Donnerstag, 3. September 2015

Gerhard Gundermann: Wie ich IM Grigori wurde



Im Sommer vor 20 Jahren hatten dann alle seine Akte. Der Stern recherchierte, die ARD bat andauernd um Rückruf. Die Gauck-Behörde hatte, nachdem auf einen Antrag hin eine IM-Akte zum ostdeutschen Liedermacher Gerhard Gundermann aufgetaucht war, nicht nur eine Kopie der zweibändigen Sammlung von Protokollen und Treffberichten herausgegeben, sondern ein Dutzend.

Die Luft für Gerhard Gundermann wurde dünn. Doch Conny Gundermann, seine Frau, war „irgendwie erleichtert, als es endlich raus war: der Gerhard war ja in den letzten Monaten gar kein Mensch mehr", beschreibt sie. Nur noch „rumgegrübelt" habe er, und überlegt, wie er es den Leuten sagt. „Sagen musste er es, das ist er seinem Publikum schuldig", war für Conny Gundermann schon lange klar. Gerhard Gundermann, der drei Jahre  später mit nur 43 Jahren völlig überraschend sterben sollte, über seine Zeit als „IM Grigori", die ihn 1995 einen großen Plattenvertrag, die Einladung einer großen Managementfirma und die Anerkennung der Westmedien kostete.

Hast Du damit gerechnet, dass irgendwann jemand kommt und dich auf die Zeit zwischen 1976 und 82 anspricht?

Gundermann: Es sind doch schon mehrere gekommen. Und dann habe ich immer gesagt, ja, so war das. Aber viele sind es nicht gewesen. Und ich hatte diese ganze Geschichte, nein, nicht vergessen, auch nicht abgehakt, aber irgendwie beiseite geschoben. Ich habe darüber nachgedacht und bin irgendwie darauf gekommen: man kann mit dem ganzen nur im Raum DDR umgehen. Aber der Raum DDR ist ja weg. Also habe ich für mich gesagt, das ist erledigt. Ich habe mich weder um meine Opfer-, noch um meine Täterakte gekümmert.

Hast du damals gewusst, dass du an OV und OPK beteiligt bist?

Gundermann: Nein, dass hat mir jetzt erstmal jemand übersetzen müssen, was das überhaupt ist. Die haben damals immer gesagt, „Schätze mal den und den ein". Eine ganze Reihe von denen sind dann später IM geworden, als ich nicht mehr dabei war. Ich habe sie empfohlen, und dann hatte ich sie auf dem Hals. So ist das.

Was willst Du nun tun?

Gundermann: Ich versuche, auf die Leute zuzugehen. Nachdem ich meine Akte gesehen hatte, habe ich versucht, rauszukriegen, wer denn nun hinter den Ovs und OPKs steckt. Das muss man ja erstmal entschlüsseln. Einen habe ich angerufen, der hat mich dann zu sich bestellt. Ich bin hingefahren - und der hat mich abtropfen lassen. Er wollte nicht mit mir drüber reden, er hat einfach gesagt, er hätte die Unterlagen jetzt nicht da. Ist ja sein gutes Recht. der ist ja jetzt am Zug. Vielleicht verarscht der mich auch bloß.

Was hast du denn über den berichtet?

Gundermann: Arroganten Mist. Der Gag war der: Der wollte immer in den Westen und die Stasi wollte ihn weghaben. Hätten die sich ausgesprochen miteinander, hätten die sich viel Mühe und Stress sparen können. Die andere OPK, an der ich beteiligt war, ist dagegen ziemlich harmlos. Ich habe jetzt auch mit dem gesprochen, und es stellte sich raus - der hatte die ganze Zeit Angst, dass ich seinen Namen in meiner Opferakte finde. Der hatte nämlich da angefangen, als ich aufgehört habe. (unter Video geht es weiter)




Welche Einschätzung hast du selbst von deiner Tätigkeit?

Gundermann: Meine Definition ist inzwischen so: Ich habe mich schuldig gemacht vor mir selbst, vor der Idee des Sozialismus. Ob ich mich an anderen Menschen schuldig gemacht habe, muß ich erst noch rauskriegen. Mit dem, was ich bisher weiß, kann ich leben, ohne daß ich mich aufhängen muß.

