Samstag, 18. November 2017

Lebender Toter: Das Julius-Kühn-Haus steht immer noch


Vor sieben Jahren der Abrissbeschluss, vor fünf Jahren das definitive Aus. Und doch steht das als Julius-Kühn-Haus bekannte große Gebäude am Eingang der Ludwig-Wucherer-Straße immer noch. Innen ist die Zeit stehengeblieben: Hörsaalmöbel und Labortische, hallende Treppenhäuser und Einbauschränke stehen im hellen Licht, das durch große Fenster fällt. Sprayer haben überall Spuren ihrer mangelnden künstlerischen Fähigkeiten hinterlassen. Trinker dagegen leeren Flaschen, Kippen und vergammelte Decken.

Die früher hier beheimatete Naturwissenschaftliche Fakultät ist an den Weinbergcampus gezogen, dort ehrt ein nach Julius Kühn benannter Hörsaal das Andenken des Institutsgründers. Auch der "Bauernklub", der Generationen von Studenten zu Gästen des langestreckten Gebäudes in der Ludwig-Wucherer-Straße 82 machte, ist weg, umgezogen in die Innenstadt. Das Parkhaus aber, das im Zuge des Steintor-Umbaus am Standort des Kühn-Hauses entstehen sollte, wurde bis heute nicht gebaut.

Stattdessen hat eine Erweiterung der Verkehrsführung auf eine neugebaute Gudrun-Goeseke-Straße das nach dem Begründer des Instituts für Agrar- und Ernährungswissenschaften benannte Haus in einer seltsamen Insellage zurückgelassen. Hinten läuft jetzt der Verkehr. Vorn spannt sich zwischen dem Uni-Gebäude auf der anderen Straßenseite und der leerstehenden Ruine eine Fußgängerzone ohne Café, ohne Läden, Kneipen oder sonstige Anlaufpunkte.

Die älteste agrarwissenschaftliche Lehr- und Forschungsstätte einer deutschen Universität, deren Geschichte bis 1863 zurückreicht, ist eine lebender Toter. Anfangs wurde noch ein Nachnutzer gesucht, später verlegten sich die Planungen auf den Ersatz durch ein Parkhaus für den gegenüberliegende Steintor-Campus. Passiert aber ist nichts. Zwar gehört der Gebäudekomplex dem Land Sachsen-Anhalt. Aber weil auf dem Grundstück des Kühn-Hauses vermögensrechtliche Ansprüche von Alteigentümern liegen, die offenbar bis heute ungeklärt sind, steht in den Sternen, wann das Gebäude wirklich abgerissen wird.

Dienstag, 14. November 2017

Dan Brown: Gott ist eine künstliche Intelligenz


Der amerikanische Auflagenmillionär Dan Brown setzt die Serie seiner Bücher um den Symbol-Forscher Robert Langdon mit dem neuen Buch "Origin" gewohnt temposcharf fort.

Ein wenig Glück gehört dazu, doch das Glück, das den früheren Englischlehrer Dan Brown zu einem der erfolgreichsten Schriftsteller der Welt machte, ist eines der sorgfältig geplanten Art. "Origin", Browns soeben erschienener fünfter Thriller um den Ikonologen und Symbol-Forscher Robert Langdon, spielt in Spanien. Zufällig ein Land, das derzeit nicht nur in der Fiktion, sondern ganz wirklich durch schwere Zeiten geht.

Dan Brown, 53 und vor knapp 15 Jahren mit seinem vierten Buch "The Da Vinci Code" (deutsch "Sakrileg") in die Sphäre der globalen Auflagenmillionäre aufstiegen, kommt so etwas gut zu pass. Denn die Methode des Mannes aus New Hampshire, der als ältestes von drei Kindern eines Mathematikers in der Nähe von Boston aufwuchs, hat sich seit dem ersten Auftritt von Robert Langdon im Buch "Illuminati" nicht geändert. Es geht hier immer um alles. Das Schicksal der Welt ist von dunklen Mächten bedroht, eine Brotkrumenspur aus geheimen Zeichen nur kann den rein zufällig in die Kabale verwickelten Langdon dorthin führen, wo sich alle Rätsel lösen, die gelöst werden müssen, um die Menschheit zu retten.

Ehe der US-Amerikaner, Jahrgang 1964, zu einem der weltweit erfolgreichsten Schriftsteller wurde, arbeitete der Sohn eines Mathematikprofessors aus New Hampshire als Englisch- und Spanischlehrer, feilte an einer Musikerkarriere und schrieb nach Feierabend. Mit Mitte 30 konnte Brown auf eine einzige Veröffentlichung verweisen, das Ratgeberbüchlein erschien unter Pseudonym und verkaufte sich schlecht.

