Ach, wissen Sie,
ich weiß das gar nicht genau, was ich dachte. Aber ich glaube, es war eine Art
eigene Blindheit. Ich hatte nur ein Ziel – das habe ich immer
gesagt: Wenn ich die Möglichkeit habe, frei politische Verantwortung
zu übernehmen, dann mache ich das ohne Wenn und Aber. Und genau das
habe ich getan. Das steht zweifelsfrei fest. Ich gehe auch davon aus,
dass mit mir wesentliche Dinge in Gang gesetzt wurden – vielleicht
nicht der erste Schritt zur Währungsunion, aber sicherlich andere
wichtige Entwicklungen. Die Allianz für Deutschland war ein
entscheidender Faktor, das muss man nennen. Ich glaube, die
Markierungspunkte für die Einheit Deutschlands – nicht nur die
formale Einigung – wurden auch durch die Person Helmut Kohl
verkörpert. Durch ihn ist vieles zusammengekommen. Das wird oft
übersehen. Aber ich war ja derjenige, der für den Demokratischen
Aufbruch in einer schwierigen Anfechtungsphase stand. Damals habe ich klare Positionen bezogen.
Das führte etwa dazu, dass Pfarrer Schorlemmer sich zurückzog und
mir Vorwürfe von Rechtslastigkeit gemacht wurden. Man muss
das nüchtern betrachten: Nachdem es kein einheitliches Wahlbündnis
gab, haben sich die neuen Kräfte nicht zusammengeschlossen. Jeder
wollte seine eigene Geschichte schreiben, jeder glaubte, er würde
siegen. Das war dann nicht mehr diese gemeinsame Euphorie. Es hatte viel mit
Macht zu tun – das muss man klar sagen.
Frage: Sie meinen, Sie
haben sich bemüht, ein Wahlbündnis zu schaffen?
Schnur: Ja, genau. Für
den Demokratischen Aufbruch kann ich sagen: Wir haben lange versucht,
die neuen Kräfte zusammenzubringen. Ich glaube, das scheiterte
letztlich an der damaligen SPD. Die hatte mit 75 bis 80 Prozent in
den Befragungen so ein Gewicht, dass sie nicht teilen wollte. Dann
fielen bei mir politische Entscheidungen: Ich sagte, gut, dann wenden
wir uns der CDU zu. Das passte von der Programmatik und meiner
eigenen Einstellung her. Für uns im Osten war das alles völlig neu,
aber ich habe mich schnell zurechtgefunden. Man musste Allianzen
schmieden – nicht nur die Allianz für Deutschland, sondern
persönliche Allianzen. Die richtigen Leute an die richtigen Stellen
setzen. Wir waren Lehrlinge in diesem Geschäft, und das zeigte sich
auch in der Allianz für Deutschland: Es gab Eitelkeiten. Nicht nur
die Frage, wer besser mit Helmut Kohl kann, sondern wer sich
durchsetzt. Ich bekenne mich dazu: Der Auftritt in Halle mit meiner großen Rede und der Ankündigung, hier stehe der nächste Ministerpräsident, das war ein wichtiger
Ausgangspunkt, wo ich meine Ziele manifestiert habe. Ich sagte immer,
ich will Ministerpräsident werden – das habe ich in dieser
historischen Stunde gesehen.
Frage: Stehen Sie dazu
auch heute noch?
Schnur: Ja, absolut. Wenn
man ein politisches Amt ausübt, muss man den Menschen sagen, was man
will. Die Wähler sollten wissen, woran sie sind. Allerdings fehlten
uns damals viele Beurteilungsfähigkeiten. Wir dachten, die
wirtschaftliche Lage der DDR sei nicht so marode, wie sie dargestellt
wurde – oder wie sie sich später herausstellte. Ich glaube, der
Demokratische Aufbruch hatte ein Wahlprogramm, das einem Marshallplan
für die DDR entsprochen hätte. Ehrlich gesagt bedauere ich, dass
ich daran nicht stärker beteiligt war. Mit meinen Kontakten zur
Wirtschaft hätte ich das vielleicht voranbringen können.