Aber solche Sachen wie die Funkgeräte-Nummer, wo du zwei Bekannte verraten hast, die Funkgeräte aus Italien eingeschmuggelt hatten - das ist doch Petzerei, das ist doch hochgradig unanständig.

Gundermann: Ja, klar. Das ist eklig. Aber es war doch so: Ich habe doch mit denen über alles mögliche geredet, und nie ist was passiert. Der Typ mit den Funkgeräten hat nie Ärger bekommen. Dabei hatte der eine unheimliche kriminelle Energie. Der klaute, auch wenn er Geld in der Tasche hatte. Der benutzte den Singeklub, um Privatgeschäfte zu machen. Ich dachte damals, in dem Moment, wo die mir vertrauen, daß ich alles weiß, trauen sie mir auch zu, daß ich alles im Griff habe. DaSS die also nicht eingreifen. Mir war ja die Gruppe wichtiger als der eine Typ. Das zumindest hat ja auch geklappt.

Wofür hast Du das Geld bekommen, über das die Stasi zwei lange Quittungslisten geführt hat?

Gundermann: Die kleinen Summen sind Kaffee und Kuchen. Was so im Februar ist, müssen Geburtstagsgeschenke sein. Und einmal die 161 Mark sind für den Fotoapparat, den sie mir gekauft haben, damit ich im Westen für sie fotografieren kann. Und die Filme. Beim ersten Treffen hat mir der Leutnant Stasch 50 Mark gegeben. Das sei so üblich. Aber ich habe mir das dann überlegt, und beim nächsten Mal gesagt, daß ich kein Geld haben will. Da hieß es dann: Das gibt's nicht, denn mit allen, die kein Geld haben wollen, stimmt irgendwas nicht. Ich hab´s trotzdem nicht genommen.

Dafür gab´s dann später eine ganze Reihe von Auszeichnungen?

Gundermann: Und jedesmal ein blödsinniges Theater. Die Artur-Becker Medaille haben sie mir gezeigt, und dann wieder mitgenommen. Die 250 Mark, die da dranhingen, konnte ich behalten. Für den Einsatz in Ungarn gab's eine Obstschale aus Blech. Die habe ich weggeschmissen.

Wie hast Du die Treffs mit denen getarnt?

Gundermann: Gar nicht. Ich war doch solo, mich hat doch keiner gefragt, wo ich hingehe.

Welches Verhältnis hattest Du zu dem Leutnant Stasch, der ja über Jahre dein Ansprechpartner war?

Gundermann: Wie soll ich das jetzt sagen. Ich habe doch in jedem Verein erstmal gedacht, jetzt bin ich bei den Schlauen gelandet. Und wenn ich bei den Guten bin, sind automatisch alle Sachen, die wir machen, gut. Mein eigener Maßstab hat sich erst später wieder eingeschaltet. Ich habe erst später gemerkt, dass die mich nicht als Partner behandeln. Ich hoffte, die warnen mich, wenn auf der Parteischiene wieder was gegen mich läuft. Haben sie aber nicht gemacht.

Also kein besonderes Verhältnis zu Stasch?

Gundermann: Das war nur der Nimbus. Die Leute selber habe ich mir bloß kluggeredet. Der Voigt zum Beispiel, der zweite, der ab und zu kam, der war immer unglücklich, weil er nicht verstanden hat, was ich ihm erklärt habe.


Warst Du ein guter Spion?

Gundermann: Nein. Glaube ich nicht. Die haben mich zwar in den Akten immer als ergiebig und gut eingeschätzt, aber das war doch auch bloß, damit die nach oben gut aussahen. Zum Beispiel nach der Ungarn-Kiste, wo ich zwei Fluchthelfer in die DDR locken sollte. Da habe ich mich so geschämt, weil da alles schief ging. Die haben alle gewusst, was ich für ´ne Larve bin. Aber die haben das als gute Operation eingeschätzt. Ich dachte, ich krieg' nur ´ne Obstschale, weil ich schlecht war. Aber da habe ich mich geirrt. Die fanden mich Klasse. Ich weiß auch nicht, warum.

