über Jahre zum vielfotografierten Traummann der bunten Blätter gemacht hatte, spintisiert sich Matthew Bellamy in zwölf neuen Songs in eine Parallelrealität aus Weltuntergangsvisionen, Kriegsgeschrei und aufrüttelnden Appellen für eine bessere Welt. Es geht um die Entmenschlichung des Krieges, um das Töten aus der Ferne und vor allem darum, wie solche saubere Techniken des Mordens den Menschen und mit ihm die Menschheit verändern. Technologie zerstört Mitgefühl, Menschen ohne Mitgefühl aber sind keine Menschen mehr.

Bellamy, noch nie um große Gesten oder Ansprüche verlegen, tritt in riesige Fußstapfen. So erfolgreich seine Band ist, war sie es doch immer auf dem Niveau der Musik, einem modernen Gemisch aus Heavy Metal, Synthie-Rock und Hairspray-Balladen. Nun will der Sänger und Hauptkomponist von Muse Giganten wie The Who oder Pink Floyd beerben und deren Rockopern fortschreiben - selbst Fans waren skeptisch.

Das fertige Werk aber zeigt, dass Bellamy, Drummer Dominic Howard und Bassist Christopher Wolstenholme nicht zu viel versprochen haben. Zwar klingt „Drones“ insgesamt weniger wie „Tommy“ oder „The Wall“ als wie Queensrÿches Klassiker „Operation: Mindcrime“. Aber dank einer klugen Dramaturgie und der abwechslungsreich wie selten angelegten Songs wirkt das gesamte Album keineswegs wie ein um 25 Jahre verspäteter Progressive-Metal-Witz. Sondern wie der ernsthafte Versuch, fast vier Jahrzehnte nach „The Wall“ erneut eine geschlossene Geschichte mit Hilfe von Rockmusik zu erzählen.

Muse haben dazu im Studio im kanadischen Vancouver aufgefahren, was denkbar ist. Das Schwergewicht aber liegt im Unterschied zu den letzten beiden Platten diesmal nicht auf sinfonischem Schaum und operettenhafter Übertreibung, sondern in der Rückkehr zum Rock. Statt Geigen gibt es wieder mehr Gitarren, statt Falsettgesang von Bellamy Gebrüll vom „Drill Sergeant“, einer Art Erzähler der Geschichte. Produktionsroutinier Mutt Lange (AC/DC) schiebt komplexe Laut-Leise-Lieder wie „Psycho“ und „Reapers“ dann in bewährter Weise zu kompakten Hymnen voller Riffs und Marschrhythmus-Drums zusammen.

Das Ergebnis ist ein Album, dessen erste Hälfte kaum einen Moment Stille kennt, während die zweite wie in Erwartung der Erlösung von allem Übel langsam vom Gaspedal geht. „Revolt“ ist eine klassische Gitarrennummer nach U2-Bauart, „Aftermath“ die bis dahin bis auf das hübsche „Mercy“ zu Beginn vermisste Violinenballade. Fertig sind die drei Konzeptkünstler danach aber noch nicht, denn nun kommt mit „The Globalist“ der dickste Brocken: Zehn Minuten Leistungsschau mit großen Gefühlen. Zur Beruhigung dann zurück zur Mitte der 70er Jahre, Queen, etwa zur Zeit von „A Night at the Opera“: „Drones“, das Titelstück, ist ein Puzzle aus Stimmen, die klingen wie ein Mönchschor.