Frage: Haben Sie das
damals beobachtet, oder saß der Schock danach so tief?
Schnur: Ich könnte mir
vorstellen, dass andere sich zurückziehen und konsterniert sind, wenn so
etwas passiert. Aber ich muss sagen: Erstens war ich über ein Jahr
lang krank. Ich bin an der ganzen Situation zusammengebrochen –
Herzinfarkt oder nicht, es war pure Erschöpfung. Ich hatte mich nie geschont. Von einer Veranstaltung zur nächsten, immer unterwegs.
Dabei habe ich Menschen kennengelernt, die jahrzehntelang im Stillen
für andere da waren. Meine Haftbesuche waren keine großen
öffentlichen Aktionen. Vielleicht kam mal ein Prozess in die
Öffentlichkeit, aber meist durch den Westen. Stille Diplomatie war
oft notwendig. Ich habe neulich Zeitungsartikel gefunden, die
belegen, dass ich etwa 30.000 Menschen in den Westen gebracht habe,
ohne dass sie die Qual einer Inhaftierung durchmachen mussten. Es
setzt bitter an, wenn mir dann die Anwaltszulassung wegen angeblicher
Verletzung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit entzogen wird. Für mich stellt sich die Frage:
Was war wichtiger – Menschen davor zu bewahren, zugrunde zu gehen,
oder sie vor Haft zu schützen? Für mich ist das eine klare Sache.
Frage: Würden Sie sagen,
diese Kontakte waren damals ein Mittel, um Verbündete zu gewinnen?
Schnur: Ich bin freiwillig meine
Verbindung zur Staatssicherheit eingegangen. Es war eine bewusste Entscheidung.
Frage: Aber Sie haben mal gesagt, Sie seien sehr
jung gewesen...
Schnur: Ja, sehr jung.
Aber das hatte einen anderen Hintergrund. Ich wuchs als Vollwaise in
der DDR auf. Mit 16 fand ein Kinderarzt, ein Freund meines Vaters,
heraus, dass meine leibliche Mutter noch lebt – im Westen der
Bundesrepublik. Das war ein Schock: Mein ganzes Leben hätte anders
sein können! Ich hatte eine starke Bindung zu meinen Pflegeeltern,
aber der plötzliche Tod meines Pflegevaters war ein Bruch. Meine Pflegeeltern waren ehrlich: „Dass du bei uns bist, ist eine Folge des Krieges.“ Ich erlebte am eigenen Leib, was Krieg anrichtet. Aber da war die
Sehnsucht, meine leibliche Mutter kennenzulernen, war da, aber ich
dachte: Sie hätte ja kommen können, es war ihr nicht verwehrt. Kurz
vor dem 13. August 1961 ging ich über Westberlin zu ihr. Dann wurde
ich krank und blieb bis Oktober 1962 dort. Plötzlich hatte ich das
Bildungssystem der BRD vor mir. In der zehnten Klasse nannte ich
meinen Geschichtslehrer einen Nazi, weil er die Geschichte anders
darstellte als in der DDR. Das führte zu Konflikten. Letztlich
landete ich wieder in einem Heim im Westen. Meine Mutter hatte Angst,
die Spannung war zu groß. Ich war für sie ein wandelnder Vorwurf,
auch wenn ich das nicht wollte. Erst 1993, an ihrem
Sterbebett, kam es zur Versöhnung. Sie konnte mir nicht sagen, dass
sie mich liebt, aber sie tat viel für meine Kinder. Später erfuhr
ich, dass sie Jüdin war – das war bitter. Sie muss Qualvolles
durchgemacht haben. Dieser Spannungsbogen trieb mich damals jedenfalls zurück in die
DDR. Dort wurde ich kontrolliert, musste mich bewähren und landete
im Gleisbau. Aber das war für mich eine tolle Zeit: Ich war
wissbegierig, las viel, zeigte politisches Interesse. In der
Pionierorganisation und FDJ war ich immer vorne dabei. Ich vermute,
das hat tiefe Wurzeln in meiner jüdischen Herkunft.