Wenn du heute die Akte liest, was denkst du dabei?

Gundermann: Die ganzen Dinger mit Planschwindel aufdecken, melden, wenn die Chefs im Betrieb klauen, die Forderungen nach mehr Geld für die Basiskultur in Hoywoy, das ist alles okay. Wo ich für die Brigade Feuerstein gegensteuern wollte, wo was über FDJ und Partei schief lief, war zumindest gutgemeint. Aber was Scheiße ist, sind die persönlichen Sachen. Die Petzberichte, diese widerlichen Arien. Das ist ganz dolle Scheiße.

Aus welcher Motivation hast Du denn das gemacht?

Gundermann: Ich weiß es nicht.

Irgendwann kam der Punkt, an dem du nicht mehr hingegangen bist. Weiß Du, warum?

Gundermann: Ich war sauer geworden. Ein riesengroßer Apparat war mit einem Riesenaufwand damit beschäftigt, Kinderkacke zu produzieren. Diese blöde Sicherheitsdoktrin: wenn ein Mensch ein Problem hat, schafft man nicht das Problem ab, sondern den Menschen. Das ist mir aufgefallen, auch wenn ich ein langsamer Denker bin. Das ganze Land kochte, und die hatten nur Scheiße im Kopf. Zum Schluss bin ich nur noch hingegangen, um denen das begreiflich zu machen, Aber die wollten das nicht hören.

Aber du hast es versucht. War das naiv?

Gundermann: Ja, wahrscheinlich. Ich wollte immer meine Kraft zur Verfügung stellen, und merkte dann immer, daß ich Leuten diene, die überhaupt nüscht auf der Lampe haben. Ich bin dahintergekommen, dass ich die Verantwortung für mein Handeln selber übernehmen muss. Das ist die Lektion, die ich gelernt habe. Leider zu spät.

Wie hast du dann erlebt, dass du ein Thema für die wurdest?

Gundermann: Naja, eigentlich erstmal gar nicht. Ich habe mich ja nicht unbedingt mit der Stasi angelegt. Ich habe mich doch mit Werner Walde, dem SED-Chef von Cottbus, in den Haaren gehabt. Für den war ich ein rotes Tuch. Das ging soweit, dass wir 1988 überlegt haben, ob wir uns pro forma scheiden lassen, damit ich nach Berlin umziehen kann, und aus dem Herrschaftsbereich von dem Walde rauskomme. In Cottbus sind ja Filme und Lieder verboten worden, die überall anders liefen. Also bei SED und FDJ war ich für viele der Spezialfeind. Die hatten Leute auf mich angesetzt, haben Journalisten verboten, über mich zu schreiben. Darüber waren die Stasileute auch ziemlich unglücklich. Die arbeiteten ja mit mir, und dann wurde immer gesagt, dass ich der Böse bin. Von der Partei wurde alles, was ich machen wollte, torpediert: private Kulturinitiativen, Veranstaltungsreihen. Bloß ein Telefon haben wir sofort bekommen, als wir eins haben wollten. (lacht)

Ist das auch ein Grund, warum du nie den Sprung zum vollprofessionellen Künstler gemacht hast? Dass Du Angst hattest, von der Gnade irgendwelcher Kulturfürsten abhängig zu werden?

Gundermann: Ja, ich hatte keine Lust, mich prostituieren zu müssen, um die Band bezahlen zu können. Mir ist lieber, daß ich wie jetzt Konzertanfragen absage, weil ich Schicht habe, als dass ich rumrenne, und um Engagements bettele. Ich wollte mir damals immer die Freiheit bewahren, eine Mugge, die mir nicht passt, absagen zu können, auch wenn ich viel verdienen könnte, und dafür eine Sache zu machen, die mir gar nichts einbringt. Heute ist das im Grunde genommen noch viel schlimmer. Du musst dich schnell verbiegen, um zu überleben. Das will ich nicht. Aber schon durch die Band bin ich da nicht mehr ganz frei, denn die Jungs müssen ja verdienen.