Mit dem Überwachungsthriller "Diabolus" änderte Brown seinen Stil, wurde dafür aber zeitweise vom Geheimdienst NSA überwacht. Immerhin begeisterte Brown einen Großverlag für sein Thrillerdebüt. Für den Nachfolger "Illuminati" konnte er sich ausgiebige Recherchen leisten. Das erste Buch um den Symbolistik-Professor Robert Langdon wurde ein Welterfolg und später mit Tom Hanks in der Hauptrolle verfilmt.

Wie üblich bei Brown schildern nun auch die 672 Seiten des fünften Langdon-Thrillers einen überschaubaren Zeitraum von wenig mehr als einem Tag in einer Krisensituation. Edmond Kirsch, ein früherer Student Langdons, der zum genialen Wissenschaftsunternehmer geworden ist, plant anfangs, die Menschheit mit wegweisenden Erkenntnissen über die Existenz Gottes, die Herkunft des Menschen und seinen Weg in die Zukunft vertraut zu machen. Ein globales Event, dessen Botschaft die Macht der Religionen für immer zu brechen verspricht, wie der nach dem Vorbild real existierender Dotcom-Milliardäre modellierte Vordenker glaubt.

Doch mitten in der Präsentation geschieht es. Ein Mann in Admiralsuniform schießt Kirsch nieder. Langdon wird ebenso Zeuge wie die bildhübsche Moderatorin der Show, die nebenher auch noch die Verlobte des spanischen Kronprinzen ist.

Eine Ausgangslage, die Dan Brown Gelegenheit gibt, alle seine Trümpfe auszuspielen. Es gibt Verfolgungsjagden und Verschwörertreffen, religiöse Führer sterben, wer Freund ist und wer Feind verschwimmt zusehends, während der Symbol-Forscher und die Verlobte des Prinzen durch Spanien rasen, um das Geheimnis um den Ursprung aller Dinge aufzudecken, das der Ermordete mit der ganzen Welt hatte teilen wollen.

Brown, der das Sujet des Verschwörungsthrillers mit seinen Bestsellern "Illuminati", "Sakrileg", "Symbol" und "Inferno" neu definiert hat, löst sich in "Origin" - zu Deutsch so viel wie "Ursprung" - von der engen Bindung an Religion, Kirche und Vergangenheit. Obwohl die Schnitzeljagd der beiden Helden unter der steten Bedrohung durch augenscheinlich religiös motivierte Killer steht, geht es in Wirklichkeit um etwas anderes als den Kampf zwischen Gläubigen und Nichtmehr-glauben-Könnenden.

Dan Brown, immer schon ein Verfechter der Wissenschaft, ohne deshalb ein Feind der Religionen zu sein, nutzt die Atempausen der Handlung, um seine Leser auf eine Reise in Philosophie- und Architekturgeschichte mitzunehmen. Kurzweilig referiert er dann über die für "Origin" extrem wichtige Entwicklung künstlicher Intelligenz, die Gegenkirche der Palmarianer, die Sitten am Königshaus und die Kathedrale Sagrada Família in Barcelona. Ehe wieder geschossen wird.

Brown schafft so eine Art Bildungsthriller, der funktioniert wie Hustensaft in Zucker: Eigentlich schwer zu schluckende Kost wird zu purer Unterhaltung, die sich weglöffelt wie ein Strandeis. Ein Lesespaß bis zum Schluss. Demnächst dann mit Sicherheit auch wieder im Kino.



Samstag, 11. November 2017

Zwei Jahre, unvergessen


Ich bin nicht hier, um zu gewinnen,
ich bin am Leben, um es zu verlieren.
Wo nichts verloren wird, ist nichts zu finden,
wer sich wärmen will, muss erstmal frieren.

Gerhard Gundermann



Beim Fußball hat er immer im Sturm gestanden. Natürlich im Sturm, ganz vorn, wo die Tore gemacht werden. Steffen Drenkelfuß war kein fleißiger Läufer, keiner, der das Spiel lenken wollte. Hier nicht. Hier, auf dem Platz, war er der, der seinen wuchtigen Körper mit ein paar schnellen Schritten in Position brachte und abschloss. Er war zielsicher, er war zur Verwunderung seiner Gegenspieler sogar schnell. Er war genau der, der er sein wollte. Ein Macher, ein Vollender. Ein Mann, der seinen Platz hatte und ihn ausfüllte.