Frage: Werfen Sie sich
heute Fehler vor?
Schnur: Über die Jahre
mit dem Ministerium für Staatssicherheit kann ich nicht sagen, dass
alles fehlerfrei war. Das wäre naiv. Ich erkenne heute, dass meine
Tätigkeit auch missbraucht wurde – das kann ich nicht
wegdiskutieren. Deshalb stehe ich dazu. Wenn ich mich zum
Grundgesetz der Bundesrepublik bekenne, ist das eine klare
Entscheidung. Dann sollten andere darüber urteilen – vor allem die
Wähler, wenn ich mich zur Wahl stellte. Ich finde es fatal, dass
führende Funktionäre des ZK und Politbüros anders behandelt wurden
als Menschen wie ich oder andere, die nur ein kleiner Teil des
Systems waren, ohne Machtentscheidungen zu treffen. Wir haben in
dieser Diktatur gelebt, die heute fast verleugnet wird.
Frage: Wie sehen Sie das?
Schnur: Wenn man jemanden
wie mich in die IM-Situation stellt, frage ich: Wer hatte damals den
Lösungsweg? Wie kommt man in den Westen, ohne kriminalisiert zu
werden? Ohne die Staatssicherheit war das kaum möglich. Man musste
jemanden mies machen, um ihn rauszubringen. Gleichzeitig muss ich
zugeben, dass das MfS durch mich Informationen über kirchliche
Begegnungen bekam. Deshalb sage ich: Man muss sich zur persönlichen
Schuld und Verantwortung bekennen. Ich stelle mich jedem fairen
Verfahren. Es wurde ja auch eines geführt – rechtskräftig, nicht
wegen politischer Verfolgung, sondern nach dem Strafgesetzbuch der
Bundesrepublik. Fatal finde ich, dass Originalunterlagen, die mich
hätten entlasten können, nicht beigezogen wurden. Ich wurde
verurteilt, habe die Bewährungsstrafe verbüßt und muss das
akzeptieren. Aber die Bitterkeit über den Entzug meiner
Anwaltszulassung bleibt. Das führt zu inneren Spannungen und
Kämpfen. Dennoch darf ich nicht so
anfangen wie früher und sagen: „Das war alles nicht so, ich wurde
gezwungen.“ Das wäre Unsinn. Sehen Sie Joschka Fischer, der für sich in
Anspruch nimmt, mit seiner Vergangenheit gebrochen zu haben. Wenn man
sich zu seiner Sache bekennt, sollte die andere Seite Respekt zeigen
und nicht das Unmenschliche herausstellen. Aber es wird eben weiter
mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen.
Frage: Ihre Akten sind
also ein Beweis?
Schnur: Ja, ich bin froh,
dass sie existieren. Sie dokumentieren die komplizierte politische
Situation in der DDR. Besonders ab 1975 wurde meine Zusammenarbeit
mit dem MfS intensiver – etwa nach der Ausbürgerung von Wolf
Biermann 1976. Da stand ich vor der Frage: Gehe ich diesen Weg
weiter? Ich traf Menschen mit anderen politischen Auffassungen –
Brandt-Anhänger, die einen sozialdemokratischen Sozialismus wollten,
eine bessere DDR. Ich fragte mich: Wenn ich jetzt aussteige, verliere
ich vielleicht meine Anwaltszulassung. Das war eine reale Angst. Ursprünglich wollte ich
gar kein Jurist werden, sondern in die politische Laufbahn –
Nachfolger von Egon Krenz, wenn man so will. Aber das Schicksal kam
dazwischen: Meine Mutter lebte plötzlich in der BRD, und ich
erfüllte die Nomenklatur nicht mehr. Das war ein klarer Bruch in
meinem Lebensplan, in der DDR Politik auf höchster Ebene zu machen.
Ich glaubte damals an den Frieden – beeinflusst durch meine
persönliche Situation, den Verlust meiner Eltern, meinen Status als
Vollwaise. Meine Lehrer zwischen der sechsten und achten Klasse
förderten meine Gaben. Ich legte mich mit dem Schulleiter an, weil
er keine angemessene Rede zum 8. Mai hielt, dem Tag der Befreiung.