Wie sind die Reaktionen auf die MfS-Sache? Mußt Du Angst haben, die Band und deine Familie bald nicht mehr ernähren zu können?

Gundermann: Der Chef meiner Plattenfirma, wusste es schon länger. Er verstand es. Vivi Eickelberg, die Managerin von Heinz Rudolf Kunze und Herman Van Veen, der ich das auch schon früher erzählt habe, hat es auch ziemlich unaufgeregt genommen. Auch die Silly-Leute, Tamara, andere Kollegen, denen ich es erzählt habe, und die Musiker meiner Band. Alle Leute, die im Osten mal Verantwortung getragen haben, wissen ja, dass ohne die oder gar gegen die nichts ging. Damals musste man die doch als Verbündete in Betracht ziehen, auch wenn das ein Risiko war. Die Alternative war totale Verweigerung - und scheinbar haben die Verweigerer recht behalten. Die können heute sagen: Wir haben eine weiße Weste, wir haben es schon immer gewusst, so wie wir gelebt haben, war es okay, alle anderen sind Schweine. Ich kann damit nichts anfangen. Ich muss immer was tun. Schade ist bloß, dass genau das Gegenteil von dem rausgekommen ist, was ich wollte: das Prinzip Sozialismus wurde auf allen Ebenen verheizt, nicht nur ganz oben, und ich habe mitgemacht. Ich habe Demokratie verhindert, ich habe dafür gesorgt, dass am Ende die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Idee war. Das ist meine Schuld, damit muss ich klarkommen. Was das Publikum jetzt zu der Sache sagt, weiß ich noch nicht. Wenn mich jetzt keiner mehr sehen will, kann ich das verstehen. Das ist ihr gutes Recht. Dann mache ich erstmal zwei Jahre Pause. Vielleicht haben sie mir ja danach verziehen.

Dienstag, 1. September 2015

Pankow live: Zuviel rumgerannt


den alten krimi so oft gelesen
rohe spaghetti zu viel gekaut
zu lange geschlafen
zu oft gebadet
und vor allem zu viel fernsehen geschaut
ich bin rumgerannt
zu viel rumgerannt
zu viel rumgerannt
ist doch nichts passiert

zu viele frauen nur angeseh'n
zu viel nur mit mir rumgespielt
zu viel gesoffen
zu viel geredet
zu viele nächte wo nichts passiert
ich bin rumgerannt
zu viel rumgerannt
zu viel rumgerannt
ist doch nichts passiert

das selbe land zu lange geseh'n
die selbe sprache zu lange gehört
zu lange gewartet
zu lange gehofft
zu lange die alten männer verehrt
ich bin rumgerannt
zu viel rumgerannt
zu viel rumgerannt
ist doch nichts passiert

ich bin rumgerannt
zu viel rumgerannt
zu viel rumgerannt
ist doch nichts passiert

Donnerstag, 27. August 2015

Pankow 1985: Im Rockpalast des Ostens


Ist es eine Ehre, wenn eine Schriftstellerin einer Rockband Kritik hinterherwirft? „Das Werk, das sich die jungen Künstler vorgenommen haben, krankt daran, daß der Entwurf „Mensch“ zu klein geraten ist und insgesamt nicht einmal durchschimmert. Die Reflexionswelt dieses jungen Mannes, der mir hier an der Peripherie langgeführt wird, läßt mich kalt. Was wäre denn, wenn er „aus dem Arsch“ käme? Was wäre denn dann, wonach würde er streben, wen denn könnte seine Käsigkeit beglücken? Man muss ja noch froh sein, dass dieser chronische Miesmacher, Nörgler und Muffel nicht aktiver ist, sonst wäre er gänzlich unerträglich“, urteilte Gisela Steineckert Anfang der 80er Jahre über die ersten Stücke der Berliner Band Pankow.

Die ist jetzt wieder da, nach langer Zeit, in alter Besetzung und mit alten und neuen Liedern, Steineckert, die ewige Miesmacherin, wurde überlebt. Zeit für einen Blick zurück auf eine Begegnung mit André Herzberg in Zeiten, von denen heute sicher ist, dass sie nicht die allerbesten waren.