Im Leben hat Steffen Drenkelfuß nach diesem Platz gesucht. Er liebte die lauten Runden, in denen über Gott und die Welt geredet wurde, die Abende am Lagerfeuer, an denen immer noch ein letztes Bier getrunken wurde, ehe es ins Zelt ging. Begann er zu erzählen, von den wilden Zeiten im Café Fusch, von seinen Reisen nach Afghanistan und Russland, von den Geschichten aus der Geschichte, die er liebte wie vielleicht kaum etwas sonst, dann wurden die Runden leise und alle hörten zu. Steffen Drenkelfuß war dann ein Menschenmagnet, ein wortgewandter Welterklärer, der allen einfachen Wahrheiten misstraute, weil er aus der Geschichte, die für ihn immer auch die Lebensgeschichte seiner geliebten Großmutter war, wusste, dass die Dinge nie einfach sind.

Steffen Drenkelfuß hielt es weniger mit den Gewinnern, die die Geschichte schreiben. Sein Herz schlug für die Verlierer, für die, die es versucht hatten und gescheitert waren.

Für sich selbst sah er das nicht vor. Meister seines Lebens zu sein, ein Mann, der seinen Weg geht, das war das Bild, das er von sich selbst hatte. Steffen Drenkelfuß war der Mann auf dem Kapitänsplatz hinten im Paddelboot, wenn es nach Schweden oder Polen ging. Tagsüber fuhr er ganz vorn im ersten Boot und abends war er der, der die Härten des Outdoorlebens bei jedem Wetter in vollen Zügen genoss – am liebsten nur in eine Plane gewickelt, der er seit der Armeezeit die Treue hielt. Er war ein Romantiker, er schlief auf einer Matte, die dreimal geflickt war, denn er hing an Dingen, die gelebt hatten.

Lange suchte er auch nach dem Ort, an dem er seine Fähigkeiten zeigen und verwenden konnte. Zum Glück für alle, die er auf seine Reise von der Universität zur Zeitungsredaktion, zum MDR und in die Stelle als Sprecher eines italienischen Hightech-Unternehmens mitnahm. Legende ist seines raue Imitation eines früheren MDR-Chefs, den er mit blitzenden Augen nachahmte. Auch seine absurden Anekdoten aus dem halleschen Rathaus hätten es verdient gehabt, ein Buch zu füllen. Und nie ließ er einen Zweifel daran, wie sehr er Falschheit und Größenwahn verachtete, wie sehr es ihn traf, wenn Aufschneider und Heuchler das Sagen hatten.

Steffen Drenkelfuß hätte es nie zugegeben, weil er sich für einen Realisten hielt. Doch er träumte von einer Welt, in der Leistungen zählen und nicht Bürokratie, Falschheit und das, was er Geschwätz nannte. Er selbst hat auf sich nie Rücksicht genommen, um seinem eigenen Anspruch an Leistung gerecht zu werden. Er arbeitete, akribisch, ausdauernd. Und wenn Freunde ihn brauchten, als Computerexperten, als Zuhörer, als Freund, war er da. So sehr, dass er oft den Vorwurf hörte, dass er nicht vergessen solle, dass da noch ein anderes Leben im Leben sein müsse.


Aber auch das hatte er, etwa wenn er am Pool bei seinen Eltern auf der Sonnenliege saß und bei einem Bier Gespräche mit seinem Vater  führte. Wenn er in Oebisfelde auf Fotopirsch zur Grenzerbank ging, aus der er mit seinen Bildern ein Kultmotiv machte. Oder wenn er abends zu Hause saß und über Max Höltz, Ernst Ottwalt oder Nestor Machno las. Bücher, die ihn beeindruckten, konnte er kapitelweise auswendig nachsprechen. Mit Gesten und ganzem Körpereinsatz holte er die Vergangenheit dann ins Heute. Er war begeistert und begeisterte andere. Er war lebendig. Er war glücklich.

Auch in der Musik. Er war dann melancholisch, romantisch, still. Gerhard Gundermann, Christian Haase, Natalie Merchant waren seine Säulenheiligen, immer wieder fand er aber auch zurück zum Punk seiner Jugendjahre. Den zornigen jungen Mann, der er damals gewesen war, trug Steffen auch jenseits der 40 noch irgendwo in sich. Milde können andere sein, sagte er. Steffen urteilte präzise und schnell, sein moralischer Kompass schlug sicher aus, und wenn er eine Position gefunden hatte, dann verteidigte er sie vehement. Bis das letzte Bier ausgetrunken und das Feuer zu kalter Asche heruntergebrannt war.

Steffen Drenkelfuß ist am 11. November 2015 gestorben.
Er ist nur 45 Jahre alt geworden.