Das prägte mich. Bis heute meine ich: Wir brauchen Menschen, die
sich für die Gesellschaft verantwortlich fühlen, Abgeordnete
werden, Ziele setzen. In der DDR wurde ich systembedingt zu einem
Werkzeug – das will ich nicht übersehen.
Frage: Haben Sie in den
60ern oder frühen 70ern gedacht, Sie benutzen die Staatssicherheit?
Oder merkten Sie, dass sie Sie benutzen?

Schnur: Damals hatte ich
den Irrglauben, ich würde sie brauchen. Die Beweise zeigen: Durch
meine Tätigkeit kamen Menschen nicht zu Schaden, wurden nicht
inhaftiert. Das ist ein Ergebnis. Aber heute sehe ich: Es war ein
fataler Irrtum, zu glauben, ich hätte sie benutzt. Sie haben mich
gebraucht – und auch die evangelische Kirche der DDR brauchte mich.
Durch meine pazifistische Haltung lehnte ich Gewalt ab. Ich wollte
keine Inhaftierungen, sah auch die Volkspolizisten als Menschen
unseres Staates. Deshalb reiste ich durchs Land, hielt Vorträge –
mir gehörte die ganze DDR. Denken Sie an Lothar Rochau in
Halle-Neustadt, eine wichtige Figur. Vor 2.000 jungen Menschen sprach
ich in der offenen Jugendarbeit – man hörte die Stecknadel fallen.
Mein Charisma trug dazu bei, jede Konfrontation mit dem Staat zu
vermeiden, die zu Inhaftierungen oder Nachteilen führen könnte. Ich
wollte, dass die Bürger ihre Rechte nach der Verfassung nutzen.
Frage: Sie sagten, die
Diktatur werde inzwischen geleugnet. Was meinten Sie damit?
Schnur: Ja, in der
historischen Betrachtung der DDR wird das für mich verleugnet. Die
Verfassung legte klar fest, dass die SED die Macht hatte – eine
Diktatur. Das war mein Ausgangspunkt in Vorträgen, dokumentiert auf
Tonbändern in kirchlichen Stellen. Es ging darum: Wie können wir
Bürgerrechte wahrnehmen? Wie ermutigen wir die Menschen? Die Kirche
wollte, dass die Leute in der DDR bleiben – dafür mussten wir sie
stärken, etwa Eltern in Schulfragen oder bei der vormilitärischen
Ausbildung. 1978 stieg ich intensiv in die Wehrdienstverweigerung ein
– ein Thema, das mich vorher nicht beschäftigte. Junge Christen,
Pazifisten oder politische Ausreisewillige kamen auf mich zu. Ich
kämpfte gegen das MfS: „Ihr sperrt junge Menschen ein, die
Minister werden könnten!“ Im November 1985
gelang es – keiner meiner Wehrdienstverweigerer oder Bausoldaten
wurde mehr inhaftiert, selbst wenn sie sich erst kurz vor der Einberufung
erklärten. Das war ein politischer Sieg, auch weil die DDR es sich
nicht mehr leisten konnte, anders zu handeln.
Frage: Sie verteidigen
sich also damit, dass Sie viel Gutes bewirkt haben...
Schnur: Ich bin froh,
dass meine Akten da sind. Sie belegen, wie ich etwa in Güstrow
Wehrdienstberatungen abhielt. Die Teilnehmer meldeten den
Wehrkreiskommandos ihre Haltung – wenn das nicht geschah, sagte
ich: „Geht hin, erklärt es.“ So wurde mancher Einberufungsbefehl
zurückgenommen. Bis zum Ende der DDR wurde kein
Wehrdienstverweigerer mehr inhaftiert – das ist aktenkundig. Das
MfS war bis zuletzt misstrauisch gegen mich. Ich hatte eine Autorität
erreicht, die sie störte. Sie wollten keine Konfrontation zwischen
Staat und Kirche – für die SED war die Kirche außenpolitisch
wichtig, nicht innenpolitisch.