"Aufruhr in den Augen" (Plattentitel) hatte die Gruppe um Sänger André Herzberg und respektlose Sprüche im Mund. "Wenn wir in die Städte kamen, standen die Leute hinter den Gardinen", erinnert er sich. Heute bewegt sich kein Fensterladen, wenn Herzberg einreitet. Spärlich besucht die Klubs, wo er die Gitarre einstöpselt, karg die Gagen und der Applaus dünner als das Klimpern der Gläser in der Spültheke.

Seinerzeit hätten sie alles weggeblasen. Mit einem Gemisch aus rauem Rock und Texten in rüdem Alltagsdeutsch setzten sich die fünf Berliner Musiker hörbar ab von der Ost-Konkurrenz. Pankow gaben sich volksnah und unverblümt - Herzberg sang keine Poesiealbum-Verse, sondern lebenspralle Geschichten von gelangweilten Lehrlingen, fiesen Brigadeleitern und verlogenen Eltern.

In den Konzertsälen feierten Herzberg und sein kongenialer Gitarrist Jürgen Ehle so große Triumphe, dass die Monopol-Plattenfirma Amiga, die das Rockmusical "Paule Panke" noch wegen "ideologischer Unklarheiten" abgelehnt hatte, schließlich eine Platte mit ihnen machen musste. Zensiert allerdings: Das Cover wurde in letzter Minute ausgetauscht.

Herzberg, aufgewachsen in einer streng kommunistischen Familie und zum "Urglauben an das System" erzogen, lächelt nur. "Wir glaubten damals wirklich, dass wir gefährlich sind." Und gefährlich hatte er sein wollen, seit er mit 16 anfing zu zweifeln am Sozialismus, auf den zu Hause nichts kommen durfte. "Auf einmal spürst du, der Prinz ist ein stinkendes Monster." 


Die Enttäuschung sei unendlich gewesen: "Man ist gekränkt, wenn Kinderträume nicht wahr werden." Aus dem Jungen, der zwar immer im Mittelpunkt stehen wollte, aber "jahrelang nicht in der Lage war, sich zu artikulieren", wird der Klassenkasper André. Herzberg organisiert sich so das Privileg, sich austoben zu dürfen: Alle Ernsthaftigkeit versteckt hinter der Maske des Clowns.
Mitten durch die Familie läuft die Front, die die ganze DDR durchzieht. 


"Meine Eltern hatten sich in ihrer Welt eingerichtet, wir Kinder haben opponiert." André ist 17, als es im Hause Herzberg zu "heftigen Reaktionen der Ablösung" kommt. Mit 18 ist er entschlossen, in den Westen zu gehen, doch vorher holt ihn die Volksarmee. André, ein kleiner Mann mit freundlichen Locken, trainiert besonders aufmerksam an der Kalaschnikow. "Ich dachte, man braucht das, um die Funktionäre mit der Waffe in der Hand aus dem Land zu jagen."

Herzberg ist damals, das weiß er heute, "ganz hart drauf". Muff und Mangel und Müdigkeit überall! "Ich habe es gehasst." Die Musik erst stoppt die Terroristenkarriere. "Gitarre statt Knarre", strahlt der 43-Jährige mit samtbraunen Mädchenaugen. Der geplante Umzug in den Westen fällt flach. Auch der Idealist Herzberg ist nur ein Mensch: "Erfolg korrumpiert."


Zumal, wenn man sich im tiefen Einverständnis mit seinem Publikum fühlen darf. "Die Beschränkung gab den nötigen Pfeffer, wir fühlten alle dasselbe und verstanden uns blind." Pankow-Lieder wie "Langeweile", das von alten Männern berichtet, die man zu lange verehrt habe, werden so zu geheimen Hymnen. Der Ostrundfunk wagt es selbst im Sommer '89 nicht, den Song zu spielen. "Aus Rücksichtnahme auf den angegriffenen Gesundheitszustand des Generalsekretärs", wie es heißt.