Steffen Drenkelfuß bei Facebook

Donnerstag, 9. November 2017

DDR-Klassiker zum Mauerfall: Damals hinterm Mond


Lach- und Sachgeschichten aus einer DDR, wie sie vielleicht gewesen sein könnte. Auf jeden Fall viel lustiger als das Original. Und heute schon ein Klassiker der Erinnerungsliteratur.

Es ist nicht viel passiert damals, ehrlich gesagt. Bisschen Einschulung, bisschen erste Freundin. Bisschen Sex, bisschen Schulhof-Geschubse, bisschen FDJ. Erste Gitarre, erste Zigarette. Erster schwerer Kopf auch. Ansonsten Pickel, Sorge um den Weltfrieden, Sportunterricht. Und all das nachmittags auf der Parkbank gemeinsam bequatschen, bis es zu einem sämigen Brei gekaut war.

Es gibt nicht viel zu berichten aus dieser Zeit, damals hinterm Mond, im ersten sozialistischen Arbeiter-und Bauernstaat DDR. Jakob Hein aber erzählt es mit großem Talent und bemerkenswerter Hingabe an skurrile Details. "Mein erstes T-Shirt", das bereits 2003 erschienene Debütbändchen des an der Berliner Charité praktizierenden Psychiaters, ist eine Art "Sonnenallee" für die Kinder der 80er Jahre, dieser "grauen Zeit" (Hein) mit ihrer "schrecklichen Musik".

Seltsame Zeiten zwischen "Tatort" im Westfernsehen und sturmfreier Partybude waren das, mit heutigen Maßstäben fast nicht zu fassen. Das T-Shirt war selbstverständlich ein Nicki damals hinterm Mond, der Sportlehrer schmiss mit einem fetten Schlüsselbund nach schwatzenden Schülern und die Staatssicherheit bezahlte das Bier.

In lakonischen Sätzen geht der gebürtige Leipziger auf Entdeckungstour in der Erinnerung, und was ihm dabei unter die Schreibmaschine geraten ist, verdient durchaus das Prädikat "amüsant und unterhaltsam". Hein, ein guter Freund des gefeierten "Russendisko"-Autoren Wladimir Kaminer, bleibt bei der Wahrheit in seinen kurzen Storys. DDR-Jugend pur gibt es hier, ungeschnitten und ohne Overdubs: Die Suche nach dem Netzhemd zum Über-den-Pullover-Ziehen wird beschrieben, die Jagd auf geeigneten Alkohol für ein Privatbesäufnis im Kinderzimmer.

150 Seiten lang schichtet der 30-Jährige kurze Sätze zu knochigen Geschichten zusammen, die nie "so war das" krähen oder sich prustend auf die Schenkel klopfen. Jakob Hein ist wie ein Thomas Brussig ohne dessen ausgestellte Nettheit; wie ein Jörg Mehrwald ("Bloß gut, dass es uns noch gibt") ohne dessen zuweilen gezwungen wirkende Komik.

Komisch waren wir schließlich selber, damals hinterm Mond. Beim Schulhofappell und im Wehrkundeunterricht, als Befreiungskartenschreiber für Angela Davis und als Udo-Lindenberg-Fans. Jakob Hein nun muss nicht viel mehr tun als Atmosphäre schaffen und seine Geschichten mit den unerlässlichen Details ausstaffieren: Ein Lolli-Lutscher hier, ein Schimpfwort dort -und stickum ist die Community der ehemaligen Diskojeans-Träger und "Duett - Musik für den Rekorder"-Hörer unter sich.

Ein Ostbuch ist das, zweifellos, und im Duktus eine Mischung aus "Fänger im Roggen" und Ottokar Domma zudem. Jakob Hein, von Kaminer als "geheimnisvoller Mensch" beschrieben, der in der DDR "wie so viele andere auf beiden Seiten der Barrikade kämpfte", erklärt nicht, er setzt voraus. Dass seine Leser wissen, was die "Poesiealbummode" war. Dass der Name der Fernsehsendung "Gixgax" eine Saite in ihnen zum Schwingen bringt. Und dass sie noch wissen, wie das gewesen ist: In der Annahmestelle für Sekundärrohstoffe zu stehen und unter den gestrengen Blicken des staatlich bestallten Altstoffwartes Aluminiumringe von leeren Schnapsflaschen abknaupeln zu müssen. Im Dienst von Frieden und Völkerfreundschaft auch noch, streng genommen.

Anders Sozialisierte müssen da zwangsläufig draußen bleiben. Kein Chance für sie, Heins gallige Erklärungen für "sozialistischen Realismus" oder den pubertären Leistungsknick nachzuvollziehen. Vielleicht aus diesem Grund sind zwischenrein einige Geschichten gestreut, die einen Arm bis ins Heute strecken.