Jedes politische Verfahren brachte der
DDR Minuspunkte. Sie mussten meine Arbeit dulden, weil der Gewinn
größer war. Ein Beispiel: Als junge
Leute der Umweltbibliothek in Berlin inhaftiert wurden, übernahm ich
ihre Verteidigung. Es gab ein Hin und Her – Hardliner wollten sie
drinnen behalten. Bei einer kirchlichen Veranstaltung erklärte ich:
„Die Generalstaatsanwaltschaft lässt das Verfahren fallen.“ Das
hätte schiefgehen können, aber in dieser Umbruchsituation klappte
es – sie kamen frei. Ähnlich war es bei den
Rosa-Luxemburg-Demonstrationen im Januar 1988. Da gab es
koordiniertes Zusammenwirken zwischen Bundesregierung, Kirche und
MfS. Ich sagte: „Ihr macht ein Eigentor.“ Das führte zu
politischen Lösungen, wie der England-Variante, nach der die Betroffenen ausreisten, aber nicht für immer und nicht nach Westdeutschland. Das MfS ärgerte sich,
wenn ich ihre Ergebnisse anzweifelte. Ich sagte: „Wenn ich
überzeugt bin, dass etwas nicht stimmt, lasse ich mir nichts anderes
einreden.“ Das ließ mich glauben, ich benutze sie – heute sehe
ich klar: Sie haben mich missbraucht. Ich würde nie zögern, es zuzugeben, falls jemand durch meine Informationen
inhaftiert wurde. Aber selbst Rainer Eppelmann schreibt in seinem
Buch, dass ich mit allen Mitteln dafür kämpfte, Menschen vor dem
Einsperren zu bewahren.
Frage: Manche, die Sie
halfen, fühlen sich heute trotzdem von Ihnen verraten.
Schnur: Das muss man mit
Verständnis sehen. Bei Freya Klirr und Stefan Krawczyk differenziere ich: Krawczyk wusste 1988, worum es ging – er
wollte seine Frau schützen, was ich respektierte. Ich wollte, dass
sie das Land verlassen, weil es keine andere Lösung gab. Niemand
dachte damals an die deutsche Einheit. Die Bedingungen damals muss
man betrachten. Ich bedauere, dass die Originalakten der beiden in meinem Verfahren nicht einbezogen wurden – sie
beweisen, dass nicht ich ihre Ausreise bewirkte, sondern Professor
Vogel im Beisein von Bischof Forke. Das Bundesministerium für
innerdeutsche Beziehungen kann das bestätigen – Frau Williams
sagte mir: „Sichern Sie allen, die in den Westen wollen, unsere
Hilfe zu.“ In Friedrichsfelde 1988 war die Situation heikel:
Antragsteller wollten zu Vogels Büro, umzingelt von Polizei. Ich
sagte: „Seid ihr wahnsinnig? Das eskaliert!“ Mit Stolpe nahm ich
Listen auf – im Konsistorium wurden sie geschrieben und die Leute
in den Westen geleitet.
Frage: Mussten Sie der
Stasi immer erklären, was Sie tun, damit sie Sie weitermachen
lassen?
Schnur: Ich hatte ein
freundschaftliches Verhältnis zu meinem Führungsoffizier in Berlin
– ein Vertrauen war gewachsen. Er wollte keinen Konflikt zwischen
Staat und Kirche, keine Gewalt. Er sagte: „Wenn du dich für uns
einsetzt, finden wir Lösungen.“ Bis September 1987 funktionierte
das. Dann änderte sich die innenpolitische Lage, und ich vertraute
ihm zu lange. Nach den Kommunalwahlen 1989 sagte ich: „Jetzt muss
sich etwas ändern.“ Aber niemand dachte damals an ein einheitliches
Deutschland – die Zwei-Staaten-Lage war fest in uns verankert. Das trieb mich, eine
politische Formation zu unterstützen. Im Sommer sagte ich bei einem
Treffen: „Wenn ich frei politisch wirken kann, mache ich das.“
Das MfS wusste davon – es steht in meinen Akten. Sie wollten mich
davon abhalten, eine Führungsposition einzunehmen. Doch die
Ereignisse überrollten das – etwa als im September 1989 junge
Menschen in Leipzig inhaftiert wurden. Ich kämpfte: „Ihr habt
nichts Unrechtes getan, wir ziehen das durch.“ Sie kamen frei. Die Bahnhofsgewalt in
Dresden, die Ablösung Honeckers – das zeigt: Ich wollte keine
Schuld mindern, sondern fand es absurd, dass Menschen, die legal in
den Westen wollten, angeklagt wurden. Ich setzte mich ein, dass das
nicht geschah.