"Aber eigentlich haben die uns ja gelobt", zweifelt der Sänger und Komponist aus der Distanz eines Jahrzehnts am Wirkungsgrad der eigenen Widerständigkeit. Von wegen aufgemuckt, von wegen zuviel riskiert. Kopfschüttelnd nur hat Herzberg seine Stasi-Akte lesen können: "Wir glaubten, wir machen Aufruhr, und die lachten sich kaputt." Viel zu harmlos sei er gewesen, viel zu versteckt seine Kritik. "Genau genommen müssten wir uns alle schämen."


Noch schlimmer war nur das Erwachen danach. Beim Versuch, den neuen Markt zu erobern, entdeckt eine West-Plattenfirma André Herzberg als "Westernhagen des Ostens" und offeriert einen hochdotierten Vertrag. Pankow, plötzlich ohne Feinde, sind ohnehin am Ende. Beinahe gleichzeitig mit der DDR löst sich die DDR-kritischste der großen Ostrock-Kapellen auf. Der Solokünstler Herzberg aber, die "Kiefer im märkischen Sand" (Liedtitel), ist kein Westernhagen. Das neue Publikum in den alten Ländern mag seinen schnoddrigen Humor nicht. Für die alten Fans in den neuen Ländern aber mag er nicht die alten Hits repetieren. "Sing' noch mal ,Rock 'n' Roll im Stadtpark'", rufen die Leute. André Herzberg spuckt Verachtung. "Mein Gott, mehr wollten die nicht."

Der Mann in der überstrapazierten Jacke ist biestig geworden auf die Welt da draußen vor seinem Prenzelberg-Bau, den er mit Sohn Max (18) bewohnt. Der Beruf des Künstlers sterbe aus, um Erfolg zu haben, müsse man den Idioten spielen oder sein Publikum verachten. "Ich kann beides nicht", erzählt er und rollt sich eine dünne Zigarette zum Tee. Der ist bezahlt, auch den morgen wird er bezahlen können. "Was will ich mehr?"


Seine Ziele stecke er neuerdings in kürzerer Entfernung, das Publikum, das ihn verlassen hat, vermisse er kaum. "Ich mache jetzt viel fürs Theater: ein Musical in Leipzig, ein Volksliederabend in Magdeburg, eine Revue in Saarbrücken." Auch dass sein Freund und Gitarrist Ehle ihn eine ganze Karriere lang als IM Peters an die Stasi verriet, hat der Sänger weggesteckt in ein kleines Kummer-Kästchen, das geschlossen bleibt. Viel schlimmer, lenkt er ab, habe ihn die Tatsache getroffen, dass Ehle nicht von selbst die Kraft fand, darüber zu sprechen. "Doch das passt ja ins Klima."


Alles Lüge, überall Falschheit. "Zuerst belügen dich die Eltern, dann der Lehrer, dann die Regierung, dann deine Frau." Besser lässt er sich nicht beschreiben, der Kosmos des André Herzberg, von dem sein Eigentümer nicht weiß, "wie viele Leute hier drin noch Platz haben". Viele können es nicht sein. Die öffentliche Spur des André Herzberg verliert sich so zwischen Pankow-Comeback-Versuchen, einem beeindruckend unverbogen absolvierten MDR-Moderatorenjob, gelegentlichen Stadtfest-Gastspielen und langen Israel-Reisen.


Schwere Zeiten, in denen der störrische Einzelgänger jeden Tag versucht, den Kopf oben zu behalten. Herzberg hat angefangen, Geschichten zu schreiben. Geschichten zwischen Wohnzimmertherapie und Selbstautopsie, die zu Zeiten spielen, als der Mülleimer runtergebracht sein musste, ehe Mutti kam, und Vati abends noch mal wegging zur Parteiversammlung.


"Ich webe mir ein eigenes Bild, um mich zu erkennen", spricht er ohne Pathos von einer "Reise ins Ich". Demnächst sollen seine Erzählungen als Buch erscheinen - und vor Vorfreude leuchten die dunklen Pupillen. Doch doll ändern wird das nichts, da ist Herzberg Realist. Auch die "gesunde Portion Pessimismus", mit der sich der Künstler im Alltag bewaffnet, als ersehne er, positiv überrascht zu werden, führt nicht vorbei an der Erkenntnis: "Alles fliegt auseinander."