Frage: Geben Sie sich
selbst die Schuld, dass es so kam?
Schnur: Hätte ich früher
den Schritt machen sollen und sagen, wie es war. Aber damals konnte ich das
nicht. Anfang März 1990 zog ich die Konsequenz, um ein politisches
Desaster zu verhindern. Es war meine Entscheidung – auch, weil eine
Lebenslüge wegbrach. Ich dachte nur an mein Ziel: den Wahltag, den
Höhepunkt. Hätte ich in Berlin gesagt: „Macht meine Akten weg“?
Nein, ich war so beseelt von dem, was ich tat – vom stillen Kampf
im Gerichtssaal zur Rede vor Massen in Erfurt und Halle. Diese Euphorie packte
mich. Ich merkte: Ich kann das. Ich habe das Positive meiner Arbeit
stärker gesehen – was sollte mir schon passieren? Erst als die
Akten in Rostock auftauchten, dachte ich an Rückzug. Ich wollte der
Sache keinen weiteren Schaden zufügen.
Frage: Dachten Sie, das
lässt sich wegdiskutieren?
Schnur: Nein, als
die geballten Akten da waren, sah ich die Konsequenz. Bis dahin
glaubte ich daran. Ich hinterlasse Eindruck, weil ich nie
zweifele, wofür ich kämpfe. ich glaube wirklich, was ich tue. Aber Politik ist nüchterner, schärfer,
manchmal makaber – das sehe ich heute. Ich würde morgen wieder
Verantwortung übernehmen, ohne Wenn und Aber.
Frage: Was denken Sie heute über
die DDR-Führung?
Schnur: Die hat der jungen Intelligenz
keinen Weg geebnet. Honeckers Erfahrungen aus der Hitlerdiktatur
prägten ein starres Feindbild – eine neue philosophische
Betrachtung war ihnen nicht möglich. Die Dogmatiker an den
Parteischulen hielten am Alten fest, selbst als Gorbatschow den Wandel versuchte.
Warum die Jungen keinen Aufstand machten? Die Machtstrukturen waren zu fest. Ein Kartenhaus muss komplett fallen,
nicht nur ein Teil. Wir Ostdeutschen haben den Nachteil: Wer sich zur
Vergangenheit bekennt, wird geprügelt, während Leugner Vorteile
genießen. Ich zweifle, ob wir das politische System der DDR wirklich
aufgearbeitet haben.
Frage: Haben Sie nach
Ihrem Rücktritt noch einmal mit Helmut Kohl gesprochen?
Schnur: Nein, gar nicht.
Ich zog mich zurück. Er machte keine Hässlichkeiten, keine
Vorwürfe. Er verstand, wie man zu so einer Biografie kommt, und
bewahrte mich vor Vorwürfen. Ich habe nicht geheuchelt, sondern
wie ein Wahnsinniger gearbeitet – von Veranstaltung zu
Veranstaltung. Mit ihm hatte ich ein gutes politisches und
menschliches Verhältnis. Die Allianz für Deutschland, die
außenpolitischen Gespräche mit Genscher und der Sowjetunion – das
war auch mein Verdienst.
Frage: War Ihre Wahl als Spitzenkanddiat ein taktischer Schachzug mit Kohl?
Schnur: Nein, gar nicht. Das war ein historischer Selbstlauf, getrieben von der Bürgerrechtsbewegung. Als es soweit war, war ich war machtgierig, blendete dmeine Geschichte aus. Hätte ich gesagt: „Ich habe zwei Gesichter, gebt mir eine Chance“, hätte mein Charisma vielleicht überzeugt. Aber so fragte man mich nicht: „Erläutere uns das.“ Dabei zeigen die Akten zeigen alles. Es war ein Verdienst vieler, dass die DDR keinen Bürgerkrieg wie Jugoslawien erlebte. Das MfS wurde zahm – ein Beweis, dass Kräfte politische Veränderung ohne Gewalt wollten. Zu denen gehörte ich. Aber ich hätte früher mit dem System brechen sollen.
Frage: Wie empfanden Sie mit dieser Erfahrung Kohls späteren eigenen Absturz nach so vielen Jahre, in denen er als Einheitskanzler und großer Staatsmann gewürdigt worden war?
Schnur: Als Tragik. Ich
kenne das selbst. Er war redlich, aufrichtig. Wir tragen alle ein
anderes Ich in uns. Er wollte nichts Unrechtes, sondern das Beste
fürs Land. Doch man übersieht eigene Fehler. Er war nicht
bestechbar – da bin ich sicher. Seine Politik
aus dem Bauch, besonders für Europa, war beeindruckend. Ich empfand es als schmerzlich, nicht mehr mitgestalten zu können – ich verlor viel. Ihm wird es ähnlich gegangen sein.
Frage: Wie haben Sie selbst ihren Fall verarbeitet?
Schnur: Es war ein Fegefeuer, aber ich bin bei Gott geblieben und habe gesagt: Wer weiß, wozu er mich braucht? Ich bekenne mich
zum evangelischen Glauben. Mein Freund aus Israel ist Jude – durch
Aufenthalte dort spüre ich eine Wurzel. Für mich ist Gott
existenziell: Er holte mich aus Tiefen, dafür bin ich dankbar. Es
gab Momente, wo ich sagte: „Es reicht.“ Besonders belastend war
das für meine Familie. Doch ich glaube, Gott gibt mir Wegweisung. Ich arbeite jetzt viel in Thüringen mit meinem gemeinnützigen Verein und ich sehe, wie Menschen Hoffnungen mit mir
verbinden – ohne Umschweife. In den letzten zehn Jahren überwiegt
das Bekenntnis zu meiner Arbeit die Kriminalisierung. Die Kritik ist
laut, weil sie Zugang zur Öffentlichmkeit hat. Joachim Gauck etwa will nicht einsehen, dass
ich seinen Söhnen den Weg in den Westen ebnete – ohne
Inhaftierung. Das war nur mit der Staatssicherheit möglich. Das Lob ist leise, aber ich bin es zufrieden.
Frage: Gibt Ihnen das
Kraft, noch einmal zurückzukehren, wohin auch immer?
Schnur: Warum nicht? Ich
denke politisch, lebe politisch. Ich würde zurückkehren, wenn ich
wirtschaftlich unabhängig bin. Mein Haus soll zwangsversteigert
werden, ich habe Schulden durch Fehlinvestitionen – weil ich
Menschen vertraute. Aber das ist nicht mein Grundproblem. Es macht mich
verantwortlich für die Nöte Arbeitsloser, Schwacher. Wir sind keine
Gesellschaft für die Schwachen – die Starken haben Chancen. Ich
sehe Potenzial für neue politische Verhältnisse. Das
Parteienspektrum ist in alten Mustern gefangen, ohne Anstand im
Umgang mit Gegnern.
Frage: Haben Sie Rechte am
Demokratischen Aufbruch? Am Namen?