André Herzberg hat sich den Clown aus dem Gesicht geschminkt und den Rebellen in Rente geschickt, der Amiga-Chef Büttner irgendwann nach der Wende noch eine Torte ins Gesicht geballert hatte. Zu den Pankow-Kollegen hat er kaum noch Kontakt, die Erfolgsaussichten eines Comebacks hält er für bescheiden, "wenn ich nicht gerade sterbe wie die Danz und Gundermann". Für ein fertiges Solo-Album jedenfalls, "mit richtigen Liedern, die nicht nur wie so ein trockener Husten durchs Ohr rollen", hat André Herzberg bisher keine Firma gefunden. Vielleicht hat er aber auch gar nicht richtig gesucht.




Mittwoch, 19. August 2015

Mörder-Duo auf der Spur der Schweine

Die Krimi-Königin Anne Holt hat wieder ein Buch mit ihrem Bruder geschrieben.

Das US-amerikanische Cleveland. London auf der englischen Insel. Und Baerum bei Oslo - wenn die norwegische Krimi-Queen Anne Holt einen Thriller schreibt, dann internationalisiert sie gern. Die Handlung springt über Kontinente, der FBI-Ermittler müht sich mit Fällen in Skandinavien ab und der kleine Mord steht gern in einem großen globalen Zusammenhang.

Auch in „Infarkt“, dem zweiten Buch, das die Auflagenmillionärin aus Larvik zusammen mit ihrem Bruder Even geschrieben hat, hängt alles mit allem zusammen. Ein spektakulärer Kunstraub bringt den millionenschweren Unternehmer Najib Aysha um drei wertvolle Gemälde, außerdem sterben in einem von Aysha ausgehaltenen Fußballklub durchtrainierte Sportler an seltsamem Herzversagen.

Die norwegische Kardiologin Sara Zuckerman, vor fünf Jahren schon im ersten Holt&Holt-Roman „Kammerflimmern“ Hauptperson, wird gebeten, sich um die Lösung des Rätsels zu kümmern.
Die Arbeitsteilung unter den Holts ist klar: Even Holt, hauptberuflich Chefkardiologe eines Osloer Krankenhauses, liefert die fachlichen Hintergründe. Anne Holt, seit ihrem Debütroman „Blinde Göttin“ vor fast 25 Jahren eine zuverlässige Lieferantin hochwertiger Thriller-Kost, sorgt für Handlungsablauf, Spannungsaufbau und Personenzeichnung.

Auf den knapp 450 Seiten von „Infarkt“ funktioniert das hervorragend. Anne Holt, studierte Juristin, Ex-Fernsehjournalistin und danach sogar eine Zeit lang norwegische Justizministerin, schreibt in dem flüssigen US-Thrillerstil, den auch Stars wie James Patterson oder Hakan Nesser pflegen. Auf knappe Dialoge folgen pointierte Beschreibungen von Orten und Seelenlagen; Schauplätze, handelnde Personen und Blickwinkel wechseln im Kapiteltakt. Und sobald eine offene Frage beantwortet ist, wird der Leser mit wenigstens zwei neuen konfrontiert.

„Pageturner“ nennen die nie um blumige Bezeichnungen verlegenen Amerikaner diese Art von Büchern, die beste deutsche Übersetzung dafür ist vielleicht „Saugschmöker“: Ein Buch, das sich, einmal angefangen, nicht mehr aus der Hand legen lässt.

Bei den beiden Holts treibt die Ahnung auf dunkle Abgründe irgendwo in der Vergangenheit die Neugier. Statt andauernder Schießereien, Explosionen und viel Blut vertrauen die ehemalige Polizeijuristin und der Arzt auf den Thrill, der beim Abtauchen in moralische Abgründe entsteht. Es geht um Dopingschweinereien, um Geheimdienste, um die Unmoral, die jedem professionell betriebenen Sport innewohnt, und um Wissenschaftler, die ihr Gewissen im Namen des Fortschritts für viel gutes Geld verkaufen. „Infarkt“ ist ernst gemeinte Unterhaltungsliteratur. Ein Strandbuch, das Schatten spendet.