Schnur: Nein, ich glaube nicht. Aber ich denke darüber
nach, eine neue Bürgerbewegung zu gründen – wo Kapital, Arbeit
und Mensch in Verantwortung stehen. Deutschland hat Reichtum – wir
könnten Arbeit schaffen, soziale Verantwortung wahrnehmen, Osteuropa
stärken. Ich würde ein Parteiamt anstreben, aber erst muss ich
meine Verhältnisse ordnen. Mein Hauptziel ist die Rückkehr meiner
Anwaltszulassung – dazu müssen meine Schulden weg. Selbst dann
wäre es schwer, denn ein Anwalt darf nicht in Vermögensverfall
geraten. Meine juristische Arbeit in der DDR war top – das sagen
Kollegen heute noch. Sie war ein Mittel, mit dem MfS Dinge anzugehen.
Recht und Seelsorge hängen für mich zusammen – Menschen brauchen
das heute mehr denn je. Ich hätte Zulauf, mit Leidenschaft als
Jurist. Das ist ein Geschenk Gottes.
Frage: Hat Gott viel Mühe
mit Ihnen?
Schnur: Ja, doch. Aber er war
liebevoller zu mir als andere. Die Kirche hätte zehn Jahre später sagen
können: „Er hat sich gewandelt.“ Stattdessen Blockaden. Sie
weiß, wie kompliziert es war, Menschen in der DDR zu halten oder
gehen zu lassen – etwa durch Grundstückskäufe oder Devisen. Sie
hätte eine stärkere Rolle spielen sollen. Ich wollte, dass Menschen
nicht zerbrechen, dass die DDR sozial gerechter wird. Eitelkeiten
waren da, aber auch Ideale. Ohne Ideale kann man heute nicht
politisch wirken. Die Verfasser des Grundgesetzes hatten Weitsicht –
daran würde ich für eine neue Kraft anknüpfen. Menschenwürde
umsetzen, nicht nur appellieren – das ist entscheidend.
Frage: Wie sah das im Alltag aus? Wie war Ihr
Terminkalender in der DDR?
Schnur: Ich habe 16 bis
18 Stunden gearbeitet. Mir gehörte die DDR – das war mein Lebensgefühl. Ich fuhr zu allen
Bezirksgerichten, von Meiningen bis Halle. Dort half ich
Antragstellern, Inhaftierten. Für die war ich ein Lichtstrahl –
jemand schrieb, ohne mich wäre er nicht mehr am Leben. Man kann mich
Stasischwein nennen – mir ist wichtiger, dass meine Arbeit sich
gelohnt hat. Die Sprache in den
Protokollen war nicht meine – das MfS brauchte ihr Vokabular. Ich
stellte Leute als Staatsfeinde dar, damit sie raus konnten. Je
schlimmer, desto besser.
Frage: Wann sahen Sie
Ihren Führungsoffizier zuletzt?
Schnur: Im Oktober oder
November 1989. Ein Rostocker Offizier lieferte mich ans Messer –
ich verstehe ihn. Es brachte ihn aus dem Konzept, dass ich die Macht
ergreifen wollte. Verwunderlich, dass es so spät passierte. Ende
1989, Anfang 1990 wehrte ich mich noch. Erst als die Akten da waren, zog ich zurück.
Frage: Was sagt Ihre
Familie heute zu all dem?
Schnur: Ich bin jetzt
Einzelkämpfer. Meine Partnerschaft ist daran zerbrochen – ein schwerer
Punkt. Meine erste Frau und Kinder waren genauso überrascht.
Gespräche im Nachhinein? Ja und nein – es ist zu schwierig, auch
durch das Zerrbild der Medien. Ich erkläre es ihnen, bekenne mich
dazu. Meine Kinder spürten doch meine harte Arbeit – ich war immer
unterwegs, um Menschen zu helfen. Öffentlich darüber zu reden zeigt,
dass ich zu meiner Biografie stehe. Für mich selbst halte ich Biografisches
fest – kein Buch, es hat noch keinen Titel. Vielleicht „Ich bin’s
gewesen“, um dem Leugnen etwas entgegenzusetzen. Ich will
Verständnis erlangen und verhindern, dass andere in solche
Situationen kommen. Dich sache ist doch: Wie viele Menschen arbeiten heute ehrenamtlich für
Verfassungsschutz oder BND? Sicherheit braucht das – aber macht das den Verrat kleiner?